2021 feierten zumindest die Freunde der deutschen Barockdichtung und ein paar Greifswalder ihren 400. Geburtstag. Denn 1621 war in Greifswald eine der begabtesten deutschen Dichterinnen geboren worden, die aber schon 1638, gerade 17 Jahre alt, an der Ruhr starb. Die Texte der Bürgermeistertochter Sibylla Schwarz haben überlebt, weil der Pfarrer und kurzzeitige Hauslehrer Samuel Gerlach sie 1650 postum in zwei Bänden veröffentlichte.
Nicht ganz ordentlich und mit vielen Druckfehlern, über die selbst Gerlach noch entsetzt war. Aber dafür, dass die Sonette, Lieder und Bindgedichte der jungen Greifswalderin ansonsten fast komplett verloren gegangen wären, war sein Bemühen eine große verlegerische Leistung.
Michael Gratz, der die überlieferten Texte von Sibylla Schwarz in einer kritischen Ausgabe in zwei Bänden herausgegeben hat, geht im Anhang zu diesem gerade erschienenen zweiten Band ausführlich auf die Editionsgeschichte ein. Und auch darauf, wie fahrlässig die Literaturgeschichte mit Sibylla Schwarz umgegangen ist.
Eine Literaturgeschichtsschreibung, die sogar ziemlich konsequent daran arbeitete, die dichtenden Frauen des Barock wieder aus der Überlieferung zu tilgen, sie einfach verschwinden zu lassen oder nur beiläufig und dann auch noch völlig falsch klassifiziert zu erwähnen.
Für Gratz ein sicheres Anzeichen dafür, dass die Lexikonautoren sich nicht mal die Mühe gemacht hatten, die von Gerlach herausgegebenen Bände zu lesen, sondern nur die da und dort in barocken Gedichtsammlungen abgedruckten Texte. Ganz konnten sie diese junge Dichterin aus Greifswald nicht ignorieren, denn ihre Sonette und einige kirchliche Lieder wurden auch nach dem Tod der jungen Frau nachgedruckt.
Eine Chance für das Wohnhaus der Dichterin
Auch wenn die kritische Beschäftigung mit ihrem Gesamtwerk im Grunde all die Jahrhunderte brachlag: Der 400. Geburtstag war für Gratz der richtige Anlass, die überfällige kritische Gesamtausgabe zu bewerkstelligen. Und im Leipziger Verleger Bertram Reinecke fand er dazu einen Partner, der das Wagnis auf sich nahm.
Denn das jahrhundertelange Schweigen bedeutet nun einmal auch, dass die junge Frau fast nur in Spezialistenkreisen bekannt war und auch im Kanon der großen Barockdichter von Opitz bis Gryphius nur selten erwähnt wurde.
Dabei ist sie auch für die Greifswalder Geschichte nicht ganz unwichtig, war ihr Vater Christian Schwarz ja während des Dreißigjährigen Krieges Bürgermeister in Greifswald. Die mehrfachen Besetzungen der Stadt durch die diversen Truppen sind als Widerhall auch in Sibyllas Texten zu finden.
Und sogar das Haus, in dem sie lebte und starb, existiert noch. Und seit 2019 hat dieses eindrucksvolle Wohnhaus in der Baderstraße 2, das ihrem Vater Christian Schwarz gehörte, sogar wieder eine Zukunft, nachdem es jahrelang dem Verfall preisgegeben war.
Der Sibylla Schwarz e. V. konnte mit dem Eigentümer des Hauses eine Sanierungs- und Nutzungsvereinbarung unterzeichnen. „Das Nutzungskonzept des Sibylla Schwarz e. V. sieht ein Forschungszentrum vor, in dem neben internationalen Wissenschaftlern auch Arbeitsräume, ein Café und ein Schwarz-Museum ein Zuhause finden könnten“, heißt es auf der Website des Vereins.
Spuren eines Lebens im Dreißigjährigen Krieg
Der zweite Band enthält jetzt „Heroische Stücke, Erzählende Dichtung, Drama“. Wobei man das mit dem Heroischen nicht so eng sehen darf, denn kriegerische Texte wird man von der 17-Jährigen nicht erwarten können. Das Heroische ist für sie vor allem eine Gattung in der Dichtung gewesen.
Gratz erklärt es ausführlich, weil er Sibyllas Texte eben anders als Gerlach tatsächlich versucht hat in eine Ordnung zu bringen. Und da bei den meisten das konkrete Entstehungsdatum fehlt, hat er die Sortierung nach Gattungen gewählt. Was es für die Leserinnen und Leser überschaubarer macht.
Wer mag, kann sich gleich ihren mustergültigen Sonetten widmen. Oder den mitreißenden Fretow-Gedichten im ersten Band, die von den Kinder- und Jugendtagen im Landhaus des Vaters in Fretow (Frätow) erzählen. Texte, die umso mehr frappieren, wenn man dann auch noch Sibyllas Klagen darüber liest, dass der Landsitz von den Söldnertruppen des Krieges zerstört wurde.
Etliche Texte laden natürlich ein, weiteres zu Sibyllas Leben und den von Gerlach überlieferten Lebensdaten zu erfahren. Denn es sind fast immer sehr persönliche Texte, oft Anlassgedichte zu Hochzeiten, Geburtstagen, aber auch Sterbefällen.
Aus heutiger Sicht lesen sich gerade die Trauergedichte scheinbar abgehoben, ganz so, als wäre die wirkliche Trauer darin tief verschlossen. Aber nicht ganz grundlos geht Gratz auf die damals blühende Barockdichtung ein und die hohen Ansprüche an die klassischen Versformen.
Gerade Martin Opitz steht mit seiner Regelstrenge für diesen Anspruch. Und seine „Poeterey“ hat die Bürgermeistertochter auf jeden Fall gekannt und wohl auch bewundert. Manche Stücke in der Sammlung könnten direkt eine Fingerübung nach Opitz gewesen sein, die davon erzählt, wie das Mädchen sich mit Ehrgeiz in die Techniken der barocken Dichtkunst einarbeitete.
Gaben des Geistes
Ihre Klugheit hat nicht nur Gerlach beeindruckt. Selbst die Widmungsgedichte ihrer Zeitgenossen und die Trauerreden – eine sogar vom Rektor der Greifswalder Universität – erzählen von der Bewunderung für die junge Frau und ihre „Gaben des Geistes“.
Gratz diskutiert natürlich auch die Rechtschreibung und den Satz der Gedichte von Sibylla Schwarz. Beides erzählt ja davon, wie Gerlach zu diesen Texten gekommen sein muss. Denn selbst besessen haben dürfte er nur einige von Sibyllas Gedichten.
Aber nach ihrem Tod muss er sich regelrecht darum bemüht haben, alles, was sie so freigiebig verschenkt hat, für die geplante Gesamtausgabe in die Hände zu bekommen. Und sie hat sie ja verschenkt und damit wahrscheinlich auch die Bewunderung ihrer Mitwelt erregt, wenn sie den Menschen in ihrem engsten Umkreis die immer sehr persönlichen und trotzdem stilistisch ausgefeilten Widmungsgedichte übereignete.
Viel persönlicher konnten Geschenke gar nicht sein. Viel erstaunlicher ist die schiere Zahl dieser Texte. Gerade in ihren Gedichten an die engsten Freundinnen sieht Gratz zwar auch eine gewisse Stichelei. Aber für gewöhnlich sind ihre Texte voller Anteilnahme und man spürt, dass ihr die Schicksale der gewürdigten Menschen nicht gleichgültig waren. Auch wenn die Texte manchmal ein wenig naseweis wirken, ein bisschen altklug.
Aber auch das gehört zur Zeit, wie Michael Gratz anklingen lässt. Denn nicht grundlos befindet man sich mit diesen Texten mitten im Dreißigjährigen Krieg, der eben auch ein Religionskrieg war. Und der kriegerische Katholizismus im Süden war dabei ganz genauso streng wie das orthodoxe Luthertum im Norden.
Beide waren unduldsam und achteten auf Zucht und Sitte. Und selbst noch auf dem Sterbebett musste sich diese neugierige Sibylla gefallen lassen, dass ihr Pfarrer keine Zweifel an der strengsten Auslegung des Luthertums akzeptierte.
Leben im Religionskrieg
Da verwundert es nicht, dass die Barockdichter dann Themen wie Liebe, Begehren und Verführung lieber in die Rezeption der klassischen griechischen und römischen Literatur verlegten, wo man dann eben die ganzen antiken Götter all das sagen und treiben ließ, was im prüden irdischen Jetzt nicht gesagt werden durfte.
Hier durfte verlockt, geschwärmt und geturtelt werden. In klassischer Reimform, gern mit direktem Verweis auf Dichter wie Horaz. Auch Sibylla Schwarz nutzte diesen Weg, um sich auszuprobieren.
Wohl wissend, dass ihr auch als Tochter eines Bürgermeisters eher eine ganz und gar prosaische Laufbahn als Hausfrau und Mutter möglichst viele Kinder bevorstand. So wie ihren Schwestern. Und dass auch dann nicht unbedingt ein langes Leben vor ihr lag, denn Frauen starben meist sehr jung im Kindbett.
Vorerst war für sie ja die Rolle der Hausfrau im Haus ihres Vaters vorgesehen, in die sie sich schon eingeübt hatte, weil ihre ältere Schwester Emerentia heiratete – ausgerechnet am Tag ihres Todes. Man kann nur ahnen, wie das im Hause Schwarz gewirkt haben muss. Auch wenn die Trauer um jung gestorbene Angehörige in dieser Zeit allgegenwärtig war. Auch Greifswald hatte einen Großteil seiner Einwohnerschaft verloren. Der Stadt erging es nicht besser als zum Beispiel Torgau.
Wobei Gratz auch die Verbindungen sichtbar zu machen versucht, die die begabte junge Frau mit den großen Dichtern ihrer Zeit vernetzte. Auch wenn Opitz (der nur ein Jahr nach Sibylla an der Pest sterben sollte) nie nach Greifswald kam.
Wahrscheinlich eher nach Danzig, wie Gratz vermutet, wo sich damals ein Großteil der deutschen Barockdichter versammelte, weil Danzig eine der wenigen großen Städte war, die von den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges verschont blieben.
Liest Sibylla etwa schon wieder?
Auf jeden Fall kannte Sibylla Schwarz einige der wichtigsten Veröffentlichungen zur damals modernen Barockdichtung und studierte sie auch gründlich durch und schulte sich daran. Mit den großen Namen ihrer Zeit konnte sie sich durchaus vergleichen, stellt Gratz fest.
Und ganz sicher gehört sie an prominenter Stelle in die Literaturgeschichtsschreibung. Sie hat es nicht verdient, von bequemen Lexikonautoren einfach ignoriert zu werden. Und mit den beiden Bänden, die Gratz vorgelegt hat, sind ihre Texte jetzt auch für jeden, der sie kennenlernen will, verfügbar. Und natürlich auch der Forschung, wenn diese nicht auf die wenigen in großen Bibliotheken noch vorhandenen Exemplare der Gerlachschen Ausgabe zurückgreifen wollen.
Denn stillschweigend hat Gratz ja auch die von Gerlach angegebenen Korrekturen übernommen und weist auch auf die Fehlstellen in manchen Texten hin, die darauf hindeuten, dass man es tatsächlich noch mit einem Fragment zu tun hat, an dem Sibylla noch gearbeitet haben muss.
Man bekommt zumindest eine Ahnung von ihrer Gründlichkeit, mit der sie die Gedichte entstehen ließ. Eine Strenge, die regelrecht wohltut, weil Reime und Versmaß genau gearbeitet sind. Und das nicht ermüdend, denn so, wie Sibylla mit überraschenden Pointen und Gedanken aufwartet, erfreut sie auch mit ungewöhnlichen Reimen und einem Wortreichtum, der davon erzählt, wie belesen sie gewesen sein muss.
Man hört Bürgermeister Christian Schwarz regelrecht brummeln beim Nachhausekommen im Flur, wenn seine kluge Tochter ihn nicht begrüßen kommt: „Liest Sibylla etwa schon wieder?“
Auf zu den Quellen
Nur grimmig gewesen sein wird er nicht, denn die Texte erzählen auch davon, wie der Vater den Bildungseifer seiner Tochter befördert haben muss. Mit der Kritischen Ausgabe von Michael Gratz liegt das Lebenswerk von Sibylla Schwarz jetzt so geordnet vor, wie das nur möglich war.
Versehen mit hunderten Anmerkungen, die die Leser auf zusätzliche Quellen, Hintergründe und mögliche weitere Druckfehler der ursprünglichen Ausgabe verweisen. Und natürlich auf biografische Zusammenhänge, die das Leben der jungen Dichterin in Greifswald und auch auf der kriegsbedingten Flucht in Konturen sichtbar werden lassen.
Und eine gewisse Dankbarkeit gegenüber Samuel Gerlach ist ebenfalls zu spüren. Denn wenn er sich nicht so emsig ans Sammeln von Sibyllas Texten gemacht hätte, wüssten wir heute über Sibyllas Schaffen so gut wie nichts.
Bis auf das, was faule Lexikonautoren immer so gern voneinander abgeschrieben haben, ohne größere Lust, die Quellenlage genauer zu prüfen.
Das hier ist jetzt eine ergiebige Quelle für alle, die bisher noch nicht wussten, dass es in Greifswald eine derart begabte junge Dame gegeben hat.
Sibylla Schwarz Kritische Ausgabe. Band 2 Reinecke & Voß, Leipzig 2022, 24 Euro.
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