Es sind keine Erzählungen, sondern Kurzgeschichten, die in diesem ersten Sammelband von Linde Rotta zu finden sind. Richtige Kurzgeschichten, 31 Stück an der Zahl. Es gibt nicht viele Autoren und Autorinnen in Deutschland, die das Genre tatsächlich beherrschen. Linde Rotta gehört dazu. Das scheint selbst die einstige „Brigitte“-Kulturredakteurin Ellen Pomikalko irritiert zu haben. Die dabei war, als Linde Rotta 1987 ihren ersten Kurzgeschichtenband „Reserviert für zwei“ veröffentlichte.
„Reserviert für zwei“ ist in diesem Band enthalten, genauso wie mehr als Dutzend weiterer kurzer Geschichten aus dieser Zeit, als Linde Rotta, deren „Mann es nicht gern sah, dass sie schrieb“, sich freischrieb und sich als Journalistin und Autorin ab 1989 auf eigene Füße stellte.
In gewisser Weise trifft auf diese ersten Geschichten noch zu, was Pomikalko als „kapriziöse, geistreiche Darstellung der herrschenden Geschlechterambivalenz“ beschreibt. Es sind Geschichten, die problemlos auch in die „Brigitte“ passten. Drei dieser Geschichten druckte die Frauenzeitschrift auch ab.
Aber wer sie heute liest, merkt, dass mehr drinsteckt. Von Anfang an. Nichts an ihnen ist kapriziös. Das Wort ist nicht ohne Grund fast aus dem Sprachgebrauch verschwunden, denn es bringt auf erstaunliche Weise auf den Punkt, wie Männer des bürgerlichen Mittelstandes noch vor 50, 60 Jahre auf Frauen schauten, die ihnen mit Eigenwillen und Selbstbewusstsein gegenüber traten.
Aus Sicht der Herren Patriarchen: launisch. Auch in der Bedeutung: eigenwillig, wechselhaft.
Bürgerliche Liebesillusionen
Und das Wort verweist auch nicht zufällig auf die 1950er und 1960er Jahre. Denn da handeln viele dieser Geschichten. In einer durch und durch bürgerlichen Welt, mit ihren Vorstellungen von Treue, Liebe, Seitensprung, Verfügbarkeit.
Schon das etwas geradezu Anrührendes, denn ohne viel Aufwand gelingt es Linde Rotta, die Stimmung dieser Zeit einzufangen, die sich nach außen hin gern mondän gab, im Inneren aber die alten bürgerlichen Verklemmungen weiter hegte.
Gerade in der männlichen Variante. Da steckt ganz gewiss eine Menge eigenes Leben drin, der Nachklang der Zeit, als auch die Autorin noch jung war und von einem aufregenderen, freieren Leben träumte als dem, was ihr dann als Mutter von vier Kindern gegeben wurde.
In gewisser Weise steht Italien in dieser Geschichte als Sehnsuchtsland, als Fluchtland vor der braven Biederkeit, in die sich etwa die Heldin in „Aber Moritz schläft …“ fügen muss. Erst denkt man natürlich: Klar, hier erzählt eine Autorin echte „Brigitte“-Geschichten mit attraktiven Frauen und eleganten Liebhabern, Geschichten aus einer Welt, in die sich die Leserinnen der Zeitschrift träumen können, wenn sie daheim im Ruhrpott die Seiten umblättern.
Aber es steckt mehr darin als die Liebe zu Italien oder der Wunsch, Liebesgeschichten für eine Frauenzeitschrift zu schreiben. Denn Rottas Geschichten gehen in der Regel nicht mit einem Happyend zu Ende. Begegnungen scheitern, die Protagonisten versagen, heilige Liebesversprechen entpuppen sich als Trug.
Und immer wieder sind es die Heldinnen dieser Geschichten, die am Ende merken, wie ihre Liebhaber aus der Rolle fallen, sich Gefühle als konstruiert erweisen, Männer sich bei Seitensprüngen ertappen lassen.
Es sind keine kapriziösen Geschichten, sondern eigentlich kleine Kabinettstücke, in denen Ideal und Wirklichkeit des bürgerlichen Liebeslebens aufmerksam betrachtet werden.
Ohne großes Brimborium drumherum, knapp erzählt, oft auf Dialoge reduziert, in denen das Aneinandervorbeireden der männlichen und weiblichen Protagonisten erlebbar wird. Es muss nichts erklärt werden. All die philosophischen Weitschweifigkeiten, ohne die deutsche Startautoren oft nicht glauben auskommen zu können, gibt es hier nicht.
Die schöne bürgerliche Moral
Es sind nackte Szenen, die ganze Leere und Nichterfülltheit von Partnerschaft auf den Punkt gebracht. Und was sich in den frühen, „italienischen“ Geschichten andeutet, wird mit den Geschichten, die der Gegenwart der 1980er Jahre immer näherkommen, noch plastischer.
Vor allem, weil Linde Rotta hier nicht im Traumland Italien bleibt, die Geschichten also auch nicht mehr vermuten lassen, sie würden von einer künstlichen Traumwelt erzählen.
Man landet jetzt mitten in der westdeutschen Wirklichkeit. Und auch nicht mehr in einer idealisierten Bürgerlichkeit, wie sie heute immer noch die meisten Vorabendserien der ARD dominiert.
Jetzt kommen all die mehr oder weniger dissonanten oder regelrecht kaputten Familiengeschichten zum Vorschein, in denen das Drama von Macht, Geld und Nötigung zu sehen ist, das für sehr viele Menschen die tatsächliche Lebenserfahrung ist.
Männer werden übergriffig, Mädchen suchen ihre erste Liebe in einem Kaff, in dem alle alle beobachten, Geschwister nehmen den schwer behinderten Onkel aus, gleich drei Witwen treffen sich auf der Beerdigung des Mannes, der sich für seine Sehnsucht nach Liebe bis über die Ohren verschuldet hat.
Immer wieder landen die Heldinnen und Helden in Rottas Kurzgeschichten in den so alltäglich anmutenden Situationen, in denen unter schönem Schein die kleine Verlogenheit einer Welt sichtbar wird, die ihre Abgründe so gern versteckt und sich eine Ordentlichkeit anmaßt, die sie nicht wirklich ausfüllt.
Im Grunde lauter Geschichten, die das Bild der heilen, schönen Familienwelt, das in Werbung und Abendserien noch immer erzählt wird, entlarven. Und damit das verlogene Verhältnis der Geschlechter, das gerade für die Frauen in diesen Geschichten schlicht nicht funktioniert.
Ihre Träume von echter Partnerschaft scheitern, der schöne Schein erweist sich als Lug und Trug. Und alle wissen es und schwatzen drüber, was Linde Rotta dann sehr farbenfroh aus einem kleinen Nest erzählt, in dem das jährliche Ausschießen des Schützenkönigs nichts anderes ist als eine Bestätigung der Hierarchie im Dorf.
Trügerischer Schein
Zwischendrin immer wieder Geschichten, die in die harte Zeit nach dem Krieg zurückblenden, von den Tragödien der Frauen erzählen und den stillen Dramen der Heimkehrer. Geschichten, die in diesem Kontrast erst deutlich machen, wie sehr die (westdeutsche) Flucht in die sonnige italienische Idylle der 1960er Jahre auch ein riesiges Verdrängen dessen war, was nur wenige Jahre zuvor als Tragödie zu Ende ging.
Und neue Tragödien tauchen auf. Denn scheinbar sind ja diese biederen 1960er Jahre für die alte Bundesrepublik fast nahtlos in die biederen 1980er Jahre übergegangen.
Doch die Idylle trog. Linde Rotta erzählt von einer jungen Sprayerin, die ihr nachts entstandenes Bild nie zu sehen bekommt, aus der Kinderperspektive erzählt sie die Tragödie einer drogenkranken Mutter.
Eine Geschichte erzählt vom Smogalarm irgendwann in den Zeiten vor dem Waldsterben 0.1, der für die Heldin der kleinen Geschichte in einem stillen Drama endet. Sie erzählt von der Diskriminierung eines türkischen Jungen in der Schule, vom kleinen Rassismus der Leute, deren Fabrik gerade schließt.
Ganz in der Stille, nicht groß genug für die Titelseite der Lokalzeitung. Es ist längst eine andere Welt als in den Italien-Geschichten. Diese Protagonisten fahren nicht zum Urlaub nach Italien.
Sie setzen sich höchstens aufs Motorrad, um morgens die ersten auf dem Arbeitsamt zu sein, denn da werden die Gelegenheitsjobs verteilt, die man braucht, um wenigstens über die nächsten Tage zu kommen.
Das ist nicht mehr die Welt der Schönen und Träumenden. Es ist die Welt, in der der Absturz immer gegenwärtig ist und Alkohol und Drogen die Helferlein, wenn das Ganze nicht mehr zu ertragen ist. Und trotzdem sind es auch immer wieder Geschichten von Liebe und Täuschung, die es natürlich auch hier gibt.
Nur sehen sie banaler aus, haben keinen romantischen Lichterglanz. Auch wenn es oft nur zu vertraute Konstellationen sind, als wären die Blicke in diese kleinen Verhältnisse nur ein der schönen Farben entkleideter Widerschein dessen, was die auf den ersten Blick gutsituierten Paare in den früheren Geschichten erleben.
Kaputte Verhältnisse
Das Buchcover mit seiner Blütenpracht täuscht ein wenig darüber hinweg, dass es bei Linde Rotta eigentlich immer um die Frage geht, wie Menschen miteinander umgehen, wie sie ihre Liebe, ihre Sehnsucht, ihren Anspruch an Partnerschaft leben, wie sie daran scheitern und und darin versagen.
Wie all der schöne Schein nach außen nur all das verbirgt, was drinnen tatsächlich passiert. Und was gerade die Frauen in all diesen kaputten Verhältnissen aushalten müssen, erdulden, für sich behalten.
Ganz so, als wollte die Autorin Fall um Fall durchexerzieren, wie falsch das bürgerliche Bild von der heilen und heiligen Familie ist, wie darin die Lüge, die Gewalt und der Betrug leben.
Und damit auch die Macht-Ungleichgewichte einer Gesellschaft, die für gelebte Träume und Leidenschaften gar keinen Platz hat. Für unabhängige Frauen, die ihren Anspruch an ehrliche Partnerschaften leben wollen, eigentlich auch nicht.
Bleibt da also nur Sehnsucht? Unerfüllt, wie in der titelgebenden Geschichte „Disteln und Ginster“?
Eine offene Frage. Denn die kann sich einer oder eine nur erfüllen, wenn das Lebensnotwendige vorhanden ist und der Ausbruch aus den eigentlich unaushaltbaren Verhältnissen nicht den Absturz bedeutet. Das schwingt immer mit, wenn Frauen in diesen kleinen, irritierenden Geschichten am Ende schweigen und aushalten.
Oder wenn Willem beim Anblick von Reiseplakaten im Arbeitsamt denkt – oder sogar sagt: „Schon ausreichend essen ist hartes Brot.“
Zuhören und erzählen
Das klingt wie lange her. Wie 1980er Jahre. Aber das ist weder räumlich noch zeitlich wirklich weit weg. Auch wenn es Linde Rotta schafft, mit wenigen akkurat gesetzten Pinselstrichen auch das Zeitkolorit einzufangen, den unverwechselbaren Ton, der die zunehmend verblassenden Jahrzehnte noch einmal spürbar macht.
Mitsamt ihren Gefühlswelten und Vorurteilen, die so vergangen nicht sind. Aber das sieht nur, wer wie diese Autorin aufmerksam hinschaut und zuhört, wenn Menschen sich unterhalten und ihre Traumschlösser erzählen. Manche ein Leben lang. Manche bis zu dem Tag, an dem die Träume sich als Luftnummer erweisen und ihr ganzer schöner Traum in Scherben fällt.
Geschichten, die verstören und aufmerksam machen darauf, wie die Dramen unseres Lebens im Kleinen stattfinden. Und trotzdem alles, was wir sind oder uns so schön ausgemalt haben, infrage stellen. Genau dort, wo die schönen „Brigitte“-Geschichten stattfinden. Die aber selten bis nie mit einem Happyend enden. Mit einer rauschenden Hochzeit schon mal gar nicht.
Linde Rotta Disteln und Ginster Morio Verlag, Heidelberg 2022, 25 Euro.
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