Seit dem 26. Februar 2020 ist alles anders. An diesem Tag hat das Bundesverfassungsgericht den ยง 217 des Strafgesetzbuches fรผr null und nichtig erklรคrt. Dabei hatte erst 2015 der damalige Bundestag mit deutlicher Mehrheit fรผr die Strafverschรคrfung im ยง 217 gestimmt und damit in vollem Wissen ein Grundrecht aus dem Grundgesetz ausgehebelt. Ein Rรผckfall in ein Rechtsverstรคndnis von vor 100 Jahren.
โDas allgemeine Persรถnlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schlieรt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurรผckzugreifen. Die in Wahrnehmung dieses Rechts getroffene Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verstรคndnis von Lebensqualitรคt und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektierenโ, begrรผndete das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung,
Noch steht der ยง 217 โGeschรคftsmรครige Fรถrderung der Selbsttรถtungโ so im Strafgesetzbuch. Mit dem kleinen, aber eindeutigen Hinweis: โnach Maรgabe der Entscheidungsformel mit GG unvereinbar und nichtig gem. BVerfGE v. 26.2.2020โ.
Die Wรผrde des Menschen
Das Verfassungsgericht hat den Gesetzgeber auf zwei ganz zentrale Sรคtze im Grundgesetz hingewiesen: โJeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persรถnlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmรครige Ordnung oder das Sittengesetz verstรถรt.โ Und: โDie Wรผrde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schรผtzen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.โ
Doch indem sich der Staat anmaรt zu bestimmen, ob freie Bรผrger ihrem Leben aus freier Entscheidung ein Ende setzen dรผrfen, hat er genau in diese Grundrechte eingegriffen. Sich eine alte Vormundschaft angemaรt, die noch zum autokratischen Staat gehรถrt, in dem Staatsbehรถrden bis ins Intimleben der Bรผrger hinein Vorschriften machten und sich als Polizisten aufspielten. Der ยง 218 gehรถrt auch in diese Klamottenkiste der Einmischung und Bevormundung.
Beide Paragraphen erzรคhlen von einem vormundschaftlichen Staat, der seinen Bรผrgern nicht zutraut, dass sie zentrale Entscheidungen, ihr eigenes Leben betreffend, eigenstรคndig treffen kรถnnen. Und es steckt ein uralter religiรถser Moralismus dahinter, der davon erzรคhlt, dass die Trennung von Staat und Kirche noch lรคngst nicht vollendet ist.
Denn hier kommen alte theologische Vorurteile zum Tragen, bei der Selbsttรถtung die uralte Interpretation des โKirchenvatersโ Augustinus, der das biblische Gebot โDu sollst nicht tรถtenโ auch auf die Selbsttรถtung ausweitete und diese damit kriminalisierte. So kam auch der Begriff โSelbstmรถrderโ in die Welt, der das kirchliche und weltliche Strafrecht bis ins 19. Jahrhundert bestimmte.
Bis dann auch die Medizin so langsam begriff, wie komplex das Thema tatsรคchlich ist und wie tief es an das Allermenschlichste rรผhrt. Denn Suizide und Suizidversuche sind oft auch ein Hilferuf, ein zuweilen verzweifelter Versuch, einer als ausweglos empfundenen Lage zu entkommen.
In diesem Buch gibt es dafรผr das eindrucksvolle Bild von der Katze am Abgrund, der eine Wand aus glรผhenden Stรคben den Rรผckzug abgeschnitten hat. Ein Bild fรผr die psychische Situation, in der sich viele Menschen befinden, wenn sie in der eigenen Auslรถschung den Ausweg suchen.
Das Gefรผhl, es nicht mehr auszuhalten
Das Buch beleuchtet in vielen verschiedenen Beitrรคgen das Thema, das die Menschen seit Jahrhunderten auch in Philosophie, Malerei und Dichtung beschรคftigt. Lรคngst auch in Rock- und Popsongs, in Filmen und Romanen. Das Thema lรคsst die Menschen nicht los. Denn letztlich machen sich alle Gedanken darรผber, wie sie aus dem Leben gehen wollen โ wรผrdevoll und selbstbestimmt oder gebrechlich und aller Wรผrde bar?
Es ist die zentrale Frage, die in der Augustinschen Moralvorstellung keinen Platz hat. Und augenscheinlich in den Wertvorstellungen vieler Politiker auch nicht. Aber die juristische Frage wird in diesem Buch genauso diskutiert wie die psychische Seite gerade der Selbsttรถtungen im jungen Alter, die meist aus Sicht der Auรenstehenden nicht zu begreifen sind.
Dass dahinter tatsรคchlich echte psychische Erkrankungen stecken kรถnnen, das thematisieren mehrere Autror/-innen in diesem Buch โ mal aus Sicht von Medizinern, die sich von Berufs wegen mit der Thematik beschรคftigen, mal auch aus der Sicht von Betroffenen, die ihre eigenen Erfahrungen gemacht haben mit diesem Moment letztlich vรถlliger Ohnmacht, in dem ein Suizid als letzte Mรถglichkeit erscheint, einer unaushaltbaren Situation รผberhaupt noch zu entkommen.
Benjamin Schmidt bringt es โ aus eigenem Erleben โ auf den Punkt, wenn er schreibt: โNiemand sollte sich fรผr einen versuchten Suizid schรคmen mรผssen. Sich selbst zu tรถten heiรt nicht, nicht leben zu wollen. Es heiรt, so nicht leben zu wollen. Es nicht mehr zu kรถnnen. Es nicht mehr zu schaffen. Es ganz einfach nicht mehr auszuhalten. Undankbarkeit hat damit rein gar nichts zu tun. Es ist weder feige noch egoistisch. Zumindest nicht egoistischer, als zu leben.โ
Wer fรคllt das Urteil?
Ein gewisser Sarkasmus schwingt da mit. Denn er weiร, wie sehr man sich dennoch schรคmen kann โ auch fรผr den Versuch. Und wie viel Scham unsere Gesellschaft produziert, die sich โ da seien wir doch mal ehrlich โ um das psychische Wohlergehen ihrer Mitglieder nicht wirklich viel sorgt.
Die haben bitteschรถn zu funktionieren, sich einzufรผgen, immer schรถn optimistisch zu sein und in der Lage, ihre Probleme allein zu lรถsen. Man vergisst diesen Druck des Funktionierenmรผssens in einer mitleidlosen Gesellschaft oft. Ein Druck, der mit Lebens- und Versagensรคngsten oft genug einhergeht.
Was einige Beitrรคge zumindest andeuten, denn unsere Konsumgesellschaft hรคlt auch noch viele ganz legale Mittelchen bereit, mit denen jeder und jede ihr Leben verkรผrzen kรถnnen, ohne dass danach ein moralisches Urteil gefรคllt wird.
Juliane Uhl, die das Thema aus psychosozialer Sicht betrachtet, schreibt: โDer Streit um die Bewertung des Suizids ist ein Streit um die Wertschรคtzung des Lebens an sich. Die einen sagen, die eigene Entscheidung ist immer das oberste Gut und manchmal ist der Tod ein kleineres รbel als das Leben. Die anderen wollen Leben um jeden Preis erhalten. Einen Konsens wird es zwischen diesen Positionen nicht geben.โ
Worum es in diesem Buch auch nicht geht. Dazu ist das Thema zu komplex und umfasst das wichtige Thema Suizidprรคvention genauso wie das Leiden der nรคchsten Angehรถrigen. Denn die leiden immer, egal, ob es ein natรผrlicher Tod war oder ein selbst herbeigefรผhrter.
Selbst wenn es Menschen, die Suizid begehen, oft nicht so sehen, weil ihnen ihre eigene Wahrnehmung etwas vรถllig anderes sagt. Und statistisch gesehen gibt es genug Hinweise, dass Depressionen genauso wie Einsamkeit und gefรผhlte Sinnlosigkeit im Leben dazu beitragen, dass Menschen die Selbsttรถtung als Lรถsung betrachten.
Einige Beitrรคge leuchten auch in die Gothic-Szene hinein, gehen der Vermutung nach, die Szene wรผrde Menschen geradezu anziehen, die den selbst gewรคhlten Tod als Lรถsung fรผr sich betrachten. Aber es kรถnnte auch ganz anders sein: Dass Musik und Szene Menschen sogar erst wieder einen Sinn geben und das Gefรผhl, dazuzugehรถren. Und akzeptiert zu werden, so wie sie sind und sich fรผhlen.
Eine Gesellschaft, die Scheitern nicht akzeptieren kann
Und auch wieder das Gefรผhl geben, am Leben zu sein. Einem Leben, zu dem Dinge wie Trauer, Niedergeschlagenheit, Verluste und Ungewissheit nun einmal dazu gehรถren. Wer das alles immerzu verdrรคngt und den ganzen Heilsversprechen einer optimierten, effizienten und stets einsatzbereiten Gesellschaft glaubt, wird zwangslรคufig krank.
Der verliert auch sich selbst. Immerhin ist es eine Gesellschaft, die Versagen und Scheitern nicht wirklich akzeptieren kann.
Ein fast beilรคufiger Gedanke, aber auch der steckt in der immer neuen Thematisierung des Freitods in Literatur und Kunst. Es ist ja nicht nur die Faszination des Morbiden, die da im Ophelia-Motiv steckt oder im Werther. Immerhin zwei literarische Gestalten, die auch an ihren Vorstellungen vom gewรผnschten Leben gescheitert sind. Und damit auch Ausweglosigkeiten zeigen, die mit dem Geist ihrer Epoche zu tun haben.
Und mit dem Zeitgeist, der ihre Autoren bewegte. Und dass selbst Mรคnner, die sich jede Menge Gedanken รผber einen wรผrdevollen Tod gemacht haben, am Ende doch die Selbstbestimmung รผber ihr Leben verlieren, wird im Buch am Beispiel des rรถmischen Philosophen Seneca erlรคutert.
Das Gesellschaftliche lรคsst sich aus der Thematik nicht heraushalten. Es wird sichtbar in steigenden und fallenden Zahlen zu Selbsttรถtungen. Es erzeugt den Druck, unter dem Menschen stehen, Mรคnner zumal, die โ statistisch betrachtet โ hรคufiger Hand an sich legen, gerade dann, wenn ihr Eigenbild gnadenlos infrage gestellt ist.
Sollen sie doch die Macher sein, die, die immerfort Leistung zeigen und sich nicht kleinkriegen lassen. Welches Mรคnnerbild ist da eigentlich das falsche? Kann es sein, dass es genau jenes ist, das uns in Filmen, Werbung und politischer Groรkotzigkeit jeden Tag vorgemacht wird? Als wรคren Mรคnner dazu da, ein Heldentum zu zelebrieren, das keine Schwรคchen und Fehler zulรคsst?
Die falsche romantische Brille
Auch das so ein kleiner Nebengedanke in einem Buch, in dem das vorsichtige Ausloten der psychischen Probleme rund um das Thema genauso zu finden ist wie die wissenschaftliche Analyse und die literarische Thematisierung. Immer wieder verbunden mit der Frage nach unseren Wertungen und den gesetzlichen Rahmenbedingungen, in denen die โautonome Selbstbestimmungโ, wie es das Bundesverfassungsgericht benannte, immer im Mittelpunkt steht.
Was die Sache nicht leichter macht, nicht fรผr Betroffene, nicht fรผr Angehรถrige, nicht fรผr รrzte. Weshalb es ja tatsรคchlich eine โ auch gesetzliche โ Rahmensetzung braucht, die sichert, dass das Selbstbestimmungsrecht tatsรคchlich gewahrt wird. Ein Thema, das in der begleiteten Sterbehilfe ganz zentral ist.
Weshalb es eben nicht wirklich um die viel zu oft durchgekaute Frage eines Hamlet geht: Sein oder Nichtsein. Nein, das ist hier nicht die Frage. Ist es eigentlich auch im โHamletโ nicht. Aber darum sollen sich Regisseure kรผmmern, die den Fall Hamlet mal nicht nur durch die romantische Brille betrachten.
Es geht tatsรคchlich immer um Menschenwรผrde und Selbstbestimmung. Genau das hat Shakespeare nรคmlich immer wieder ausgelotet: Wo sind eigentlich in einer derart starr von Regeln und Hierarchien bestimmten Gesellschaft die Grenzen fรผr das selbstbestimmte Handeln?
Wo scheitern selbst Personen, die eigentlich mรคchtig sind? Und was richtet das eigentlich mit der Psyche und dem Gewissen an? Wo bleibt die Gewissensfreiheit? Und wo endet die ganz individuelle Freiheit, handeln zu kรถnnen und das eigene Leben (und Sterben) selbst zu bestimmen?
Mehrere Autorinnen im Buch berรผhren genau diese Frage. Auch Luci van Org in einer sehr berรผhrenden โHamsterโ-Geschichte. Eine Geschichte, die davon erzรคhlt, dass man anderen den Sinn an ihrem Leben nicht einreden kann. Was gerade nahe Freunde und Angehรถrige oft verzweifeln lรคsst.
Wohin die eigene Sehnsucht geht, das kann jeder nur selbst herausfinden. Und manchmal ist es ein Zufall, ein ganz unbeabsichtigter Moment, die der Entwicklung eine neue Richtung geben und den Betroffenen aus ihren Schleifen heraushelfen. Ihnen wieder das Gefรผhl geben, dass ihr Leben einen Sinn hat und Erfรผllung findet.
Ein Friedhof im Grunewald
Es ist also letztlich ein ganz zentrales Lebensthema, das hier behandelt wird. Sogar zugespitzt, weil es eben nicht allgemein den Tod behandelt, sondern das ganz konkrete Verhรคltnis zum eigenen Leben. Das ein Geschenk ist, aber kein Besitztum, wie Benjamin Schmidt so richtig betont.
Man nimmt niemandem etwas weg, wenn man รผber das eigene Leben bestimmt. Wenn Staaten und Kirchen es so behandeln, werden sie รผbergriffig, mischen sich in etwas ein, was ihnen nicht gehรถrt und nicht zusteht.
Ganz zu schweigen davon, dass es oft gesellschaftlich produzierte Notstรคnde sind, die Menschen in den Suizid treiben โ Armut, Ausgrenzung, Entrechtung, Schikane, Verfolgung, Arbeitslosigkeit, Einsamkeit. Weshalb auch ein gewisses Verstรคndnis immer mitschwingt, etwa wenn von dem deutschlandweit einzigartigen Friedhof im Grunewald erzรคhlt wird, auf dem Menschen ihre letzte Ruhe gefunden haben, die sich selbst umgebracht haben.
Denn abseits der meist sensationsgierig aufgemachten Schlagzeilen wissen die meisten Leser/-innen, dass es gerade dann, wenn man an den Rรคndern der Gesellschaft landet, wirklich hart wird. So hart, dass die Betroffenen oft wirklich keinen Ausweg mehr wissen.
Nur wie berichtet man darรผber? Auch das wird thematisiert. Denn mittlerweile gibt es genug Untersuchungen รผber den sogenannten โWertherโ-Effekt, der tatsรคchlich dann meist nachweisbar ist, wenn besonders viel รผber einzelne Suizidfรคlle berichtet wird. Inzwischen gibt es Regeln, die sich Medien selbst auferlegt haben.
Bianca Stรผcker thematisiert es letztlich in ihrem Text รผber die eigene Erfahrung: Dass das Leben voller Zufรคlle, Entscheidungen und Verรคnderungen ist, die wir meistens nicht in der Hand haben, die uns an unsere Grenzen bringen kรถnnen und in Situationen, die als ausweglos erscheinen.
Wir sind nicht allmรคchtig. Und manchmal braucht es Zeit, diese Ohnmacht auch zu akzeptieren. Oder die eigene Schwรคche oder das Gefรผhl, sich selbst nicht zu genรผgen.
Nur helfen weder Romantisierung noch Tabuisierung, um hier nur die beiden im Buch thematisch aufgemachten Extreme zu benennen, das die Komplexitรคt des Themas einzufangen versucht und auch den Stand der heutigen Diskussion, die sich erst langsam von den lรคngst รผberholten Vorstellungen von Scham und Sรผnde zu lรถsen beginnt. Und allmรคhlich akzeptiert, dass es tatsรคchlich um die Frage eines selbstbestimmten Lebens geht.
Katherina Dr. Heinrichs; Jรถrg Prof. Dr. Vรถgele Sein oder Nichtsein. Suizid in Wissenschaft und Kunst Edition Outbird, Gera 2022, 16,90 Euro.
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