Geht das überhaupt? Heute noch DDR-Krimis zu schreiben? Eintauchen in die Atmosphäre eines Landes, das es nicht mehr gibt? Es geht, wie der Dresdner Krimi-Autor Andreas M. Sturm 2021 schon zeigte, als er seinen jungen Kriminalpolizisten Uwe Friedrich erstmals ermitteln ließ und dabei in einen Dschungel der Korruption und des Machtmissbrauchs geraten ließ. Wie geht ein Land mit dem Verbrechen um, in dem es offiziell keine Verbrecher mehr gibt?
In „Verlorenes Land“ war diese Frage allgegenwärtig. Denn welches Vertrauen bleibt da noch, wenn die propagierte Wirklichkeit nicht mit der erlebten Realität der Menschen übereinstimmt? Wenn sich ein allgegenwärtiger Geheimdienst überall einmischt und auch die Kriminalpolizei an der Arbeit hindert, wenn auf einmal ehrenwerte Genossen oder gar die heimlichen Machenschaften des MfS selbst in den Blick der Ermittler geraten?
Was macht das mit den Polizisten, die tatsächlich nichts anderes wollen, als Verbrechern ihr Handwerk zu legen?
Alles Fragen, die auch in Sturms zweitem Krimi um Uwe Friedrich eine Rolle spielen. Erweitert um eine weitere Frage, die in der DDR mit dem Besen unter den Teppich gekehrt wurde. Übrigens eine ganz aktuelle Frage, denn sie erzählt auch davon, warum das heutige Sachsen so ist, wie es ist.
Denn von Anfang an erklärte sich ja die DDR zu einem antifaschistischen Staat, der seinen Bürgern einredete, alle faschistischen Verbrecher seien bestraft worden oder in den Westen geflüchtet. Der Westen allein habe ein Problem mit Alt-Nazis. In der DDR gäbe es schlichtweg keine mehr.
Wenn es nur Gerüchte gibt
Der Fall, den Andreas M. Sturm hier konstruiert hat, basiert auf einem Gerücht, das vor 40 Jahren durch Dresden ging. In Akten ist es nicht belegbar, stellt Sturm im Nachwort fest. Was aber nicht bedeutet, dass es nicht genau so geschehen ist.
Doch da die Zeitungen über solche Verbrechen wie hier im Großen Garten nicht berichten durften, bleibt nicht mehr als die Erinnerung an eine Angst, die damals durch die Stadt ging. Ob dann tatsächlich die Kripo ermittelte oder die allmächtige Stasi den Fall an sich zog, auch das kann keiner sagen.
So wird es hunderte Verbrechen in der DDR gegeben haben, die unter der Decke gehalten wurden, um den schönen Schein zu wahren, die DDR sei ein Land ohne Verbrechen.
Und der Fall ist brutal genug. Es geht um Frauen, die im Großen Garten vergewaltigt und aufgehängt gefunden wurden. War es ein Serientäter? Wer lebte da seine finsteren Fantasien aus?
Andreas M. Sturm verbindet diesen Fall mit dem noch gar nicht so lange zurückliegenden Ende des Zweiten Weltkriegs. 1982 war das noch keine 40 Jahre her. Wer in der NS-Zeit seine Mordlust als junger SS-Mann oder Soldat ausgelebt hat und danach untertauchen konnte, der war jetzt um die 60 Jahre alt.
Und so manchen Mitläufer brauchte man ja auch im Osten weiter. Mancher machte auch in der SED Karriere. Aber was passiert mit Menschen, die sich mit der eigenen grausamen Vergangenheit nicht wirklich auseinandersetzen? Die tauchen doch nicht nur in Nischen ab.
Auf falschen Fährten
Wohin die Ermittlungen führen würden, ahnen Uwe Friedrich und seine Kollegen aus der Kripo Dresden nicht. Lange sind sie sogar auf völlig falschen Fährten unterwegs, müssen mal wieder mit dem MfS zusammenarbeiten und wären wohl in einer Sackgasse gelandet, hätte dieser Uwe Friedrich nicht ein Gespür dafür, dass irgendetwas nicht stimmt, dass man falschen Spuren aufgesessen ist und der Täter auf völlig andere Weise kalkuliert vorgeht.
Vielleicht sogar genau das beabsichtigt: Panik zu verbreiten in Dresden.
Dabei findet Uwe Friedrich wieder Hilfe in der jungen Ärztin Sabine Fuchs, die er im ersten Fall kennengelernt hatte. Da haben sich zwei gefunden. Und wer Beispiele dafür sucht, dass emanzipierte Partnerschaften in der DDR sehr wohl möglich und machbar waren, der findet hier eine – auch mit Humor beschrieben.
Man merkt schon, dass Andreas M. Sturm sich mit dem 1989/1990 so oft geäußerten Verdikt, das den Ostdeutschen mit dem Adorno-Spruch „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ nicht abfinden will. Denn das spricht den Ostdeutschen jedes Rückgrat, jede Souveränität ab. Bis heute übrigens.
Dabei gab es die Uwes genauso wie die Sabines. Ohne sie hätte es die Friedliche Revolution nicht gegeben. Und Uwe Friedrich ist seit dem ersten Fall schon viele Illusionen losgeworden über sein Land und seinen gewählten Beruf. Im ersten Fall war er regelrecht behindert worden daran, seinen Fall zu lösen.
Und auch jetzt bekommt er es wieder mit einem Stasi-Offizier zu tun, der sich unbedingt an ihm rächen will und seinen Bruder verfolgt, der – halb illegal – mit Schallplatten handelt.
Verzwickte Konstellationen
Auch das ist so ein Aspekt der Mangelwirtschaft in der DDR: Wie all das, was selten und teuer war, zur Zweitwährung wurde und jenseits der kärglich bestückten Läden einen Schattenmarkt entstehen ließ.
Dass der MfS-Mann am Ende Uwe sogar hilft, den Mörder aus dem Großen Garten auf frischer Tat zu ertappen, macht nicht nur Uwes zwiespältige Lage deutlich. Denn für eigensinnige Detektive, die als Einzelgänger ermitteln, war in der DDR kein Platz. Auch die Kripo unterstand der misstrauischen Überwachung des MfS.
Und wenn sie unbehelligt arbeiten wollte, musste sie kooperieren, so, wie es Sturm in dieser Geschichte auch schildert. Selbst Uwes Vorgesetzter ist sich dessen bewusst, dass es am besten ist, mit seinen Ermittlern zum Rauchen auf den Hof zu gehen, wenn man Dinge besprechen will, die die Genossen von Horch und Guck nicht erfahren sollen.
Und was Uwe auf seiner Dienststelle nicht erfährt, erfährt er von Sabine, die in ihrer Kirchgemeinde längst einer jener Gruppen angehört, die sich von den offiziellen Legenden nicht mehr beeindrucken lassen. Es ist also eigentlich eine ziemlich verzwickte Kiste, in der der anständige Kriminalpolizist Uwe Friedrich da steckt.
Vielleicht sogar glücklicherweise, weil er in Sabine und in seinem Vorgesetzten Menschen um sich hat, denen er sogar vertrauen kann.
Ein Land ohne Vertrauen
Vertrauen ist ein wertvolles Gut. Autoritäre Regime wissen das – und tun alles, das Land mit Misstrauen und Verdacht aufzuladen. Und jedes Vertrauen zu zerstören. Nachhaltig, wie wir wissen. Und vielleicht hat das genau dazu geführt, dass die Gerüchte von 1982 stimmen und der Fall damals trotzdem nicht gelöst wurde. Denn Sturm betont natürlich, dass alle seine Figuren ganz seiner Erfindung entspringen.
Auch wenn sie realistisch gestaltet sind. Von den selbstbewussten Frauen, die sich auch von Stasi-Obersten nicht einschüchtern ließen, über die kleinen Schwarzmarkthändler bis zu den Skinheads, die in diesem Dresden der 1980er Jahre genauso unbehelligt schon Angst verbreiten können, wie es heute ihre jüngeren Nachfolger tun. Oft genauso unbehelligt.
Dabei wissen die Leser schon früh, wie der Täter tickt, schlüpfen direkt hinein in sein altes, arrogantes Denken und seine Überlegungen, wie er das nächste Opfer zur Strecke bringen kann. Eiskalt, berechnend. Eben kein triebgesteuerter Serientäter, sondern ein Mensch, der es für sein Recht hält, andere Menschen zu töten und sich an ihren Todesqualen zu weiden.
Eine Haltung, die auch die größte Grausamkeit legitimiert. Was es eben auch vielen hochrangigen Deutschen so leicht machte, sich einst den Nationalsozialisten anzudienen. Und danach wieder zu „braven Bürgern“ zu werden, die nur Befehle erfüllten und sich immer im gesetzlichen Rahmen bewegten.
Kein Wunder, dass die Ermittler anfangs überhaupt nicht mit so einem Täter rechnen. Und so auch das Motiv erst spät erkennen, fast zu spät.
Es ist ein ungemütlicher Krimi, der die Arbeit der Kriminalpolizei in der DDR nicht verklärt. Der auch von den Grenzen ihrer Möglichkeiten erzählt und der Kärglichkeit eines Landes, dem schon die Fachkräfte davonliefen und in dem man lange nach einer funktionierenden Telefonzelle suchen musste. So muss auch Friedrich immer wieder improvisieren und legt die meisten Wege in der Stadt auf seinem Fahrrad zurück.
Das Unabgegoltene und Unaufgearbeitete
Vom Bier bis zum Eis erweckt Sturm auch die Esskultur von damals wieder zum Leben. Die Stasi lässt sich mit Geleebananen bestechen. Und Uwe merkt, dass es hilft, mit Kaufstellenleiterinnnen auf gutem Fuß zu stehen, wenn man ein besonders schönes Plüschtier haben möchte, das es sonst nur unter der Ladentheke gibt.
Es ist tatsächlich die alt und müde gewordene DDR der 1980er Jahre, deren Bewohner sich aber nicht wirklich abgefunden haben, sondern gelernt haben, dass man einfallsreich sein muss und Beziehungen Gold wert sind.
Aber es liest sich bei Sturm eben nicht wie die Sehnsucht nach einer guten alten Zeit. Doch dass er sich in diese Zeit begibt, erzählt eben auch davon, dass zumindest er das Gefühl hat, dass da noch viel Unabgegoltenes und Unaufgearbeitetes liegt.
Etwas, das bis in die Gegenwart nachwirkt und einen nicht zu unterschätzenden Teil an der heutigen sächsischen Misere hat. Geschichte endet eben nicht einfach, wenn im Geschichtsbuch ein neues Kapitel aufgeschlagen wird. In den Köpfen und Gefühlen der darin verwickelten Menschen lebt sie weiter. Manchmal mit verhängnisvollen Folgen.
Ganz am Ende erfährt der Leser dann auch noch den grausamen Beginn der Ereignisse, die das erste Opfer mit dem Täter verbinden. Da ist der Mörder in einer spektakulären Aktion dingfest gemacht. Uwe Friedrich hat ordentlich was auf den Kopf bekommen.
Nur einen öffentlichen Prozess wird es nicht geben, denn das Unter-die-Decke-kehren geht weiter. Die Mächtigen in Ostberlin wollen das alte Lügenmärchen nicht gefährden und die Einbildung aufrechterhalten, die DDR wäre ein Land, in dem man das Verbrechen tatsächlich beseitigt habe.
Da steckt also die schöne und listige Frage in der Geschichte: Welche Zukunft hat eigentlich ein Land, das sich über sich selbst derart gründlich und anhaltend belügt?
Die Antwort gab es ja 1989.
Andreas M. Sturm Der Henker mit dem Totenkopf Edition Krimi, Hamburg 2022, 14 Euro.
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