In Leipzig wird Erich Zeigner verehrt. Eine Allee ist nach ihm benannt, sein Wohnhaus wird vom gleichnamigen Verein betreut. Und das nicht nur, weil er Leipzigs erster Oberbürgermeister nach dem Zweiten Weltkrieg war. Mit ihm ist auch die kurze Regierungszeit einer SPD/KPD-Koalition in Sachsen 1923 verbunden. Ein linkes Experiment, das mit dem Einmarsch von 60.000 Reichswehrsoldaten beendet wurde. Nur ein Experiment? Oder der Wendepunkt in der kurzen Geschichte der Weimarer Republik?
Ein Thema, das den Historiker Karl Heinrich Pohl stutzen ließ. Eigentlich hatte er sich mit der Sozialdemokratie in Bayern in dieser Zeit beschäftigt. Und dann tauchten immer wieder die Vorgänge in Sachsen am Horizont auf. Die beiden Länder waren wie kommunizierende Röhren.
Denn während in Sachsen die beiden linken Parteien SPD und KPD unter Erich Zeigner ein für Deutschland damals einmaliges Experiment wagten und die erzkonservative Wirtschaftselite des Landes in Panik versetzen, passierte in Bayern geradezu das Gegenteil, war das Land unter Ministerpräsident Eugen von Knilling immer weiter nach rechts abgerutscht, bot Rechtsradikalen, Putschisten und Nationalisten alle erdenklichen Freiräume und drohte gar mit der Abspaltung Bayerns.
Im November 1923 kam es dann zum sogenannten Hitlerputsch, weil die erstarkenden Nationalsozialisten glaubten, Bayern wäre jetzt reif zur Machtübernahme.
Labile Verhältnisse
Und dabei spielten auch die Vorgänge im benachbarten Sachsen eine Rolle. Denn während die Reichsregierung in Berlin sich scheute, gegen Bayern die Reichsexekution zu verhängen, tat sie das im Fall Sachsen sogar ohne jegliche Verfassungsgrundlage.
Weder betrieb die Zeignerregierung eine Abspaltung von Deutschland, noch war sie dabei, eine Revolution nach sowjetischem Vorbild in die Wege zu leiten. Ihr „Sündenfall“ war einzig und allein die Koalition mit der KPD, die zuvor noch dafür gesorgt hatte, dass die SPD-geführte Regierung Buck zurücktreten musste.
In der Hoffnung, bei den nächsten Wahlen die Kräfteverhältnisse völlig umzukrempeln. Aber wieder wählten die Sachsen eine Parteienkonstellation, die eine stabile Regierungsbildung fast unmöglich machte. Auch weil die bürgerlichen Parteien ebenso emsig daran gearbeitet hatten, die seit 1919 regierende SPD aus der Regierung zu hebeln und den Einfluss der Arbeiter auf die Politik in Sachsen wieder zu kürzen. Gern auf das Maß von vor 1914.
Pohl nimmt die wichtigsten Spieler in diesem politischen Gemenge genau unter die Lupe. Und auf einmal wird deutlich, wie gefährdet die Weimarer Republik auch 1923 noch war. Die Menschen wählten zwar immer wieder linke Mehrheiten. Aber die Kluft zum sogenannten Bürgertum ging immer weiter auseinander.
Zur Wirtschaftselite und ihrem Verband VSI erst recht. Sachsen war zwar die große Werkstatt für die deutsche Konsumgüterindustrie. Doch große Teile dieser Industrie waren veraltet und nicht mehr konkurrenzfähig – insbesondere die Textilindustrie, deren Fabrikanten besonders konservativ und rücksichtslos waren.
1923 kam die extreme Exportabhängigkeit der sächsischen Wirtschaft hinzu: Mit der Hyperinflation brach der Export fast völlig zusammen.
Und ein Großteil dessen, was man so leidlich als Bürgertum bezeichnen kann, war auch fünf Jahre nach der Revolution kaisertreu und sehnte sich zurück nach der „guten alten Zeit“. Man fühlt sich nicht ganz zufällig an unsere Gegenwart erinnert, ganz so, als müssten sich uralte Tragödien in immer neuen Farcen wiederholen.
In der Sehnsucht nach „früher“ steckte – wie Pohl es akribisch herausarbeitet – auch das alte Verständnis von Obrigkeit, von Zucht und Ordnung. Und eine geballte Verachtung für die Arbeiter, ihre Organisationen und ihre Wünsche nach Mitsprache und Reformen. Und das gekoppelt mit einer lautstarken Verachtung für die Republik und die Demokratie.
Die Entscheidungen in Berlin
Das zeigte sich dann auch in den massiven Stimmenverlusten für die liberale DDP, die bis dahin als bürgerlicher Koalitionspartner für die SPD bereitgestanden hatte. Stattdessen gab es massive Stimmengewinne für die erzkonservativen Parteien DVP und DNVP, die beide den Nationalismus ins Zentrum stellten.
Mit Gustav Stresemann wurde in dieser Zeit auch noch ein Mann zum Reichskanzler, der seine politische Karriere in Sachsen begonnen hatte und engsten Kontakt hielt mit den Industriellen des Landes.
Es gab also auch direkte Verbindungen nach Berlin, wo ein Mann wie der Reichswehrminister Otto Geßler keine Skrupel kannte, das linksrepublikanische Experiment in Sachsen mit Gewalt zu beenden. Seine Rolle beleuchtet Pohl natürlich genauso wie die von Stresemann und von Friedrich Ebert, dem sozialdemokratischen Reichspräsidenten, der Geßler quasi die Blankovollmacht gab, die Truppen in Sachsen einmarschieren zu lassen.
Welche Wucht an Stimmungsmache dahinterstand, wie gerade der sächsische Industrieverband auch massive Mittel einsetzte, um die Zeigner-Regierung im Misskredit zu bringen und regelrecht Panik vor revolutionären Zuständen zu schüren, schildert Pohl ebenfalls sehr ausführlich.
Genauso, wie er auch die Konflikte innerhalb der SPD und innerhalb der KPD schildert. Politik ist eben niemals so einförmig und eindeutig, wie es heute Berichterstattung oft suggeriert. In Sachsen spielte gerade der starke linke Flügel der SPD, in dem die USPD aufgegangen war, eine wesentliche integrative Rolle für die linken Parteien.
Auch die verschiedenen Regionalverbände spielten dabei eine Rolle. Insbesondere die Verhältnisse in den starken Arbeiterzentren um Chemnitz und Leipzig. In der Regel kannten sich die Abgeordneten von KPD und SPD aus ihren Regionalverbänden, hatten schon ausgetestet, wie man gemeinsam arbeiten konnte.
Was auch dazu führte, dass der sächsische Verband der KPD offener war für eine Zusammenarbeit mit der SPD als die meist deutlich radikaleren Verbände in anderen Ländern. Während sich ein Hamburger Funktionär namens Ernst Thälmann lieb Kind in Moskau machte, indem er den völlig aussichtslosen Hamburger Aufstand initiierte, bedienten die sächsischen Genossen zwar genauso eifrig die revolutionäre Agitation.
Aber trotz der kämpferischen Rhetorik dachten sie nicht mal daran, den bewaffneten Umsturz zu beginnen. Dass die Moskauer Zentrale tatsächlich glaubte, 1923 sei in Deutschland eine revolutionäre Situation herangereift, die jetzt die deutsche Oktoberrevolution machbar sein ließ, hängt auch mit dem Selbstbetrug einer Kaderpartei zusammen, die von ihren Gliederungen (und die KPs im Ausland wurden ja geradezu wie verlängerte Arme Moskaus behandelt) vor allem Befehlserfüllung verlangen und Funktionäre danach auswählte, wie bereitwillig sie die Order aus Moskau befolgten.
Also wurde emsig Kampfbereitschaft nach Moskau gemeldet, obwohl die kleine KPD in Deutschland überhaupt nicht in der Lage war, den großen Aufstand ins Rollen zu bringen, den die Bürgerlichen und Industriellen befürchtete. Oder eben ihrerseits dann wie ein Gespenst an die Wand malten.
Die stillen Feinde der Republik
Gerade weil Pohl sehr systematisch vorgeht und alle wesentlichen Akteure in diesem Jahr 1923 genauer beleuchtet, wird die Gemengelage deutlicher, in der vor allem die sächsische SPD als eigentliche Trägerin der jungen Demokratie im Land agieren musste.
Und zwar von Anfang an – auch mit selbstverständlichen Themen wie dem Kommunalwahlrecht und der Bildungsreform, die eigentlich zur Sicherung der Republik nötig waren. Doch überall traf der Reformwille der SPD-geführten Regierungen auf einen erzkonservativen Beamtenapparat, der sich seit der Kaiserzeit nicht groß geändert hatte und der alle Reformversuche mit zähem Beharren zu verhindern suchte.
Nicht besser sah es in der Justiz aus, in der Erich Zeigner als Richter seine Erfahrungen gesammelt hatte. Da traf er nach seiner Absetzung wieder auf die alten Amtskollegen, die seine Versuche, auch in der Justiz republikanische Normen durchzusetzen, nicht vergessen hatten und den abgesetzten Ministerpräsidenten für längst verjährte Banalitäten ins Gefängnis steckten.
Auch das schildert Pohl kurz, nachdem er akribisch das ganze linksrepublikanische Projekt untersucht hat, das für Deutschland damals einzigartig geblieben ist.
Aber Pohls Aufmerksamwerden auf diese Vorgänge in Sachsen 1923 macht auch deutlich, dass genau hier wahrscheinlich die falschen Weichen gestellt wurden.
Einem Mann wie Geßler (und auch Ebert und Stresemann) erschien es leichter, die Reichswehr im linken Sachsen einmarschieren zu lassen, das sich an alle demokratischen Gepflogenheiten gehalten hatte und ganz und gar nicht an einem gewaltsamen Umsturz arbeitete, wo man also auch kaum mit Gegenwehr rechnen musste.
Während man sich an die rechte Regierung in Bayern nicht herantraute, obwohl die allen Verbänden, die die Republik bekämpften, Unterschlupf und Straffreiheit gewährte.
Die Sehnsucht nach alten Zeiten
Und es waren nicht nur irgendwelche harmlosen Reichswehrverbände, die unter dem für die Reichsexekution zuständigen Generalleutnant Alfred Müller dann in Sachsen agierten. Er aktivierte für diesen Einsatz auch Teile der sogenannten „Schwarzen Reichswehr“, in der sich Freikoprs-Angehörige und Nationalsozialisten tummelten.
Eine Truppe, die die SPD-Regierungen in Sachsen über Jahre versucht hatten, auszuhebeln. Die aber stets Unterstützung nicht nur von Industriellen und Großgrundbesitzern bekam, sondern auch aus dem Reichswehrministerium in Berlin. Was dann einen jener Stränge der deutschen Geschichte zeigt, die direkt zum Ende der Weimarer Republik führten.
Es waren neben den Industriellen und Großgrundbesitzern eben auch die meisten Militärs, die sich zurücksehnten in die Zeiten von kaiserlichem Glanz und Gloria.
Und sie sahen im Krisenjahr 1923, als die Hyperinflation auch eine gewaltige Arbeitslosigkeit zur Folge hatte, die ideale Gelegenheit gekommen, die Reformen der Republik zurückzudrehen und die alten Machtverhältnisse wieder herzustellen.
Und nach den alten Verhältnissen sehnte sich augenscheinlich auch ein Großteil des Bürgertums, das auch den alten Sitten und Werten nachtrauerte.
Der Einmarsch der Reichsarmee und die Absetzung der – demokratisch gewählten – Regierung Zeigner wirken vor diesem Hintergrund wie ein Vorspiel für das Jahr 1933 bzw. für den Preußenschlag von 1932, mit dem ebenfalls eine SPD-geführte Regierung entmachtet wurde.
Pohl spricht des Öfteren von „Sachsenschlag“, womit er die Ereignisse von 1923 mit denen von 1932 verknüpft. Womit etwas deutlicher wird, wie die Weimarer Republik von innen heraus zerstört wurde. Von Männern in Machtpositionen, die die Verfassung genauso verachteten wie die demokratischen Aushandlungsprozesse.
Eine vertane Chance?
Pohl fragt natürlich intensiv nach: War die Niederschlagung des linksrepublikanischen Projekts in Sachsen eine vertane Chance für die Weimarer Demokratie?
Im Nachhinein kann hier nur ein „Ja“ stehen. Denn die folgende Geschichte zeigte ja, wie die Republikfeinde immer offener auftraten und letztlich keine Gelegenheit ungenutzt ließen, die verhasste Republik wieder abzuschaffen.
Pohl kann auf zahlreiche Arbeiten von Historikerkollegen zurückgreifen, die sich mit Aspekten dieser sächsischen Geschichte schon beschäftigt haben. Aber auch Landtagsreden und vor allem die Zeitungspublikationen aus dieser Zeit sind alle Quellenmaterial für das, was die Menschen damals als Stimmung, Argumentation und Propaganda erlebten.
Und da staunt man dann auch nicht mehr, dass Pohl ganz ähnliche Zustände zeigen kann, wie sie heute wieder durch die digitalen Plattformen erzeugt werden. Nicht nur die politischen Akteure lebten in völlig verschiedenen Welten und politischen Blasen, wo sie kaum mit der Lebenswelt der „Gegner“ in Berührung kamen.
Sozialisten und Bürgerliche hatten völlig verschiedene Sozialisationen hinter sich. Ein Mann wie Erich Zeigner, der aus kleinen Verhältnissen stammend zum Richter wurde, wirkte wie ein Eindringling in einer von feudalen Gewohnheiten geprägten Justiz.
Dass die SPD die Bildungsreform als dringlichste Aufgabe sah, diese alten Untertanen-Obrigkeits-Verhältnisse aufzulösen, ist nur zu verständlich. Denn ein Schulsystem aus Kaisers Zeiten, das vor allem darauf angelegt war, die Armen von den Reichen zu trennen und die Arbeiterkinder mit religiöser Unterweisung zu neuen Untertanen zu erziehen, war natürlich stabilisierend für die alten Verhältnisse.
Und dazu kam natürlich auch, dass jede Klasse ihre eigene Zeitung hatte. Die konservativen Zeitungen des Großbürgertums berichteten anders über die Ereignisse als die Zeitungen der Linken. Nur im Ton waren sie mindestens ebenso brüsk, wenn nicht gar noch rücksichtsloser. Der politische Wahlkampf von 1923 erinnert in Vielem an das, was sich heutzutage auf den Internet-Plattformen austobt.
Es ist ein zum Teil verstörender Ausflug in die sächsische Geschichte, der eben auch Protagonisten ins Bild rückt, die mit aller Verbissenheit auch im scheinbar „roten Sachsen“ daran arbeiteten, die Errungenschaften der Revolution wieder abzuschaffen und die alten Machtverhältnisse wieder herzustellen.
Ein Menetekel für die Weimarer Republik war das auf jeden Fall.
Ein paar notwendige Korrekturen für Wikipedia
Dass das freilich auch in der deutschen Geschichtsschreibung bis heute oft falsch dargestellt wird, macht an dieser Stelle mal wieder der Wikipedia-Artikel zu Gustav Stresemann deutlich, der tatsächlich behauptet: „Neben der Gefahr von rechts gab es eine durchaus reale Bedrohung von links. In Sachsen traten die kommunistischen paramilitärischen proletarischen Hundertschaften immer offener auf.“
Eine Ansicht, der Pohl in diesem Buch fakten- und kenntnisreich widerspricht. Genauso wie die nächsten Sätze so nicht stimmen: „Die proletarischen Hundertschaften wurden verboten und die sächsische Polizei der Reichswehr unterstellt. Damit waren der KPD ihre potenziell wichtigsten Machtmittel entzogen.“
Denn die „Proletarischen Hundertschaften“ waren in Sachsen ganz und gar nicht von der KPD dominiert, und Zugriff auf die Polizei hatte die KPD auch unter Zeigner nicht.
Zeit, auch diesen Wikipedia-Artikel endlich mal aufzuräumen.
Dass die Dinge meist vielschichtiger und widersprüchlicher sind, als sie in den allgemeinen Schulbüchern dargestellt werden, macht Pohl mit seiner Analyse sehr schön deutlich. Und dass auch politische Akteure eine Aktie an den kommenden Entwicklungen hatten, die sich gern als harmlos und gar nicht radikal darstellen, obwohl sie es auf ihre Weise natürlich waren.
Historiker schauen bisher nur zu gern immer auf die äußersten Linken und Rechten und machen sie für den Untergang der Weimarer Republik allein verantwortlich. Aber Pohl zeigt sehr schön, dass die eigentlichen Demonteure der Republik aus der bürgerlichen/konservativen Mitte kamen, denen jedes Mittel recht war, die verachteten „Sozis“ aus der Regierung zu drängen und die Zeit zurückzudrehen.
Nächstes Jahr ist das alles 100 Jahre her. Eine gute Gelegenheit, daran zu erinnern. Und auch was draus zu lernen, wenn wir unsere Demokratie bewahren wollen.
Karl Heinrich Pohl Sachsen 1923 Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2022, 45 Euro.
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