Bei vielen Leipziger Leserinnen und Lesern wird zu diesem Weihnachtsfest genau dieses Buch unterm Baum liegen. Ein Buch, das nicht nur den kleinem Leipziger Lokalpatriotismus anspricht, weil der zentrale Teil der Geschichte in Leipzig, genauer: im Grafischen Viertel spielt. Es rührt auch ans Herz der alten Buchstadt, die in der Nacht vom 3. zum 4. Dezember 1943 in Flammen aufging. Es ist wohl auch genau die Nacht, die im Romantitel gemeint ist.

Eigentlich ist der Münchner Bestseller-Autor Kai Meyer seinen Lesern eher als Verfasser phantastischer Romane bekannt. Ein vom Schreiben besessener Autor ist er sowieso. Fast jedes seiner bislang veröffentlichen 70 Bücher wurde zum Bestseller. Und schreiben kann er.

Wie geschmiert, könnte man formulieren, wäre das nicht eine Beleidigung für einen Autor, der eben nicht aus dem Ersatzbauteilkasten schreibt, die Seite nicht mit lauter inneren Monologen füllt und auch Standardszenen nicht nach Bauschema F erzählt.

Und er macht sich kundig, wenn er eine Romanhandlung so konkret an einen Ort verlegt, auch wenn man eine Verlegerfamilie Pallandt im Grafischen Viertel vergeblich suchen wird. Genauso wenig wie ihren Villensitz in einem Park. Oder die Kapelle „Montecristo“, in der der Autor den Buchbinder Jakob Steinfeld seine Werkstatt betreiben lässt.

Aber die Scherlstraße wird man finden, wo Meyer sowohl Pallandts Verlagshaus als auch das kleine „Montecristo“ platziert und wo er später Jakobs Sohn Robert mit seiner Freundin Marie stehen lässt, 1971, auch wenn von der Kapelle nur noch Mauerreste stehen. Da sind die beiden längst auf der Suche nach den Kindheitsspuren von Robert, der seinen Vater und auch seine Mutter nie kennengelernt hat.

Das finstere Jahr 1933

Meyer lässt die Scherlstraße 1933 noch Blumengasse heißen. Da hat ihm dann wohl eine aktuellere Straßenkarte gefehlt, denn so hieß die Straße nur bis 1928, fünf Jahre vor den frühen Kapiteln in diesem Roman, in denen Jakob Steinfeld aus dem Gefängnis entlassen wird.

Hineinentlassen mitten in die Zeit des Triumphs der Nationalsozialisten, die das Land übernommen haben und es jetzt brutal verändern. Und das bringt alle, die sich diesem brutalen „Zeitgeist“ nicht beugen wollen, in Nöte. Denn jetzt liegt das Recht auf der Straße und Schlägertypen wie der Hilfspolizist, den Jakob verprügelt hatte, haben nun Oberwasser.

Doch wie kam es, dass Robert nicht bei seinem Vater aufwuchs? Dass er ausgerechnet in der Nacht vom 3. zum 4. Dezember allein in einem Raum voller Bücher eingesperrt ist und von einem Mann mit Gasmaske erst daraus befreit werden muss, um anschließend aus einem verschlossenen Raum ein besonderes Buch zu holen?

Auftakt für eine Odyssee, in der der hagere Junge den Mann, der sich Mercurio nennt, durch Deutschland begleitet, von einer bombardierten Stadt zur nächsten, immerzu auf der Jagd nach besonderen Büchern, die er aus den zerstörten Bibliotheken holen soll.

Natürlich ist das Buch auch eine einzige Hommage an die Welt der Bücher, die Faszination der Bücher, auch wenn er eher von den dunklen Seiten der Büchersammler und Bücherhändler und Verleger erzählt. Denn Bücher sind nicht von sich aus gut.

Auch der Nationalsozialismus baute auf Büchern auf, esoterischen und völkischen Schriften, die großenteils in Leipziger Verlagen und Buchdruckereien hergestellt wurden. Nicht grundlos nahmen die alliierten Bomberverbände in Leipzig gezielt das Grafische Viertel ins Visier und zerstörten mit der hier noch von altem Ruhm zehrenden Buchstadt eben auch die riesigen Buchbestände völkischer und rassistischer Verlage.

Wer zieht die Fäden des eigenen Lebens?

Mit Jakob Steinfelds Wegen durch dieses Viertel auf der Suche nach Juli, der schönen Tochter Pallandts, wird dem Leser ein wenig die neblige, lärmende und rauchige Welt dieses grafischen Quartiers erlebbar, mit seinen riesigen Druckereien und verschachtelten Straßen und Hinterhöfen.

Juli ist anders als die anderen Kinder Pallandts. Doch die Begegnung mit Jakob ist kurz. Und erst Robert wird es sein, der viele Jahrzehnte später herausbekommen soll, was mit Juli tatsächlich passiert ist. Im Grunde ist seine Reise mit Marie in die eigene Vergangenheit auch eine Reise gegen die Zeit.

Denn die Personen, die 1933 dabei waren, sind im Jahr 1971 schon hochbetagt. Der alte Pallandt selbst ist gerade gestorben. Doch als Marie Robert mitnimmt in Pallandts Bibliothek, ahnt er noch nicht, was der Verleger und er eigentlich miteinander zu tun haben.

Das erfährt er erst, als er mit Marie ins Leipzig von 1971 aufbricht (und dort eine sehr unerfreuliche Begegnung mit der Stasi hat) und den Spuren nach Wien und Ostende folgt. Spuren, von denen er nicht weiß, ob sie die gealterten Protagonisten seiner Lebensgeschichte gelegt haben, die augenscheinlich bestens informiert sind über das, was er gerade treibt.

So, wie die Pallandts immer genau wussten, was Jakob tat. Aber in der Welt der Büchersammler kennt augenscheinlich jeder jeden. Und jeder weiß wohl auch, welche seltenen Titel gerade besonders begehrt sind und wer sie gerade besitzen könnte.

Ein solches Buch spielt in dieser Geschichte eine zentrale, sehr esoterische Rolle. Wenn man nicht gar eine teuflische Rolle draus machen will, denn auch diese Bücherwelt gibt es ja. Und Verlage wie der Esoterik-Verlag „Heimkehr“, den Pallandts Frau Aurelia betreibt, saßen ja ebenfalls zu Hunderten in Leipzig und beschickten die Welt mit Mystizismen, Satanismus, Büchern zu Seelenwanderung, Wiedergeburt und Hohlwelten. Zeug, wie es ein Heinrich Himmler begeistert verschlang.

Sie wussten, was sie taten

Das alles taucht ja nicht grundlos in Meyers Geschichte auf: Der Faschismus gründet auf mehr als Rassenlehre. Er ist vollgestopft mit Esoterik und er profitiert von jenen „Rändern des Wissens“, an denen Heilslehren und Inkarnationsvorstellungen ihre immer neue Kundschaft finden.

Und wo auch esoterische Kaffeekränzchen zu Hause sind, die Personen wie der Kinderärztin Hertha von Waldeck Anschluss an die nur zu geistergläubige Highsociety verschaffen. Und dann nicht zufällig in eine Karriere als Herrin über ein Lebensborn-Heim im Harz münden. Auch das besuchen Robert und Marie.

Geht es also um Schuld in diesem Buch?

Nur bedingt. Auch wenn Robert immer wieder in Situationen gerät, die er nicht aushält und in denen ihn die Selbstgefälligkeit der Menschen frustriert, die scheinbar alles über ihn und seine Vergangenheit wissen, aber nicht die Spur Reue zeigen über das, was ihm und seiner Mutter geschehen ist.

Als wäre das Leben nur ein Spielfeld, auf dem man seine Macht und seine Ansprüche durchsetzt. So, wie es Aurelia Pallandt am Ende Robert ins Gesicht sagt, als er sie im belgischen Ostende aufgetrieben hat, wo sie nur auf ihn gewartet zu haben scheint:

„Die meisten wussten genau, was sie taten. Später ist oft von blindem Gehorsam gesprochen worden. Von Einschränkungen des freien Willens. Alles Unsinn. Wenn jemand den Willen zu uneingeschränkter Stärke hat, dann macht das diesen Willen nicht unfrei. Ganz im Gegenteil. Es schafft Optionen. (…) Moral ist ein schlechter Wegweiser. Jedes Kind weiß das, bevor ihm der Glaube an Gut und Böse aufgezwungen wird.“

Das ist dann das faschistische Denken direkt auf den Punkt gebracht. Und damit auch ein Stück weit die Faszination erklärt, die Menschen, die genau so denken und handeln, auf andere ausüben, die sehr wohl wissen, wie schwer es sich mit moralischen Vorstellungen leben kann in einer komplizierten Welt.

Wer aber alle Skrupel über Bord wirft, der wirkt dann wie einer, der weiß, wo es langgeht. Als hätte er eine Sendung. Das ist das religiöse Moment im Faschismus. Aber nicht nur dort. Denn so hat Aurelia Pallandt ja auch mit ihren Kindern experimentiert. Und letztlich auch mit ihrem Enkel, der jetzt erst wirklich versteht, wie sehr er als Kind tatsächlich missbraucht wurde. Und warum ihm diese Erinnerung so lange verschlossen war.

Teuflisches Erbe

Robert steht also ganz direkt vor der Frage, wie er mit diesem Wissen umgeht, ob er seinerseits einen Teufelspakt eingeht – aber anders als der Mann namens Mercurio, der für ihn einst so etwas wie eine väterliche Bezugsperson war: Nimmt er sein Erbe an? Oder macht er etwas, was Erben in Deutschland immer wieder so schwerfällt, weil Reichtum in diesem Land nun einmal auch Macht bedeutet: Schlägt er das Erbe aus?

Und bekennt sich zu einem selbst gestalteten Leben, in dem er sich auf sein eigenes Wissen und Können verlassen kann? Und das Wissen von Marie, der er im späten Jahr 1990 dann endlich auch das Ja-Wort gibt.

Selbst das ist eine Szene, bei der man spürt, dass Kai Meyer über die Beziehungskisten, die Menschen miteinander eingehen, eine ganze Menge mehr nachgedacht hat als die meisten Autoren, die ihr Publikum mit „Liebesromanen“ zu ködern versuchen.

Denn was das eigentlich ist, was Menschen wirklich dazu bringt, sich aufeinander einzulassen, das ist mit romantisch angemalten Szenen schlicht nicht zu erfassen. Meistens findet es ganz woanders statt – auf einem aus Grabsteinen gebauten Rodelberg zum Beispiel auf dem ehemaligen Neuen Johannisfriedhof in Leipzig. Oder auf den Gängen eines mit Abhörgeräten gespickten Hotels.

Dann, wenn der immer wieder an sich zweifelnde Robert merkt, dass er tatsächlich aussprechen kann, was ihn innerlich umtreibt. Und die Angst und die Bedenken mal Ruhe geben, dass Marie das Ganze lächerlich und unangebracht finden könnte.

So gesehen ist das natürlich trotzdem eine Liebesgeschichte. Die dadurch einen ganz tiefen Schatten bekommt, weil dahinter die große Geschichte missbrauchten Vertrauens steckt. Eines Urvertrauens, das eigentlich nicht verraten werden darf, wenn jemand auch nur einigermaßen zuversichtlich in sein eigenes Leben eintreten soll.

Womit es auch ein Buch für all jene ist, die diesen Urzweifel kennen, weil ihnen dieses Selbstvertrauen nicht mitgegeben wurde. Und sie ein Leben lang nicht nur an Beziehungen (ver-)zweifeln, sondern auch an ihrem eigenen Können. Und vor allem daran, dass sie die Welt tatsächlich tatsächlich richtig sehen.

Der Humusboden für Esoterik und Faschismus

Womit eben auch diese Ebene sichtbar wird, auf der Esoterik, Faschismus und Verschwörungstheorien allesamt bestens funktionieren: Die systematische Bestärkung der Unsicherheit und des Zweifels in den Köpfen all derer, die ihrer eigenen Wahrnehmung nicht vertrauen und jede noch so falsche Erklärung für bare Münze nehmen, wenn sie ihnen nur das Gefühl gibt, endlich begriffen zu haben, „was wirklich passiert“.

Dass sie sich dann in einer Welt wie in einem schlecht geschriebenen Schundroman vorkommen, ist die Folge. Womit sie verführbar werden. Das Bild von den Schundromanen kommt nicht ganz grundlos vor im Buch, denn was die Buchbinder im dunklen Jahr 1933 alles in eindrucksvolle Einbände binden und ihren wohlbetuchen Kunden und Kundinnen bringen, ist oft nichts anderes.

Was Jakobs Freund Grigori zu der recht frechen Aussage bringt: „Das Leben ist ein Schundroman. Deshalb steckt im Schund die einzige Wahrheit. Das will das verdammte Bildungsbürgertum mit seinen Dichterlesungen und Kammerkonzerten nur nicht einsehen. Stattdessen nageln sie sich Seiten von Goethe und Mann vor die Stirn und betrachten die Welt durch selbstverliebte Schachtelsätze, ohne zu merken, dass sie sich mit all dem Kunstanspruch die eigenen Augen zugekleistert haben.“

Was übrigens in einer Kneipe geäußert wird, bevor Grigori von SA-Männern verprügelt wird und es auch Jakob an den Kragen zu gehen droht. Denn was man mit „zugekleisterten Augen“ nicht sieht, steht auch nicht in Schundromanen. Manchmal sitzt es am nächsten Kneipentisch und wartet nur auf die Gelegenheit, andere Menschen mit Stiefeln zu treten.

Auch darum geht es in diesem Roman, der auch die alte, dumme und falsche Phrase vom „Land der Dichter und Denker“ konterkariert. Eine Floskel, hinter der sich viel zu oft nur Opportunismus versteckt. Schön gebundene Bände in einer großen, teuren Bibliothek, deren Inhalt der Besitzer gar nicht gelesen hat.

Und ein Buch bleibt am Ende ganz verschlosen, weil auch Robert es nicht über sich bringt, das zu lesen, was seine Mutter Juli einst geschrieben hat. Pietät nennt er das. Auch wenn seine ganze Reise eigentlich genau das zum Inhalt hatte: herauszufinden, warum ihm als Kind genau all das geschehen ist.

Aber eigentlich weiß er es ja am Ende. Und ist damit an dem Punkt, an dem man sich tatsächlich entscheiden muss, ob man in der Vergangenheit gefangen bleiben möchte oder jetzt konsequent sein eigenes Leben lebt. Mit allen Implikationen. Und dem Wissen, dass es ganz bestimmt nicht anderen Leuten gehört.

Kai Meyer Die Bücher, der Junge und die Nacht Knaur Verlag, München 2022, 22 Euro.

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