Kann man das Patriarchat wieder verlernen? Natürlich kann man das. Aber das funktioniert nur, wenn man sich dessen überhaupt bewusst wird, wie es alle Lebensbereiche durchdringt, wie es uns schon in der Kindheit prägt und wie es Politik macht. Da hilft keine Ausrede, wir hätten doch gar kein Patriarchat mehr. Doch, haben wir. Aber das sieht man meist nur aus der Perspektive derer, die darunter leiden.

Weshalb sich die drei Herausgeberinnen Lisa Jaspers, Naomi Ryland und Silvie Horch nicht allein daran gemacht haben, ein Buch darüber zu schreiben, wie man die Denkmuster des Patriarchats wieder loswird, sondern lauter Autorinnen eingeladen haben, die die Zumutungen des Patriarchats aus ihrem eigenen Erleben und Arbeiten kennen.

Jede hat sich ein anderes Themenfeld vorgenommen, in dem das Patriarchat überhaupt erst einmal wahrgenommen werden muss, um zu verstehen, wie es wirkt. Es gibt diverse Definitionen, die man auf Wikipedia nachlesen kann.

Was die Sache scheinbar sehr unübersichtlich macht. Bis hin zu dem Quatsch, dass das Patriarchat eine Entwicklungsetappe sei, die dem Matriarchat gefolgt sei. Nur lässt sich auch archäologisch nirgendwo ein solches Matriarchat nachweisen.

Die „Männerherrschaft“ folgt nicht auf eine scheinbar paradiesische Frauenherrschaft. Das Problem daran ist die falsche Projektion in die Vergangenheit, die den Zustand heutiger Ausübung von Macht und Herrschaft einfach auf eine imaginierte Herrschaft der Frauen rastert. Ganz so, als wäre das, was wir seit gut 9.000 oder 11.000 Jahren als Klassengesellschaften erleben, der Normalzustand für menschliches Zusammenleben.

Macht, Besitz, Gewalt

Das ist es aber auch nicht. Praktisch alle Zivilisationen, die seit der neolithischen Revolution entstanden sind (die indigenen Gesellschaften kann und muss man hier herausnehmen), waren gewalttätige Zivilisationen, geprägt von Herrschaft, Machtausübung und Besitz.

Solange Boden kein Wert war, den man verteidigen, erobern und verkaufen konnte, hatte es keinen Sinn. Brauchte auch die Frage nicht geklärt werden, wem der Boden gehört, wer ihn erbt, wer mehr davon besitzen darf und wer gar nichts.

Und das hat Folgen bis heute. Denn entstanden ist daraus eine Welt hierarchischer Vorstellungen, die vor allem Männern Macht, Stärke, Herrschaft und Besitz zuschreibt. Mit fatalen Folgen. Denn auch alle scheinbar unentwirrbaren Probleme unserer Gegenwart haben mit diesem verinnerlichten Denken über Macht und Hierarchie zu tun.

Das wird deutlicher in den Beiträgen weiter hinten im Buch, wenn Lisa Jaspers über den Kapitalismus als patriarchalisches Gebilde schreibt, Kristina Lunz über das, was wir als Politik verstehen, als wäre es eine Domäne von Experten und besonders machtbewussten Männern, die mit dem Privaten nichts zu tun hat.

Oder was passiert, wenn die ach so erfolgreichen Männer nach Hause kommen und sich dann erst mal von ihrer Frau verwöhnen lassen, die derweil die gesamte Care-Arbeit geleistet hat? Unbezahlt, versteht sich.

Herrschaftsstrukturen bestimmen nun einmal auch, welche Arbeit als besonders wertvoll betrachtet und entsprechend hoch bezahlt wird, und welche abgewertet, schlecht oder gar nicht bezahlt wird.

Auf einmal ist man mittendrin in den aufklaffenden Ungerechtigkeiten einer Gesellschaft, die dieses Denken über den Wert von Arbeit verinnerlicht hat und für normal hält. Die zwar auch gern mal über Gleichberechtigung schwatzt, aber 30 Jahre später süffisant feststellt, dass da wohl doch wieder nichts draus geworden ist.

Warum nur?

Unsichtbare Privilegien

Isa Bosch betrachtet die ganze Sache unter der Überschrift „Unlearn Geld“ sogar aus einer ganz ungewöhnlichen Perspektive – der einer reichen Erbin, die sich über Geld und Armut niemals Gedanken machen musste und sich ganz offensichtlich quält damit, sich ihrer eigenen Privilegien überhaupt erst bewusst zu werden.

Ein sehr wichtiger Beitrag im Buch, denn er macht deutlich, warum das Aufbegehren und der Protest derer, die permanent diskriminiert und ausgegrenzt werden, so wenig erreicht hat: All jene, die ganz selbstverständlich von den Privilegien des Patriarchats profitieren, verstehen schlicht nicht, wie diese Diskriminierung entsteht und funktioniert und was sie mit ihren eigenen „Selbstverständlichkeiten“ zu tun hat.

Und wie sie fest in den bestehenden Strukturen verankert ist, im Denken und in den Vorstellungen vom Normalsein sowieso.

Weshalb auch der Beitrag von Olaolu Fajembola und Tebogo Nimindé über „Unlearn Rassismus“ im Buch nicht fehlen darf. Der übrigens ganz sanft den Blick darauf richtet, dass wir sogar einen sehr fein abgestuften Rassismus im Kopf haben, der etwa hellere Haut als deutlich vertrauenswürdiger interpretiert als dunkle Haut.

Der Rassismus gehört unlösbar zum Repertoire des Patriarchats, genauso wie der Kolonialismus und die Identitätsvorstellungen, über die Madelaine Alizadeh schreibt.

Wir wachsen in die Rollenmuster einer von Identitätszuweisungen beherrschten Gesellschaft hinein. „Wie jedes System ist das Patriarchat darauf ausgelegt, sich selbst zu erhalten“, schreibt Alizadeh.

„Es möchte überleben, es möchte sich fortpflanzen, es möchte sich ausbreiten und bestehen. Dies beinhaltet, dass wir unsere Identitäten weiterhin innerhalb der vom Patriarchat vorgegebenen Kategorien und Strukturen verorten, dass unsere eigene Identität nie losgelöst, nie frei gewählt, nie unvoreingenommen sein kann.“

Deutungshoheit und Erziehungsfragen

Weshalb die Beiträge, die sich direkt oder indirekt mit Identitäten beschäftigen, den ersten Teil des Buches dominieren, wenn sich die Autorinnen mit Sprache, Gender, Liebe, Sex, Familie, Rassismus und Identität beschäftigen. Natürlich aus Betroffenheit.

Wer sein Leben lang erleben muss, dass ihm oder ihr von außen immerfort eine Rolle und eine Stellung zugewiesen wird, die mit dem eigenen Empfinden, den eigenen Wünschen und Vorstellungen überhaupt nicht kompatibel ist, der merkt, wie Patriarchat funktioniert und seine Deutungs- und Machthoheiten durchsetzt.

Natürlich ist das eine Erziehungsfrage. Was nicht nur deutlich wird, wenn Teresa Bücker das Konstrukt „Familie“ versucht zu demontieren, in dem nun einmal ein klassisches patriarchalisches (Klein-)Familienmodell steckt, das vor allem für eins notwendig ist: Besitzsicherung in jeder Hinsicht. Auch in der Sicherung des Besitzes an der Frau.

Die Rollenzuschreibungen, mit denen Frauen zu kämpfen haben, kommen genau aus dieser Quelle. Genauso wie ihr systematischer Karriereverzicht, ihre Fesselung an Heim, Herd und Kinder, der Gender Pay Gap und das, was bislang immer so leichtfertig als „häusliche Gewalt“ verniedlicht wurde.

Obwohl genau hier die Gewalttätigkeit patriarchaler Strukturen sichtbar wird. Und die Überforderung der Männer mit ihrer Rolle in einer Gesellschaft, in der sie von klein auf dazu erzogen werden, ihre Gefühle, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu unterdrücken.

Das ist nicht so ganz beiläufig, auch wenn es scheinbar keine große Rolle spielt in diesem Buch, in dem weiße cis-Männer durchaus als die eigentlichen Profiteure der patriarchalischen Gesellschaft ausgemacht werden. Was ja letztlich auch zutrifft, wenn auch nur für eine Minderheit.

Denn natürlich haben nicht alle cis-Männer Macht, sind nicht alle weißen Männer reich. Einige der Autorinnen gehen sehr detailliert darauf ein, wie säuberlich strukturiert die Hierarchien und Privilegien in unserer Gesellschaft sind. Und wie sehr auch jene an die Berechtigung dieser Hierarchien glauben, die davon gar nicht oder nur partiell profitieren.

Das Patriarchat in den Köpfen

Es sitzt in den Köpfen, so wie das falsche Denken über Karriere und Erfolg. In einer Gesellschaft, in der die Gleichberechtigung aller Gesellschaftsmitglieder nicht akzeptiert wird, obwohl sie im Grundgesetz steht, suchen viele eigentlich systemisch Benachteiligte dennoch ihre Anerkennung oder so etwas wie Prestige, indem sie nach anderen Menschen Ausschau halten, die noch weniger Privilegien haben und noch stärker unter Ausbeutung und Ausgrenzung leiden.

Das steckt so tief in den Köpfen, dass die Betroffenen nicht einmal merken, wie sehr sie damit ihre eigenen Ängste und Einsamkeiten zu kompensieren versuchen und lieber auf ihre dominante Rolle als weiße cis-Männer und -Frauen pochen, statt die Strukturen zu hinterfragen und die Gründe für das Gefühl, nicht dazuzugehören und immerfort benachteiligt zu werden.

Doch wir werden alle in den Machtvorstellungen des Patriarchats erzogen, werden daran gewöhnt, dass wir uns ein- und unterordnen müssen, wo also „unser Platz“ ist in der Hackordnung. Und wie wir zu funktionieren haben, wenn uns Macht gegeben wird.

Wie die gängigen Vorstellungen von Machtausübung tatsächlich immer wieder scheitern, erleben viele in ihren destruktiven Familien, in denen der romantische Traum vom Glück zu zweit oder zu dritt oder zu viert auf einmal in Aggression und Gewalt endet.

Andere erleben es in den Unternehmen, in denen sie arbeiten, in Bürokratien und anderen Hierarchien. Oft mit (männlichen) Chefs, die sich mit der Einsetzung in ihr Amt auf einmal in Tyrannen und aggressive Befehlsgeber verwandeln.

Ein Thema, das Naomi Ryland sehr akribisch erforscht in „Unlearn Macht“, in dem es auch um ihren Versuch geht, im eigenen Unternehmen Macht abzugeben. Denn dann stellt sich nicht nur für die Angestellten schnell heraus: Das haben sie nicht gelernt.

Das passt nämlich nicht zu den patriarchalischen Vorstellungen von Macht und Führung, die an unseren Business-Schulen nach wie vor gelehrt werden. Auch das ist ein Grund dafür, warum der Kapitalismus so lernunfähig ist und so viele Beispiele eklatant falscher Unternehmensentscheidungen vorzeigen kann.

Elitedenken, Leistungsdruck und Hierachien

Denn indem der Kapitalismus die Welt des Privaten auch in der Politik völlig outgesourct hat, fehlen ihm genau die Aspekte, die es zu einem sorgenden und sorgsamen Umgang mit der Welt und mit den Menschen braucht.

Weshalb er sein Wohlstandsversprechen für alle auch nicht erfüllen kann, denn festgehämmert steckt in den Köpfen der (männlichen) Entscheider die Vorstellung, sie hätten sich Position, Macht und Reichtum „verdient“, das stünde ihnen zu. Egoismus sei die eigentliche Triebkraft einer erfolgreichen Gesellschaft.

Und genau so werden die Kinder eben auch erzogen. Worauf Margret Rasfeld in ihrem Essay „Unlearn Bildung“ eingeht. Unsere Schulen vermitteln Elitedenken, Leistungsdruck und Hierachien. Sie sind selbst hierarchisch aufgebaut.

„Sie Schule war nicht dafür gedacht, Menschen im Sinne einer Selbstermächtigung zu bilden“, schreibt Rasfeld, die selbst Lehrerin ist, das Dilemma aus jahrzehntelanger Arbeit also nur zu gut kennt.

„Ihnen sollte von klein auf beigebracht werden, wie sie zu funktionieren haben. (…) So entstand in Schulen ein sehr hierarchisches, patriarchales oder – um eine Formulierung der US-amerikanischen Kulturhistorikerin, Soziologin und Anwältin Riane Tennenhaus Eisler zu verwenden – dominatorisches System, fußend auf einer Top-Down-Hierarchie, in der Überordnung und Unterordnung die Regel sind.“

Und in der Kinder scheitern, die diese Zumutungen nicht akzeptieren. Oder die einfach aus dem Raster fallen und von den Lehrkräften sogar ganz unbewusst aussortiert werden, abgeschoben in „niedere“ Schulformen, selbst dann, wenn sie von der Leistung her genauso gut sind wie die bevorteilten Kinder aus weißen Mittelstandsfamilien.

Das Buch macht – mit ganz verschiedenen Ansätzen – sehr bewusst, wie tief das Macht- und Hierarchiedenken des Patriarchats in unserer Gesellschaft und in unserem Alltag steckt. Und wie es nicht nur die Menschen unglücklich macht, die Diskriminierung und Rassismus erleben, sondern auch jene, die glauben, mehr oder weniger von den Bedingungen des Patriarchats zu profitieren. Geradeso, als wäre ein bisschen mehr Akzeptanz so eine Art Belohnung fürs Bravsein und Angepasstsein.

Buckeln und treten

Doch tatsächlich – das arbeitet Naomi Ryland sauber heraus – steckt hinter dem, was wir als Macht und „Führungsstärke“ erleben und zumeist auch noch honorieren, tatsächlich Ohnmacht. Dysfunktionalität sowieso, denn die Fixierung auf den Macher, den Boss, den „Führungsstarken“ sorgt dafür, dass Kreativität und Solidarität in der untergeordneten Gruppe lahmgelegt werden, Menschen mehr Energie auf das Gegeneinander, die Konkurrenz und das Strampeln auf der Karriereleiter verwenden als darauf, Probleme gemeinsam zu lösen.

Und für alle zu lösen. Denn wer das neoliberale Leistungsträgerdenken verinnerlicht hat, der glaubt nicht nur, dass ihm die ganze Torte zusteht, der ist auch fest der Überzeugung, dass für die Putzfrauen, Pflegekräfte und das Küchenpersonal nichts übrig bleiben sollte. Dass ihr Anteil am Erfolg nichts oder weniger wert ist.

Womit sich der Bogen schließt. Denn mit dem Patriarchat kam auch die Bewertung – nicht nur von Grund und Boden (der der Allgemeinheit entzogen wurde), sondern auch von Menschen. Auch das steckt in unseren Köpfen und wird auch früh vermittelt.

Denn diese Ab- und Aufwertung kennen kleine Kinder noch nicht. Die lernen sie erst von ihren Eltern, die sehr früh und oft mit Nachdruck vermitteln, was ihr Status ist bzw. sein soll. Und dass man in dieser Gesellschaft nichts wird, wenn man nicht die Ellenbogen benutzt, nach oben buckelt und nach unten tritt.

Das Buch kommt nicht ganz zufällig jetzt. Denn in all den in den Essays thematisierten Bereichen wird inzwischen immer stärker sicht- und erlebbar, dass die Strukturen des Patriarchats an ihre Grenzen gekommen sind, dass sie so für immer weniger Menschen noch funktionieren und stattdessen nur noch Frust, Missvergnügen, Aggression und Verzweiflung erzeugen.

Bis in „die kleinste Zelle der Gesellschaft“ hinein, die nun einmal zu klein ist, um Menschen tatsächlich ein Leben lang Geborgenheit, Sicherheit und Akzeptanz zu verschaffen.

Macht und Ohn-Macht

Sicherlich hätten auch noch ein paar Männer gefragt werden können, ob sie einen Beitrag schreiben. Denn tatsächlich leiden sie genauso unter den Bedingungen des Patriarchats, müssen in „harte“ Rollen schlüpfen, die auch sie verarmen lassen – seelisch genauso wie in der Entfaltung ihrer Fähigkeiten.

In ihrer mitmenschlichen Interaktion sowieso. Was recht anschaulich wird, wenn Naomi Ryland die unterschiedlichen „Macht“-Konzepte von Brené Brown erläutert. Das Patriarchat steckt fest in den jahrtausendealten Regeln von „Macht über“ jemanden haben.

Während die Macht zu etwas (power to), mit der sich das Potenzial der Menschen erst entfalten kann, dabei immer unterdrückt und ignoriert wird, genauso wie die innere Macht (das Erkennen der eigenen Stärken und Grenzen) und die Macht mit (power with), mit der eine echte Kooperation von Menschen erst möglich wird.

Man ahnt, was uns allen gemeinsam möglich wäre, wenn wir es schaffen würden, die deprimierenden Strukturen des Patriarchats aufzulösen. Wozu man sie überhaupt erst einmal erkennen muss, was natürlich ein nicht ganz leichter Schritt ist, wenn man von Kind auf genau in diesen Strukturen aufgewachsen ist und sie für normal hält.

Das Buch hilft dabei, diese Strukturen zu erkennen. Man kann es auch von hinten nach vorn lesen. Dann wird noch eher verständlich, wie tief verankert diese Strukturen sind. Und dass es nicht nur um Patriarchen geht und Männer, die gern welche sein wollen.

Lisa Jaspers; Naomi Ryland; Silvie Horch Unlearn Patriarchy Ullstein Buchverlage, Berlin 2022, 22,99 Euro.

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Es gibt 2 Kommentare

Englisch ist nicht nur auf “Transpis” nice. Und “häusliche Gewalt” die blanke Verniedlichung. Warum eigentlich?

Diese englischsprachigen Titel tragen dazu bei, dass solche Bücher und Essays in genau der Blase bleiben, aus der heraus sie geschrieben werden.

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