Der Titel klingt zwar hart, ganz so, als hätte Thomas Piketty kurz mal Leipzigs fleißigsten Karikaturisten in Connewitz besucht. Aber wenn es ein Jahr gab, das so unverschämt gezeigt hat, wohin Egoismus, Gier und die Selbstgefälligkeit von Leuten führen, denen die Folgen ihres „Wohlstands“ völlig egal sind, dann war es das Jahr 2022. „Change my Mind“ bietet also Schwarwel im Karikaturenband des Jahres an.

Es ist sogar schon der dritte in diesem Jahr. Im Frühjahr gab es ja schon zwei Doppelbände – „Mein Leben mit Corona“ und „Mein Leben ohne Corona“. Aber wie das so ist in einer Welt, in der sich die meisten Menschen gar nicht, schlecht oder aus falschen Quellen informierten: Was 2022 passierte, schließt sich nahtlos an all das an, was 2020 und 2021 passiert ist.

Bis hin zu den Leuten, die einfach ihre Schilder bei den ganzen Protestveranstaltungen ausgetauscht haben und sich nach den Corona-Allgemeinverfügungen einfach neue Feindbilder gesucht haben. Hauptsache, es geht „gegen die da oben“, die „Mainstream-Medien“ und so weiter. Da demonstriert der Wutbürger ganz problemlos mit echten Nazis. Und tut so, als sei das nicht so.

Demokratie als Billig-Discounter

Dass dieser immer wilder um sich schlagende Populismus sehr wohl etwas mit den Grundstrukturen unserer Gesellschaft zu tun hat, die Demokratie nur zu gern wie einen Discounter betreibt, in dem der zahlende Bürger alle seine Wohlstandsprodukte immerfort zum Rabattpreis bekommt, macht Schwarwel mit spitzem Stift sichtbar. Ganze Parteien haben ihren Ton genau auf diese Versorgungsmentalität abgestimmt und den braven Bürgern eingeredet, „die Märkte“ würden schon für alles eine Lösung finden und der Einzelne brauche sich um gar nichts wirklich kümmern.

Damit haben sie immer wieder Wahlkämpfe gewonnen – und machen auch in Krisenzeiten munter weiter, während jene Parteien, die gerade hektisch nach Lösungen suchen für Probleme, die andere erst geschaffen haben, die geballte Wut des aus seiner Wohlstandsblase gestoßenen Bürgers abbekommen.

Schlimm genug, dass ein kleiner Egomane im Kreml im Februar auch noch einen verheerenden Krieg gegen das Nachbarland Ukraine ausgelöst und seitdem systematisch auch seine Energieerpressungsversuche gegen die europäischen Länder forciert hat. All das kann man in Schwarwels Buch, das eigentlich so etwas ist wie ein Tagebuch, nachblättern.

Und das Spannende daran ist ja, dass seine Karikaturen nicht im Nachhinein entstanden oder gar interpretiert werden. Er veröffentlicht sie genau so, wie sie ihm im Tagesgeschehen passiert sind. Meist aufgehängt an der frustrierendsten Nachricht des jeweiligen Tages, nicht ahnend, was dann in den Folgetagen noch daraus werden würde.

Hauptsache dagegen

Und so nimmt dieser Band seine Leser auch mit in die Zeit vor dem 24. Februar 2022, die heute schon fast wieder vergessen ist, obwohl die Tage damals von hektischen Gesprächen und Verhandlungsbemühungen westlicher Politiker mit Putin geprägt waren, den drohenden Krieg zu verhindern. Nichts zeigt deutlicher, wie dumm die Forderungen diverser „Friedensaktivisten“ heute sind, die immerfort Verhandlungen fordern, mal zu Waffenstillstandsvereinbarungen, mal zur Beendigung des Krieges. Und das mit einem Politiker, der sich jeder ernsthaften Verhandlung bis heute verweigert.

Da kann man schon verrückt werden als Karikaturist und sich die Haare raufen über den Unverstand und die Manipulierbarkeit der Menschen, die selbst im Dürresommer von 2022, als in der Sächsischen Schweiz und im Harz große Flächen Nationalpark abbrannten, tönten, es gäbe keinen Klimawandel und (so) heiße Sommer habe es schon immer gegeben.

Als würden diese Leute aus ihren Echokammern nie herauskommen und 38 Grad für eine normale Sommertemperatur in Deutschland halten.

Dass die Parteien der Reichen freilich die ganze Zeit daran arbeiteten, jede Veränderung hin zur Energiewende und zu Klima- und Artenschutz zu verhindern – auch das gehört zu 2022. Die „Erfolgsbilanz“ von FDP-Chef Christian Lindner findet man natürlich genauso wie die Titelkarikatur der „Leipziger Zeitung“ vom September: „Winter 2022: Deutschland nach 16 Jahren verfehlter Energiepolitik“.

Der dann flugs ein wütendes AfD-Männchen folgt, das sich über zu 90 Prozent gefüllte Gasspeicher ärgert. Denn natürlich kann eine Regierung es ihren wütenden Bürgern niemals recht machen, egal, was sie tut, um die schlimmsten Folgen einer hybriden Kriegsführung abzumildern.

Winnetou, Layla und „neue RAF“

Eigentlich, so finden es ja die Youtube-Helden des erzürnten Blaubürgertums, wäre es ja Zeit für einen Systemwechsel. Wie in Italien und – beinah – auch in Frankreich. Die populistische Rechtsaußen profitieren ja von den Krisenerscheinungen. Und für gewöhnlich dauert es immer Jahre, bis sich dann auch für die Leichtgläubigsten herausstellt, dass dahinter in der Regel nichts als große Klappe steckt und das in Regierungsämter gewählte Personal ziemlich inkompetent ist. Erlebt hat man das parallel in England, wo einem völlig gescheiterten Premierminister eine noch viel inkompetentere Premierministerin folgte, die schon nach sechs Wochen wieder das Amt abgeben musste.

Ist das wirklich das, was die Wohlstandsbürger sich wünschen? Die Diskussionen, die da 2022 durch deutsche Leitmedien schwappten, haben jedenfalls Schwarwel zu Dutzenden, sehr bissigen Karikaturen veranlasst, sei es die völlig verpeilte Winnetou-Debatte, die ebenso peinliche Layla-Diskussion oder der brachiale Ton im Umgang mit den Protesten der „Letzten Generation“. Und es verblüfft nicht, dass einige Politiker/-innen da immer wieder mit großen Worten dabei waren und die Emotionen schürten.

Dass sich da eine Sahra Wagenknecht mit Gerhard Schröder und Michael Kretschmer auf einmal auf derselben Flagge wiederfindet wie Wladimir Putin? Das ist keine Überraschung, sondern Folge von Anbiederung an soziale Medien und ein leichtgläubiges Völkchen, das nur nach Gründen sucht, wütend und zornig zu sein. Und im Protestschild-Laden nach einem Schild fragt „Einmal gegen alles.“

Wir verzichten nicht!

Die vielen selbsternannten „Experten“ im Internet bekommen genauso ihr Fett weg wie die Leute, die mit blumigen Worten gegen Spaltung reden, während die Kluft zwischen den unersättlich Reichen und den mies bezahlten Armen immer weiter auseinandergeht. Natürlich steckt da der Kapitalismus drin. Oder besser: seine mieseste Variante, die von Sozialstaat redet, wo sie die Bedürftigen ganz unten in der Pyramide geradezu zu Schmarotzern erklärt.

Genau hier ist der Knackpunkt, etwa wenn die elementare Frage steht, ob Deutschland es schaffen kann, binnen Monaten unabhängig von russischen Energielieferungen zu werden. „Jaaa!“, schallt es dann aus allen Kanälen. Aber wenn dann ein paar Einschränkungen nötig werden, wird daraus ein gewaltiges: „Nein!!!“

Und weil das nicht erklärt werden kann, zeigen die Politiker der Reichen dann vorwurfsvoll auf die Armen, die sich dann nicht mal mehr Essen, Miete und eine warme Wohnung leisten können. Was eigentlich das Peinlichste an diesem Jahr 2022 ist: Es ist der Umstand, wie sehr ausgerechnet die mit Niedriglohn und Hartz IV in prekäre Not Gebrachten als Argument dafür herhalten mussten, dass die Gutversorgten auf kein Quäntchen ihres Wohlstands verzichten sollten.

Da hat man dann beim Blättern durch die Tage tatsächlich das Gefühl, dass es höchste Zeit ist, mal den etwas grimmig dreinblickenden Burschen an seinem „Change my mind“-Stand aufsuchen zu müssen, mit dem Schwarwel eine kleine, widerborstige Hommage an Lucy aus Charles M. Schulz’ Peanuts-Comics gezeichnet hat.

Wenn man sich bei all den seltsamen Dingen, die ausgewachsene Wohlstandsbürger da jeden Tag so tun und sagen, nicht gerade wie Charlie Brown fühlt, ist der Weg zu Dr. Schwarwel vielleicht doch nicht so falsch. Man kommt zumindest wieder runter von diesem zornigen Trip im Kopf, der entsteht, wenn man sich Tag für Tag nur die aufgeschäumte Soße aus Boulevard-Medien und asozialen Medien hereingezogen hat.

Könnte es sein, dass Schwarwels Reise durchs Jahr 2022 auch so etwas wie Medizin ist gegen all die falsche Aufregung, die im Kapitalismus ja auch eine Funktion hat – nämlich die Leute auf Abwege zu führen und abzulenken davon, dass die so heiß geliebten „Märkte“ auch deshalb nicht funktionieren, weil ihre Triebkraft nicht die Vernunft, sondern die blanke Gier sind?

Apropos: Kommt auch der komische Vogel von Twitter drin vor? – Kommt er.

Na dann viel Spaß beim Lesen und Lachen über ein Jahr, das es an Narretei mit allen vorhergehenden locker aufnehmen kann.

Schwarwel „Das Problem heißt Kapitalismus“, Glücklicher Montag, Leipzig 2022, 9,90 Euro.

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