Hannah Arendt wird die Aussage zugeschrieben „Politische Fragen sind viel zu ernst, nur um sie Politikern zu überlassen.“ Sie bauen auf, diese Worte, fordern zu gesellschaftlicher Teilnahme, aktivem, demokratiefördernden Handeln auf – und sind dennoch auch Zeichen und Warnsignal, nicht allzu blind der einen oder anderen Partei und Herrschaftselite eines Landes zu vertrauen. Grundsätzlich kritisch fragen zu können – in bester aufklärerischer Tradition – muss gesellschaftlicher Fortschritt sein und bleiben – auch und gerade wenn man sich im neuen „Systemwettbewerb“ Demokratie versus Autokratie befindet.
„Sich Freiheit wie das Leben zu verdienen – es täglich zu erobern“, schreibt der alte Geheimrat Goethe seinem zweiten Faust kurz vor dessen Ende zu. Und in der Tat befinden wir uns an einem Scheideweg zwischen Freiheit und hingenommenen Diktaten, Ordnungsvorstellungen, die alle auf ein Ziel hinauszulaufen scheinen: Wir müssen umdenken, verzichten, weil wir zu scheitern drohen.
Krisen und ihre Erscheinungen der letzten Jahrzehnte nach dem überoptimistischen „Millennium“ und spätestens nach dem verhängnisvollen 11. September 2001 gehören zum festen politisch-medialen und sozialen Alltag. Ja, beinahe so, als sollte man sich daran gewöhnen.
Diese Erschütterungen erhalten abwechselnd pessimistische Zuschreibungen wie endemisch, pandemisch, ökologisch … und kriegerisch. Nach dem „Ende der Geschichte“ hat die Welt nun mit einer neuen Epoche begonnen, in der der Gewinner der letzten Runde seinen Sieg wiederholen muss.
Dabei ist kapitalistisch-expansives Wachstumswirtschaften – real existierend – in den letzten Jahrzehnten immer globaler – aber deswegen nicht friedlicher geworden.
Gefährlicher auch für die westlichen Demokratien selbst, die, so Susanne Schröter rhetorisch fragend „global gescheitert“ sind. Dabei attestiert die Hochschullehrerin und liberale Demokratin „dem Westen“ (diesen Topos verwendet Schröter selbst metaphorisch) vor allem eine Identitätskrise.
Diese äußere sich nach Ansicht der promovierten Ethnologin und Direktorin im Cornelia Goethe Centrum für Geschlechterforschung an der Universität Frankfurt a. M. vor allem in einer „kruden Mischung aus Hybris und Selbsthass, die gleichermaßen zum Aufstieg von Diktatoren wie zur Eliminierung fundamentaler demokratischer Errungenschaften führt.“
So die Autorin in ihrer Einleitung – ein pessimistischer und zugleich düsterer Ausblick in die Zukunft. Und ein Tonfall, der bestimmend bleibt in der 240 Seiten umfassenden Analyse westlicher Werteorientierung und realer Schwäche in der Verbreitung vorgeblich liberaler Werte.
Da man sich im weltweiten Wettbewerb der Systeme befindet, müssten sich demokratische Legitimation mit liberaler Lebensvielfalt tolerant verbinden, um „eine Chance gegen Autokraten und illiberale Strömungen im Inneren“ zu haben. Schröter sieht klar den „Unterbau“ einer neu geordneten, weltweiten Geostrategie der „global player“; wirft der handelnden deutschen Politik der letzten zwei Jahrzehnte „Doppelmoral“ im Umgang mit fremden, undemokratischen Regimes vor.
Kritisiert in diesem Zusammenhang die „Kooperationsbemühungen“ des grünen Wirtschaftsministers Habeck, der für neue „Energiepartnerschaften“ werbe, mit „allerdings ausnahmslos islamistischen Diktaturen“, die durch „endemische Menschenrechtsverletzungen und eine extrem patriarchalische normative Ordnung auffallen.“
Ein Beispiel von vielen „Schieflagen“, welche die moralische Integrität westlicher Demokratien erschüttern und auf Unverständnis breiter Bevölkerungsschichten stoßen. Nicht nur eine Frage der Vermittlung, sondern wohl auch (ökonomisch) systembedingt, möchte man ergänzen.
Schröter setzt sich in diesen Zusammenhängen mit den Wechselwirkungen von Außen- und Innenpolitik auseinander. Globalisierung und Migrationsbewegungen, Entstehung von Parallelgesellschaften und das verstärkte Aufkommen rechtspopulistischer Bewegungen führe nicht zur zunehmenden Attraktivität demokratischer Staatsmodelle, sondern scheinen ebendiese in ihrer Legitimation und strukturellen Überlegenheit tendenziell infrage zu stellen.
Dazu kommt die Erinnerung an interventionistische Versuche auch vonseiten der USA und ihrer Verbündeten, wenn zwar demokratisch gewählte, aber nicht genehme Regierungen, die den Machthabern in Washington nicht in den geopolitischen „Kram“ passten, mit militärischen Mitteln gestürzt wurden.
Zur ganzen Wahrheit sollten allerdings – so Schröter im gleichen Atemzug – die Verbrechen erwähnt gehören, die im Namen des Kommunismus und im Zuge des „Kalten Krieges“ verübt wurden – gern von der politischen Linken heruntergespielt – und von ihr nicht als Zeichen einer wenig fortschrittlichen Systemauseinandersetzung gedeutet werden und wurden. An dieser Stelle sei die Frage erlaubt: Welches System ist es denn nun, welches einen Fortschrittsentwurf für die Zukunft der Welt bereithält?
Autorin Schröter sieht die Antwort eindeutig bei uns selbst, in den „freiheitlichen“ westlichen Gesellschaften liegen. „Wer die Freiheit im Innern nicht achtet, hat nach außen nichts zu verteidigen.“ So lautet ihre „conditio sine qua non“. Besonders interessant schien mir dabei eines der vielen Kapitel ihres Buches zu sein.
„Geopolitische Machtspiele“ untersucht die Wechselwirkung zwischen rhetorisch formuliertem Anspruch auf einen Führungsplatz im „systemischen Kampf zwischen Demokratien und Autokratien“, sieht in den gegenwärtigen „Irrungen und Wirrungen“ deutscher Politik aber eine „Kontinuität des Ausblendens unbequemer Realitäten“, was sich beispielhaft an der jahrelangen „Duldung der Machenschaften des russischen Präsidenten Putin“ zeige.
Schröter plädiert dabei für einen Schritt weiter als in der Dichotomie der Vorwürfe aus der Zeit des „Kalten Krieges“ stehenzubleiben, nur die Praktizierung liberaler und meinungsoffener und erlaubter Diskurse böte die Möglichkeit, die Überlegenheit westlicher Gesellschaften zu demonstrieren.
Von der neu aufgekommenen sozialen Frage dürfte in diesem Zusammenhang nicht geschwiegen werden, möchte man der Autorin nach ihrer schonungslosen und kritischen Bestandsaufnahme europäisch-transatlantischer Politik hinterherrufen. Aber vielleicht gibt es ja noch eine Fortsetzung nach dem „globalen Scheitern“. Wichtig wäre es.
Susanne Schröter Global gescheitert? Verlag Herder 2022, 240 S., 20 Euro.
„Überm Schreibtisch links – Die Logik des Scheiterns“ erschien erstmals am 30. September 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 106 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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