Es gab mal Zeiten, da setzten sich die Leipziger im Sonntagsstaat in den Zug und fuhren in das schöne Böhlen im Leipziger Südraum, wo sonnige Biergärten lockten, blühende Obstbäume, ein idyllisches Pleißeland und vielleicht auch eine gemütliche Wanderung durch die Harth. So lange her ist das noch gar nicht. 100 Jahre. Doch die Landschaft, die Dr. Karl Berger noch in den 1920er Jahren bereiste, findet man heute nicht wieder.

Aus seinem Buch „Das Leipziger Land“, das 1933 erschien, zitiert dieser neue große Band voller Ansichtskarten von Pro Leipzig. In Gaschwitz bestieg Berger Ende der 1920er Jahre den Zug nach Böhlen, um sich noch einmal diese hübsche Gegend anzuschauen. Doch er war Ökonom und augenscheinlich auch bei einigen Finanzentscheidungen dabei, die den Tagebaubetrieb im Leipziger Südraum erst so richtig in Gang brachten. Für den wurden im Grunde ab 1912 die Weichen gestellt.

Berger weiß Bescheid. Auch über die Mächtigkeit der Kohleflöze unter der Erde und das schon seit 1840 nachweisbare Bemühen staatlicher Instanzen, das Land im Gebiet um Borna aufzukaufen, um sich den Zugriff auf die darunterliegende Kohle zu sichern. Obgleich der tatsächliche Kohleabbau in riesigen Tagebauen dann erst am 1. April 1920 begann. Solche Daten kann man sich nicht ausdenken.

Gruß aus Böhlen

Berger weiß auch, wie amerikanische Anleihen halfen, die Kohleindustrie in den 1920er Jahre so richtig in Fahrt zu bringen, insbesondere eine 15-Millionen-Dollar-Anleihe, deren Bestätigung einen „kleinen Kreis der Verhandlungsteilnehmer (…) im Trinkstübchen des Rates der Stadt“ als Kabelnachricht erreichte. Ein Kreis, zu dem Berger ganz offensichtlich auch gehörte. Seine idyllische Beschreibung des Böhlener Landes mischt sich mit unübersehbarer Begeisterung für den größten Tagebau Mitteleuropas, der sich bei Böhlen schon durch die Landschaft frisst.

Logisch, dass ein Band mit 350 Ansichtskartenmotiven aus Böhlen und Umgebung beides zeigt: die Zeit davor, als die Eisenbahn Orte wie Böhlen, Gaschwitz, Rötha und Großdeuben für die erholungsuchenden Leipziger leicht erreichbar machte und zum Aufblühen der Dorfgasthöfe und Bahnhofsgaststätten führte. Was auch das Aufblühen der farbenfrohen Ansichtskarten mit sich brachte, denn wer einmal hier war, nur ein Viertelstündchen entfernt von der großen Stadt, hatte trotzdem Urlaubsgefühle und man schrieb emsig schöne Grüße nach Hause.

„Grüße aus Böhlen, Großdeuben, Gaulis …“ heißt drum das erste Kapitel in diesem Band, das einführt in die Zeit, als Ansichtskarten in Deutschland zum preiswerten und beliebten Kommunikationsmitel wurden. Die Ansichtskarten aus Böhlen bis 1910 zeigen diese Welt, als die Bewohner der Großstadt sich das noch von Landwirtschaft, Obstplantagen und der Pleißeaue geprägte Vorland der Stadt eroberten.

Wer als Wirt etwas auf sich und sein Lokal hielt, ließ sich Ansichtskarten drucken. Und manch ein gut betuchter Städter wie der Unternehmer Heinrich Dodel schuf in dieser als idyllisch empfundenen Landschaft auch eine besondere Attraktion – wie den Fortuna-Park, dem ein ganzes Ansichtskartenkapitel gewidmet ist.

Tagebaufolgelandschaft

Genauso, wie die Harth ein eigenes Kapitel bekommt, das große Waldgebiet, in dem die Leipziger frische Luft tanken konnten und wo sie im Gasthof zur guten Quelle einkehren konnten oder im Gasthof zur Harth oder in der Deutschen Eiche. Die Herausgeber lassen aber die Kartenmotive nicht für sich allein stehen. Denn vieles braucht inzwischen eine Erklärung, fast alles hat sich verändert.

Die Harth wurde vom Bergbau aufgefressen, auch wenn das so lange noch gar nicht zurückliegt. Denn gerodet wurde dieser Wald erst 1950 bis 1970 und vom Tagebau Zwenkau erst ab 1969 abgebaggert. Was heute als Neue Harth da steht, ist Tagebaufolgewald. Von einem Wandergebiet wie damals kann keine Rede mehr sein.

Aber wer so einen Ansichtskartenband macht, kommt natürlich um die Veränderungen nicht herum. Die sind in gewisser Weise ja auch die Stärke dieser Bilderkarten, weil auch das Neue gezeigt wird – mit Stolz, wie man sehen kann. Sei es das Braunkohlen- und Großkraftwerk Böhlen, seien es die neuen Wohnhäuser für die Bergleute, die in Böhlen ein neues Zuhause fanden. Sei es die neue Schule, sei es Friedrich Rötzschkes neue Bäckerei.

Die Menschen, die hier Arbeit fanden, erlebten den Umbruch ja auch als persönlichen Aufstieg. Böhlen konnte sich ein eigenes Schwimmbad leisten, genauso das benachbarte Großdeuben. Leipziger bauten sich ihre Villen in den prosperierenden Orten.

Und dass Johannes Lyon noch auf eine erfolgreiche Zeit als Gastwirt rechnete, zeigt die Postkarte, die er für den 1938 erworbenen Gasthof Zeschwitz drucken ließ. Dabei standen die Bagger schon 1940 an der Ortsgrenze und 1941 mussten die Zeschwitzer ihren Ort verlassen.

Und dabei war das ja noch längst nicht das Ende der riesigen Tagebaue. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde hier ja in staatlicher Regie weitergemacht, gab es aber für die Belegschaft auch Einrichtungen, die es zuvor nicht gegeben hatte. Nun zierten auch die neue Poliklinik der Bergarbeiter und der Kulturpalast der Böhlener Werke die neuen Ansichtskarten. Daneben die Reihen von Bergarbeiterwohnsiedlungen, die in Böhlen aus dem Boden gestampft wurden. Während die Erinnerungen an die Vergangenheit dem Bagger zum Opfer fielen – so auch 1979 das eigentlich unter Denkmalschutz stehende Schloss.

Gründlich veränderte Landschaft

Im Grunde zeigt dieser Band in kompakter Form, wie radikal sich diese Landschaft und vor allem Orte wie Böhlen in den vergangenen 130 Jahren verändert haben. Umschlagkarten zeigen Böhlen und Umgebung 1915 (und damit auch den Staatsforst Harth zwischen Prödel und Zeschwitz) und dieselbe Region im Jahr 2022. Und damit auch die einst von Mäandern geprägte Pleißeaue und den geradezu tristen Kanal, in den sich die verlegte Pleiße seither verwandelt hat.

Die Herausgeber staunen über das reiche Kartenmaterial, auf das sie zugreifen konnten. Aber es gab ja sichtlich viel zu melden aus diesem Stückchen Landschaft, und sei es auch nur ein sonniger Gruß vom Ausflug in die Obstblüte, einem Tag im Fortuna-Park oder einem Stelldichein im Bahnhofsrestaurant von Böhlen. Oder später dann aus einer Industrielandschaft, die wie kaum eine zweite für die rauchende und qualmende Industrie des mitteldeutschen Reviers stand.

Hier wurde ja nicht nur Kohle gepresst, sondern auch Strom produziert und Benzin hergestellt – erst für die deutsche Kriegsmaschinerie, dann für die DDR, die ihre Zweitakter ja auch irgendwie befüllen musste.

Kurz werden auch die verschwundenen Orte Zeschwitz, Pulgar und Stöhna ins Bild gerückt. Was bleibt, ist am Ende die Frage. Denn längst verwandelt sich die Landschaft um Böhlen ja ein weiteres Mal. Selbst das 2000 errichtete Kraftwerk Lippendorf wird in naher Zukunft wieder von Platz verschwinden. Dann werden mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit Windkraftanlagen und Solarparks diese Gegend prägen.

Und vielleicht steigen dann auch wieder mehr Leipziger in Böhlen aus dem Zug, um sich in der nun rußfreien Landschaft zu erholen. Seen anzusteuern oder die letzten Zeugen des Bergbaus zu sehen, die an ein kurzes Kapitel in der Geschichte dieses Landstrichs erinnern – aber eines, das diese Landschaft auf immer gründlich verändert hat.

Gregor Kaufmann, Thomas Nabert „Böhlen“, Pro Leipzig, Leipzig 2022, 21 Euro.

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