… und in der Vergangenheit, könnte man ergänzen, denn was der Islamwissenschaftler Mohamed Turki hier aufblättert, sind im Grunde über 1.000 Jahre Auseinandersetzung arabischer Philosophen und Denker mit einer Urfrage, die auch das Christentum kennt bzw. kannte. Denn anders als die islamische Welt hat das christlich geprägte Europa geschafft, die Vormundschaft der Religion in Staat und Wissenschaft abzustreifen.
Und das sogar mit einem starken Impuls aus dem Orient. Denn es waren arabische und islamische Denker, die den Europäern im Hochmittelalter wieder Zugang zur antiken, vor allem griechischem Philosophie ermöglichten, indem sie sich ausgiebig mit Aristoteles und Platon beschäftigten.
Namen wie Averroes, Abubacer oder Avicenna hatten einen Ruf bei den Gelehrten Europas und beeinflussten dort ebenso die Diskussion über das Spannungsverhältnis zwischen Glaube und Vernunft, Religion und Rationalität. Und natürlich über die Frage, wie der Mensch die Welt erkennen kann.
Eine Diskussion, die in der arabischen Welt damals sehr offen und pluralistisch geführt wurde, auch wenn es auch damals schon die Dogmatiker gab, die nur den Koran bzw. dessen engherzige Auslegung als einzig wahre Quelle der Erkenntnis behaupteten, ganz ähnlich, wie europäische Theologen die Bibel zum Maßstab aller Erkenntnis erklärten und jede Abweichung mit Verdammung und Exkommunizierung verfolgten.
Es hat auch in Europa blutige Jahrhunderte gebraucht, bis Reformation, Humanismus und Aufklärung die Grundlagen dafür schufen, dass die Kirche ihre alte Machtposition verlor und die Säkularisierung auch den Weg für die zunehmende Umsetzung der Menschenrechte ermöglichte.
Verklärte Vergangenheit
Wenn europäische Denker, Politiker und Journalisten heute auf die arabische Welt schauen, dann haben sie diesen Hintergrund und damit ein Verständnis vom rationalen Umgang mit Wissenschaft, Politik und Meinungsfreiheit, das es so in der arabischen Welt scheinbar nicht gibt.
Dass dem nicht ganz so ist, erörtert Mohamed Turki in diesem Buch, in dem er nicht nur die sehr offenen Diskussionen des 11. und 12. Jahrhunderts oder auch die des 15. Jahrhunderts anführt, in denen Denker wie Ibn Khaldun auch das fehlende Geschichtsverständnis im Islam kritisierten, sondern besonders auf Autoren aus der arabischen Welt eingeht, die schon im 19. Jahrhundert versuchten, die Denkströmungen der europäischen Aufklärung aufzunehmen und damit die Erstarrung im Islam aufzulösen.
Doch wirklich aufgelöst haben auch diese Ansätze das Dilemma nicht. Je tiefer man mit Turki eintaucht, auch in die Debatten von Autoren des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, umso deutlicher wird, dass ein immer neuer Versuch, den Islam mit rationalen Ansätzen zu verknüpfen oder ihn gar zur Grundlage eines freien und unabhängigen Denkens zu machen, gescheitert ist.
Und das trotz der durchaus deutlichen Hinweise im Koran auch auf Themen wie Freiheit und Toleranz. Am Koran selbst liegt es ja nicht, dass die islamische Welt spätestens mit Beginn der europäischen Renaissance den Anschluss verpasst hat.
Gerade die von Turki analysierte Kritik Ibn Khalduns am fehlenden Verständnis für historische Prozesse hat bis heute nichts an ihrer Gültigkeit verloren. Gerade an dieser Stelle wird sichtbar, wie sehr sich das europäische Selbstverständnis mit dem Ausgang des Mittelalters zu verändern begann, als auch die Geschichtswissenschaft Teil der rationalen Wissenschaften wurde.
Wer anhand mit Fakten belegbarer geschichtlicher Veränderungen erkennt, dass die permanente Veränderung zur menschlichen Geschichte gehört, der lässt sich nicht mehr darauf festnageln, dass nur das gilt, was in einem Glaubenswerk wie der Bibel oder eben dem Koran niedergeschrieben ist.
Falsche Feindbilder
Abgesehen von Fundamentalisten und Kreationisten, die es auch in der westlichen Welt gibt. Aber sie bestimmen nicht die philosophischen Debatten und auch nicht das Selbstverständnis der meisten Europäer, für die die eigene Geschichtlichkeit auch Teil ihrer Identität geworden ist. Was eine Menge Missverständnisse mit sich bringt, wenn westliche Autoren auf die islamische Welt schauen.
Missverständnisse mit Folgen, wie ja Samuel Huntingtons „The Clash of Civilizations“ von 1996 recht deutlich gemacht hat. Ein Buch, das Turki auch recht kritisch beurteilt und das am Anfang einer neuen radikalisierten Sichtweise des „Westens“ auf den Islam und die islamische Welt steht. Mit dramatischen Folgen, wie wir wissen.
Statt den Dialog zu fördern, hat diese neue Dämonisierung der arabischen Welt und des Islamismus nicht nur neue Kriege gezündet, sondern auch den Dogmatikern in den arabischen Ländern Aufwind verschafft. Am Ende geht Turki zwar auch noch auf den Arabischen Frühling von 2011 ein und die sichtbaren Veränderungen, die damit greifbar werden.
Denn die jungen Bewohner all der Länder, in denen sie damals protestierend auf die Straßen gingen, haben längst sehr wohl eine Vorstellung von Menschenrechten und den Freiheiten moderner, säkularer Staaten.
Menschenrechte, die eben nicht nur universell sind und nicht auf irgendeine Religion zurückgeführt werden können, auch wenn die großen Religionen einige dieser Menschenrechte durchaus schon thematisiert haben.
Sie sind zwar Ergebnis vor allem europäischer Emanziaptionsbewegungen seit der Französischen Revolution von 1789. Aber das macht sie eben nicht zu etwas, was nur Angelegenheit der Europäer wäre. Ganz so, als hätte jeder Kulturkreis seine eigene Definition von Menschenrechten.
Dogma als Machtfrage
So ticken in Wirklichkeit Dogmatiker und Diktatoren, die ihre Macht eben auch darauf begründen, dass ihr Machtgefüge als unveränderlich, althergebracht und in unhinterfragbare Traditionen eingebettet begriffen wird.
Wer daran rüttelt, stellt damit – aus Sicht der Mächtigen – die eigene Identität infrage. Und entsprechend rabiat reagieren diese Machthaber und Regime eben auch auf die Kritiker und Philosophen, die dieses erstarrte Selbstbild infrage stellen.
„Wirft man heute aber einen Blick auf den Islam und die Muslime, so stellt man mit Bedauern fest, dass sich viele Anhänger dieser Religion von ihrem geschichtlichen Hintergrund abgeschnitten haben und nun einen dogmatisch starren und ahistorischen Islam vertreten, der keinen Platz mehr für Toleranz einräumt“, schreibt Turki.
„Im Gegenteil, es herrscht seit einigen Jahrzehnten eher der Fanatismus in vielen Ländern der islamischen Welt, die sich politisch und kulturell vom Westen bedroht fühlen und keine adäquate Alternative zum Projekt der Moderne bieten können.“
Was seine Gründe hat, das lassen auch die von Turki analysierten Autoren nicht weg, denn der Kolonialismus und die ökonomische und militärische Hegemonie des Westens haben ebenso ihre Spuren hinterlassen. Aber dazu kommt eben auch etwas, was die islamischen Gesellschaften im Inneren daran hindert sich zu öffnen und den Weg zur Säkularisierung zu gehen.
Denn anders als im „Westen“ haben sich hier uralte patriarchalische Strukturen erhalten, die aufs Engste mit einer dogmatischen Interpretation des Koran und der Scharia zusammenhängen.
Die selbst verschuldete Unmündigkeit
„Das Machtproblem“ nennt es Turki, an anderer Stelle „Die dogmatischen Hemmnisse des Patriarchats“, und bespricht es sehr ausgiebig anhand der Schriften des 2005 verstorbenen palästinensisch-amerikanischen Autors Hisham Sharabi.
„Hingegen richtet Sharabi seinen Blick gerade nach innen, d. h. auf die endogenen Faktoren, und fordert eine schärfere Auseinandersetzung mit den eigenen Versäumnissen. Ihm geht es in erster Linie um das Erkennen der selbstverschuldeten Unmündigkeit und um die Möglichkeit ihrer Überwindung“, schreibt Turki.
„Seine Kritik gilt gerade dieser Unmündigkeit, die vom patriarchalischen Herrschaftssystem weiter aufrechterhalten wird und jeden Versuch von Befreiung zu vereiteln sucht.“
Denn das ist im Grunde die Schlussfolgerung aus all den Versuchen teils hochkarätiger Denker der arabischen Welt, den Islam mit der (wissenschaftlichen) Rationalität zu verknüpfen: Es gelingt nicht. Glaube und Wissenschaft gehören unterschiedlichen Welten an.
Da geht es dem Koran genauso wie der Bibel: Sie sind keine belastbare Grundlage für das Erkennen der Welt. Wo sie zum Dogma gemacht werden, hemmen sie jeden Fortschritt, versuchen die Gesellschaft geradezu unmündig zu halten und die Vorstellungen einer richtigen Welt in der Vergangenheit zu finden und in der Gegenwart zu reproduzieren.
Das Ergebnis: Stillstand, Rückstand und eine gefesselte Gesellschaft, die ihre lebendigen und kreativen Kräfte nicht entfalten kann. Nicht grundlos benennt Sharabi gerade die Bildung und die Emanzipation der Frauen als zentrale Elemente, die Gesellschaft zu befreien und letztlich zu demokratisieren.
Denn erst so werden auch die universellen Menschenrechte zum Allgemeingut und können sich die islamischen Gesellschaften modernisieren. Wenn man das liest, merkt man schon: Das wäre tatsächlich eine Veränderung, die das Leben von Millionen Menschen in der islamischen Welt verändern würde.
Die Veränderung kann nicht von außen kommen. Afghanistan und Irak haben nur zu deutlich gezeigt, dass diese Versuche einer „Demokratisierung von außen“ schiefgehen.
Wenn die Gesellschaften der islamischen Welt sich modernisieren wollen, müssen sie rationaler werden und die „mittelalterliche Irrationalität“ hinterfragen, von der viele der Herrschaftsstrukturen geprägt sind.
Zeit für einen „säkularen Humanismus“
„Solange wir allerdings die Rationalität nicht auf unsere eigene Tradition anwenden und in ihr die Quellen des Despotismus aufdecken, und dessen Äußerungen anprangern, werden wir nicht in der Lage sein, eine uns eigene Moderne hervorzubringen, durch die wir uns als Handelnde und nicht länger als Behandelte in die ‚globale Moderne‘ einbringen“, zitiert er den arabischen Intellektuellen Mohammed ‘Abid al-Jabri.
Turkis Buch ist im Grunde ein stoffreiches Plädoyer, den intellektuellen Diskurs in der arabischen-islamischen Welt auch in Europa viel stärker wahrzunehmen. Und damit auch deutlich stärker zu differenzieren und die Feindbilder zu hinterfragen, die gerade seit Huntingtons folgenreichem Buch zum Repertoire gerade in westlichen Medien geworden sind.
Feindbilder, die den „Kampf der Kulturen“ geradezu kultivieren und damit selbst zum politischen Dogma machen. Was Gespräche und Verständigung über die kulturellen und religiösen Grenzen hinweg praktisch unmöglich macht. Und auch das Verständnis dafür verbaut, dass es auch und gerade in den arabischen Ländern eine starke Sehnsucht nach eine freieren, demokratischen Gesellschaft gibt.
Denn dass demokratische Teilhabe die Grundlage für eine Modernisierung der ganzen Gesellschaft bedeutet, das wissen gerade die Jüngeren, egal, ob in Tunesien, Ägypten oder im Iran. Genauso, wie sie spüren, dass diese Modernisierung in den alten patriarchischen Strukturen nicht möglich ist.
Schon gar in Ländern, in denen der Islam in einer fundamentalistischen Auslegung zum Dogma erhoben wird. Und so wird eben auch deutlicher, warum arabische Denker immer auch wieder Rationalitätsdebatten führen. Denn der Gebrauch der Vernunft ist nun einmal unabdingbar, wenn man die Welt und ihre Verhältnisse erkennen möchte und Lösungen für Probleme sucht, die man letztlich eben doch – ganz im Kantischen Sinn – selbst verschuldet hat.
Ganz sind – so könnte man eine Bilanz ziehen nach Turkis kleiner Reise durch den heutigen arabisch-islamischen Diskurs – Hopfen und Malz nicht verloren, dass die „Prinzipien der Menschenrechte“ sich doch noch Geltung verschaffen.
Oder mit einer seiner Schlussfolgerungen zitiert: „Eines der wesentlichen Paradigmen rationaler Ethik besteht im Entwurf eines ‚säkularen Humanismus‘, der den Weg für eine Anpassung der Gesellschaft an die Moderne ebnet und den Menschenrechten bei der Konzeption zukünftiger Verfassungen in den arabisch-islamischen Ländern mehr Beachtung einräumt.“
Mohamed Turki Rationalitätsdebatten im arabisch-islamischen Diskurs der Gegenwart Edition Hamouda, Leipzig 2022, 24,90 Euro.
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