Wenn man den Verleger, Kolumnisten, den politischen Journalisten Jakob Augstein (*1967) trifft, mit ihm sprechen kann auf einer Schulaulabühne, dann kam es mir im Vorfeld und der Vorbereitung auf das Gespräch darauf an, meine „Schützlinge“, die Schülerinnen und Schüler im politisch-bildenden Blick zu haben, ihnen im Gespräch mit dem prominenten Gast in Zeiten von Krieg, Krisen und Klimagefahren so etwas wie tatkräftigen Optimismus zu vermitteln.
Nein, für Mut-Machen sei er eher weniger geeignet, ließ mich Augstein im Vorgespräch wissen. Es sollte doch bitte ein etwas „weniger ambitionierter Rahmen“ sein. Wenn es um die „Reformierbarkeit der Welt“ (Augstein) gehe, dann sollte ich doch lieber den Journalisten X oder Y von der „Zeit“ befragen …
Optimismus Phase 1? Ein erster Rohrkrepierer. Das kann ja heiter werden, dachte ich mir, begann im Kopf das Gespräch mit Augstein aus dem Planungskalender bereits zu streichen. Also neuer Anlauf.
Wenn gar kein Ausweg mehr in Sichtweite scheint – mit Schiller geht immer etwas, dachte ich mir. Fündig wird man bei ihm mit ziemlicher Sicherheit, wenn es sich um kulturanthropologische Fragen zur Erziehung des Menschen im Zuge der „Zeitenwende“ mit dem Ausbruch der Französischen Revolution 1789 handelt.
Schiller selbst wandelte sich vom „Ehrenbürger der Französischen Republik“ (1792) zu einem der schärfsten Kritiker der Jakobinerdiktatur gegen verdächtige Revolutionsfeinde (an seinen besten Freund Körner am 08.02.1793: „Ich kann seit 14 Tagen keine französische Zeitung mehr lesen, so ekeln diese Schindersknechte mich an.“).
Also, der Weimarer Hofrat war nach dem demokratischen Beginn und darauffolgenden Revolutionsfuror (wie manch anderer seiner Zeit) auch zum Kulturpessimisten geworden, was den allgemeinen Menschheitsfortschritt betraf. Und so war es nicht schwer, die passende Überschrift zum bevorstehenden Augstein-Treffen in den „Ästhetischen Briefen“ bei Schiller zu finden:
„Das Gebäude des Naturstaates wankt, seine mürben Fundamente weichen, und eine physische Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren und wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen. Vergebliche Hoffnung! Die moralische Möglichkeit fehlt, und der freigebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht.“
Optimismus Phase 2? Selbst historisch schwer zu begründen, aber passend als abgewandelte, thematische Überschrift für ein Treffen im Schiller-Gymnasium mit Jakob Augstein: „Die Freiheit findet ein unempfängliches Geschlecht.“ Freiheit, eines der meist missbrauchten Worte, wie mir sein Ex-Kollege und Freitag-Mitbegründer Friedrich Schorlemmer in einem Gespräch 2018 erzählte.
Mit Augstein wollte ich im Gespräch die ganz großen „Fenster“ aufmachen. Wie ist mehr Freiheit in einer immer repressiveren Weltinnen- und ursächlich aggressiveren Außenpolitik im Ressourcenverteilungskampf denn überhaupt zu bewahren?
Den sichtbaren Abbau von Sozialen Leistungen und Leistungsbereitschaft aufzuhalten, so wie die Zunahme sozialdarwinistisch-segregierender Gesellschaftsmodelle und mit gewählten rechtskonservativen und profaschistischen Regierungen in Europa … Nationalismus und Pseudo-Moralismus als Abwehrwaffen gegen Weltmarktkonkurrenten? usw. usf. …
Wie können junge Menschen, die sich verständlicherweise um die Zukunft des Planeten sorgen, weil sie noch einige Jahrzehnte länger auf der Erde zubringen wollen, sich kraftvolle, motivierte Kreativität bewahren, dabei prosozial denken und handeln lernen, ohne auf rechtspopulistische „Alternativen“ oder grüngewaschenen Neoliberalismus setzen zu müssen?
Das Treffen mit ihm vor dem Auditorium in der Aula des Friedrich-Schiller-Gymnasiums ließ dann doch eher kleine Fensterchen offen. Denn genannte Problemvielfalt fiel rasch dem Oberthema „Ukraine-Krieg“ zum Opfer.
Auffallend, dass auch Intellektuelle wie Augstein keine klaren, schnellen Antworten auf schwierige weltpolitische Konflikte haben, sich daher oft ins ambivalente „double thinking“ zurückziehen. (Kann man allerdings gar nicht ernsthaft genug die Frage stellen, ob hier Optimismus und Erwartungen nicht von vornherein zu hochgeschraubt waren.)
Fast zwei Stunden Diskussion mit einem klugen politikanalytischen Kopf, wie Augstein ihn hat, brachten mir und den Jugendlichen keine weltverändernden Erkenntnisse, im besten Fall aber erhellende Perspektiven.
Dabei kam mir zunächst gar nicht in den Sinn, ihn noch nach seinem Roman „Strömung“ zu fragen, der zu Beginn des Jahres 2022 beim Aufbau-Verlag erschien. In Vorbereitung der letzten „Schillerakademie“ war es allerdings geradezu ein Muss, auch die schriftstellerischen „Pionierschritte“ des Wahl-Berliners Augstein zu studieren, um ihm Fragen zur Intention zu stellen.
Ungewohnt, von einem Menschen, der klug und viel redet, etwas langepisch Verfasstes zu lesen. Ich konnte mir schwer vorstellen, dass das Politische in Augsteins Welt keine Rolle spielen sollte. Und so ist es auch. Eine degenerierte Politikerseele (Franz Xaver Misslinger), Aufsteiger in der FDP, während in Berlin die Große Koalition 2016 noch regierte, führt uns in die Welt des großbürgerlichen Politikgeschäfts und mit ihm in die Abgründe einer falschen, karrierefixierten Vernunft.
Grotesk, wie Misslinger (Selbstbeschreibung: „Bei mir hört das Scheitern mit dem Namen auf.“) die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung zu überspielen versucht, stets dabei seine politisierende Kommunikation im Mainstreamformat mit Freiheit im Denken verwechselt. Seine Ehe ist zerrüttet, seine Tochter ihm entfremdet; so sucht er Ablenkung an falscher Stelle und Konzentration an falschen Orten.
Augstein gelingt es, wenn man sich seine detailreich-beschreibenden Ausschweifungen der „Misslinger-Welt“ durchliest, plastische Bilder wie in einem Fernsehspiel zu erzeugen. Dabei stellt sich die Frage, ob unsere Volksvertreter/-innen Produkt oder Ursache einer „marktförmigen Demokratie“ (geworden) sind, wenn man sie in ihren pressetauglichen Statements hört.
Oder sie, wie Protagonist Misslinger, auch im Privaten versatzstückartig verwendet, gar nicht mehr anders zu können scheint, als auf ernsthafte gesellschaftliche Fragen mit hohlem Vernunft- oder Moralpathos zu antworten.
Seine 16-jährige Tochter Luise ist da offenbar ein ganzes Ende weiter als er: „Du verstehst kein Wort von dem, was ich sage, oder? Es ist doch irre. Es wird immer mehr produziert. Immer mehr Waren, immer mehr zu kaufen. Das soll doch eigentlich den Sinn haben, das Leben der Menschen besser zu machen, freier zu machen, oder?
Tatsächlich aber arbeiten die Leute immer mehr, unterwerfen sich immer mehr der Arbeit. Sie verlieren Freiheit, um ihre Freiheit zu genießen, das verstehe ich nicht. Es ist doch komisch, dass der Zweck unseres Lebens darin bestehen soll, uns das Leben zu verdienen – anstatt dass das Leben selbst der Zweck ist, oder? […] Die Waren, das ganze Zeug, das macht die Menschen unfrei.
Und außerdem zerstört es die Umwelt, den Planeten, das Klima. Was Du Freiheit nennst, macht uns kaputt.“ „Ich habe offenbar mehr Vertrauen in den Menschen als Du“, sagt Misslinger, „in seine Mündigkeit und seine Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.“
Eine eigenartige Strömung, diese Politikerseelen.
Jakob Augstein Strömung Aufbau-Verlag Berlin 2022, 301 S., 22 Euro.
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