Steubenstraße? Da kommt man ja ganz durcheinander. Wo in Leipzig gibt es bitte eine Steubenstraße? Doch ja, es gab mal eine. 20 Jahre lang. In Schleußig. Man stolpert über sie im gerade erschienenen Band mit lauter historischen Ansichtskarten von Schleußig, den Pro Leipzig herausgeben hat. Die Steubenstraße ist so ein schönes Beispiel für eine dem Zeitgeist geschuldete Umbenennung, mit der spätere Generationen nichts mehr anfangen konnten.

1930 wurde diese Straße in Schleußig so umbenannt. Aus aktuellem Anlass. Weil man gerade den 200. Geburtstag des in Magdeburg geborenen amerikanischen Generals Friedrich Wilhelm von Steuben feierte, meinten Leipzigs Stadtväter damals, man müsste auch in Leipzig eine Steubenstraße haben. Und benannten kurzerhand die Seumestraße in Schleußig um. General gegen Schriftsteller. Auch eine Art Bekenntnis.

Straßennamen im Wandel der Zeit

Die aber aus heutiger Sicht befremdlich wirkt. Denn Steuben hatte so gar nichts mit Leipzig zu tun. Höchstens seinen Einsatz im Freibataillon Johann von Mayrs im Siebenjährigen Krieg könnte man anführen, als die Preußen Sachsen besetzt hatten und von Mayr mit seiner Truppe von Sachsen aus operierte.

Während Johann Gottfried Seume ja wirklich in Leipzig lebte, studierte und seine Bücher schrieb. Mit Steuben hatte er insofern zu tun, als er als einfacher (und verkaufter) Soldat auf der anderen Seite des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges bei den Engländern kämpfen sollte. Wozu es zum Glück nicht mehr kam. Aber war das Grund genug, die einzige nach Seume benannte Straße umzutaufen?

Erst sieben Jahre später, 1937, gab es dann die Umbenennung der alten Knautkleeberger Hauptstraße in Seumestraße. Und da bekommt die Sache einen Sinn. Denn 1930 war Knautklebeerg nach Leipzig eingemeindet worden. Und in Knautkleeberg hatte Seume seine Kindheit verbracht.

1950 wurde dann freilich Steuben seine Straße wieder los und stattdessen wurde der Maler Hans Holbein mit der Straßenbenennung in Schleußig gewürdigt. Seitdem heißt die Straße Holbeinstraße.

Eine wahre Fundgrube

Aber wenn man sich durch alte Ansichtskartenarchive wühlt, begegnet man ja diesen Irritationen. Sie sind ein mal bunt, mal einfarbig gedrucktes Gedächtnis, geben sich ganz naiv, tun so, als würde man nur einfach schöne Grüße aussenden in die Welt und die Bilder auf der Ansichtsseite seien nur Illustration. Aber für Historiker sind sie das eben nicht. Oft enthalten genau diese Bilder Informationen, die anderswo gar nicht erst aufbewahrt wurden.

Und sie zeigen Orte, die längst verschwunden sind. Was scheinbar aus der Perspektive eines kurzen Menschenlebens dauerhaft und beständig wirkt, kann schon mit der nächsten Umwälzung völlig aus dem Stadtbild verschwinden.

Und so ist auch der Schleußig-Band aus der Reihe der großformatigen Ansichskartenbände von Pro Leipzig ein Ausflug in eine eigentlich noch gar nicht so lange zurückliegende Epoche. Und trotzdem sind die kleinen Texte auf und neben den abgebildeten Karten wichtig, damit man das Gesehene überhaupt noch einordnen kann. Ganz abgesehen davon, dass das eigentliche Ansichtskartenzeitalter vor rund 70 Jahren zu Ende ging. Ein paar Motive gab es dann noch aus DDR-Ansichtskartenverlagen.

Und noch in den 1970er Jahren versandten die Bürger des kleinen abgeschotteten Ländchens an die 300 Millionen Ansichtskarten jedes Jahr. Aber von der großen Vielfalt, die es ungefähr von 1890 bis 1930 gegeben hatte, war nicht mehr viel geblieben. Und es fehlten natürlich auch die vielen Gastwirte und Kleinstverlage, die mit diesen bunten Karten auch auf sich, ihr Etablissement und den Absendeort aufmerksam machen wollten. Die Karten waren immer auch Werbung.

Und ein bisschen Stolz steckte in ihnen. Auch und gerade in Schleußig, das sich ja durch das Wirken Karl Heines ab 1876 überhaupt erst zu dem Stadtquartier entwickelte, das man heute besichtigen kann. Vorher gab es nur das kleine Dorf Schleußig an der heutigen Rödelstraße, der man einfach nicht mehr ansieht, dass sie einmal die eigentliche Dorfstraße war.

Gerade einmal 250 Menschen lebten da. Es gab das alte Gut, das zuletzt Bernhard Hüffer gehörte, der sich bei der Planung für das künftige Schleußig mit Karl Heine darauf einigte, dass die Rödelstraße die Grenze ihrer jeweiligen Planungen sein sollte. Doch während auf Hüffers Seite lange nichts geschah (und später viele Villen gebaut wurden), entwickelte Heine von Norden her Neu-Schleußig, beginnend an der nördlichen Könneritzstraße und damit in Sichtweite der Villa, die er selbst sich 1873 / 1874 schön idyllisch auf der Landzunge zwischen Weißer Elster und der Mündung der Rödel in die Weiße Elster hatte bauen lassen.

Rödel, Verbindungsbahn, Elstertal und Grüner Jäger

Das alles erfährt man in diesem Buch, das bilderreich nun auch das 2020 erschienene Stadtteillexikon „Schleußig“ ergänzt. Wem damals zu wenige Bilder über die 1926 verfüllte Rödel, die alte Dorfbebauung von Schleußig oder die einst beliebten Ausflugsgaststätten im Buch waren, der wird hier reich beschenkt. Der sieht jetzt auch die einstige Brücke der Verbindungsbahn, die vom Bahnhof Connewitz bis 1920 aus quer durch die Aue führte und so auch aus dieser Richtung das Plagwitzer Industrierevier ans Schienennetz anschloss.

Nördlich dieser Eisenbahnbrücke führte der Jahnsteg über die Rödel zur Jahnstraße, wie die Industriestraße damals noch hieß. Und auf manchen Ansichtskarten aus der Könneritzstraße sieht man noch die Gleise der Eisenbahn, wie sie auf dem „Buckel“ die Könneritzstraße und die dortigen Straßenbahngleise querte.

Alles verschwunden. Genauso wie das einst beliebte „Restaurant zum Park“, das seine Gäste sogar mit 800 Jahre alten Linden in den Freisitz lockte, das erste und das zweite Restaurant „Elstertal“ oder das Restaurant „Zum Grünen Jäger“, das 1986 abgerissen wurde. Das südliche Schleußig war ein beliebter Ausflugsort für die Leipziger. Weshalb Julius Hermann hier an der noch nicht kanalisierten Weißen Elster auch seinen Bootsverleih gründete, genau an der Stelle, an der heute der Bootsverleih Herold noch immer seinen Sitz hat.

Wer es nicht weiß, sieht heute auch der Weißen Elster nicht an, wie sie gerade im frühen 20. Jahrhundert begradigt und kanalisiert wurde. Ihren alten Reiz als natürlicher Fluss hat sie verloren. Und baden kann man auch längst nicht mehr darin. Sollte man zumindest nicht, denn von der Wasserqualität, die sie noch zu Zeiten des Flussbades Kleinzschocher nahe der „Entenbrücke“ (des sogenannten Ambos-Bades) hatte, ist sie weit entfernt.

Notkirche, Bahnwärterhäuschen und der erste O-Bus

Manchmal machen einen eben auch alte Fotopostkarten darauf aufmerksam, wie naturfern so manches heute ist, von dem man glaubt, es sei schon immer so gewesen. Aber Karte um Karte klärt den Lesenden darüber auf, dass einst eine völlig andere Brücke an der Pferderennbahn über das Pleißeflutbett führte, dass Hochwasser wie 1909 und 1924 für das nah am Fluss gelegene Schleußig lange Zeit immer wiederkehrende Ereignisse waren, oder auch die erste Schleußiger Brücke völlig anders aussah.

Kaum noch vorstellbar, dass es am Schleußiger Weg einmal ein Bahnwärterhäuschen gab, so wie 1901 auf der Karte mit dem Titel „Parthie am Schleußiger Weg“ zu sehen. Selbst als die Verbindungsbahn nicht mehr fuhr, war es noch ein beliebtes Ausflugsziel der Leipziger. Der Schrebervertein Schleußig hat sein Wirken genauso stolz auf Ansichtskarten abbilden lassen wie die Kirchgemeinde ihre 1905 errichtete Notkirche und die spätere Bethanienkirche.

Und wer nicht aufpasst, verpasst die Karte im Buch, die auf der 1937 / 1938 neu gebauten Schleußiger Brücke auch einen der Busse der 1938 eröffneten O-Bus-Linie zeigt, die von der Südvorstadt zum Adler verkehrte. Oder die Shell-Tankstelle, die sich einst in der Könneritzstraße befand. Eigentlich eher eine Tanksäule, was den Zeitgenossen natürlich daran erinnert, dass auch die Benzinbetankung der Automobile einmal genauso angefangen hat wie die Strombetankung heutiger E-Autos: mit Tanksäulen direkt an Straßenrand.

So wie 1936 vor dem Schokoladengeschäft von Marianne Börner in der Könneritzstraße 21. Da konnte der Automobilist also nicht nur einmal volltanken, sondern auch gleich noch leckere Schokolade von Riquet kaufen. Der Bildtext orientiert sich eher am Friseurgeschäft von Arno Hopf, das im heutigen Gebäude Könneritzstraße 21 nicht mehr als Ladengeschäft auszumachen ist, während im einstigen Schokoladenladen heute „Tonis Eisdiele“ zu finden ist.

Natürlich regen die alten Karten mit ihren oft versteckten Informationen dazu an, genau so auf die Spurensuche zu gehen und so auch Namen und Wirken einstiger Bewohner und Geschäftstreibender in Schleußig wiederzufinden. So wird auch sichtbar, wie schnell Geschichte tatsächlich verfliegt.

Der sanierte Häuserbestand lässt geradezu vergessen, dass die eindrucksvolle Bebauung an Könneritzstraße, Brockhausstraße und Holbeinstraße schon über 100 Jahre alt ist und wie die Menschen selbst vor 90 Jahren dort noch lebten.

Besonders markant ist der immer wieder stolz ins Straßenprofil geklebte Automobilist, der irgendwie wohl den technischen Fortschritt auch in Schleußig zeigen sollte. Aber das Hauptverkehrsmittel war bis weit in die 1930 Jahre ganz eindeutig die Straßenbahn, der die Könneritzstraße bis zum Horizont praktisch allein gehörte. Da und dort sieht man einen Handwagen. Aber ansonsten gingen die Schleußiger zu Fuß und nichts gemahnt daran, dass diese breiten und leeren Straßen einmal mit lauter blechernen Karossen zugestellt sein würden.

Wilfried Grylla, Peter Helbig, „Schleußig. Ein Ortsteil auf alten Ansichtskarten“, Pro Leipzig, Leipzig 2022, 19 Euro.

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