Jetzt noch einmal die schรถnen Tage nutzen, bevor es grau und trรผbe wird. Festes Schuhwerk an und ab ins Leipziger Musikviertel. Denn jetzt kann es auch mit einem eigenen Spaziergangfรผhrer erkundet werden, mit dem Hella Gormsen ihre Leserinnen und Leser mitnimmt von der Tauchnitzbrรผcke in groรem Bogen bis zur Lutherkirche im Johannapark. Und in die Geschichte des Ortes. Die kaum jemand kennt.
Denn bevor hier Ende des 19. Jahrhunderts ein vรถllig neues Quartier entstand, war auch dieses Gebiet regelmรครiges รberflutungsgebiet. Das Musikviertel entstand auf den Universitรคts- und Postwiesen. Auf einem Teil des Gelรคndes wurde frรผher Ton abgebaut fรผr die Ziegelei des Nonnenklosters St. Georg.
Das nahe Waldgebiet Die Nonne erinnert noch heute an den Waldbesitz des Klosters. Aus den alten Tongruben entstanden Teiche, die sogenannten Schimmelschen Teiche, wo sich auch einer der frรผhesten Ausflugsorte der Leipziger befand, die Insel mit der Restauration โBuen Retiroโ.
Weiter nรถrdlich befand sich der Botanische Garten der Universitรคt. Im Pleiรemรผhlgraben erinnert ein Wasserrad noch an die alte Nonnenmรผhle. An die beiden Wasserkรผnste, mit denen die Stadt frรผher ihr Wasser aus der Pleiรe bekam, sind freilich verschwunden.
Man braucht schon so einen kleinen informativen Wanderfรผhrer in der Hand, um sich diesen Ort รผberhaupt vorstellen zu kรถnnen, bevor das alles um drei Meter aufgeschรผttet und ein Straรenraster drรผbergelegt wurde.
Prachtbauten und Villen
Und dann ging es Schlag auf Schlag, entstand hie ein reprรคsentatives Gebรคude neben dem anderen โ das Reichsgerichtsgebรคude (in dem heute das Bundesverwaltungsgericht residiert), das Gebรคude der Akademie der Kรผnste (die heutige HGB), das Gebรคude fรผr die Musikakademie (die heutige Hochschule fรผr Musik und Theater โFelix Mendelssohn Bartholdyโ) und das Neue Gewandhaus, dessen Ruinen noch bis 1968 standen.
Was dann fรผr den Volksmund endgรผltig der Anlass war, das neue Quartier fortan Musikviertel zu nennen, auch wenn es so auf offiziellen Karten der Stadt nicht heiรt โ genauso wenig wie das Waldstraรenviertel oder das Grafische Viertel. Aber jeder weiร, wo sie liegen.
Wer sich mit Hella Gormsen auf den Weg macht, erfรคhrt natรผrlich auch, was alles Kriegsverlust in dem Quartier wurde. Denn die Bomben des 2. Weltkriegs zerstรถrten auch dutzende prรคchtige Villen.
Was heute noch steht, erinnert an diese Zeit, als sich das reiche Leipziger Bรผrgertum hier ein eigenes Quartier baute. Ein Villenquartier, das schon ab der heutigen Karl-Tauchnitz-Straรe zeigte, wer sich hier was leisten konnte.
Weshalb der Spaziergang in gewisser Weise ein architektonischer Spaziergang wird, denn etliche Villen bekommen darin ihre eigenen kleinen Portrรคts, in denen nicht nur die ersten Besitzer und spรคteren Bewohner gewรผrdigt werden, sondern auch die namhaften Architekten, die damals in Leipzig wirkten und hier ihre gebauten Visitenkarten hinstellten.
Die Lenkung des Blicks auf diese Villen hat ihren Grund, denn nach 1945 wurde herzlich wenig Rรผcksicht auf diese ursprรผngliche Bebauung gelegt. Es entstanden ganze Neubauriegel, die das Flair der Straรenzรผge vรถllig verรคnderte. Oder auch auslรถschte, kรถnnte man sagen. Was trotzdem nicht bedeutete, dass die Bewohner nach 1990 dafรผr waren, dass diese riesigen Blรถcke wieder abgerissen wurden.
Auch nicht die drei Hochhรคuser am Clara-Zetkin-Park, die der Volksmund heute โDie drei Gleichenโ nennt. Alle drei beliebt auch wegen der herrlichen Aussicht.
Jede Menge Grรผn ringsum
Und natรผrlich kommt in diesem Spaziergang auch Honeckers Gรคstehaus vor, das lange Jahre vom Verfall bedroht war und inzwischen in eine neue Wohnanlage verwandelt wurde.
Wo man anfangs โ vielleicht am Ausgangspunkt an der Tauchnitzbrรผcke โ vielleicht noch dachte, das Viertel habe doch gar nichts zu erzรคhlen, ist man schon nach wenigen Schritten mittendrin in einer Geschichte permanenter Verรคnderungen, erfรคhrt, dass die Karl-Tauchnitz-Straรe einst gar keine stark befahrene Straรe Richtung Waldplatz war, sondern beidseitig mit noblen Villen bebaut.
Der Johannapark war genauso wie die Wiesen unterm Musikviertel รberschwemmungsgebiet. Zur Parklandschaft gestaltete ihn Peter Joseph Lennรฉ um, beauftragt von Bankier Wilhelm Seyferth, der den privaten Park dann der Stadt vermachte, mit der menschenliebenden Auflage, dass dieser Park nie und nimmer bebaut werden dรผrfe.
Man darf mit Dankbarkeit รผber die hรถlzerne Brรผcke gehen, die den Johannaparkteich รผberspannt. Und dabei auch an Seyferths Tochter Johanna denken, die vielleicht an der Liebe starb, die sie nicht leben durfte. Ob es stimmt? Keiner weiร es.
Dass das Denkmal fรผr Clara-Zetkin im Johannapark steht und nicht in dem nach ihr benannten Park, erklรคrt Hella Gormsen natรผrlich genauso wie die Vorgeschichte des Clara-Parks, die ja mit der sรคchsisch-Thรผringischen Industrie- und Gewerbeausstellung 1897 begann, fรผr die das Gelรคnde krรคftig รผberformt wurde. Die Hauptallee kann man heute noch genauso erleben wie die beiden angelegen Teiche.
Der Park gehรถrt zwar nicht zum Musikviertel, betont Gormsen. Aber er sorgt ganz besonders dafรผr, dass das Wohnen im Viertel auch heute noch begehrt und teuer ist. Denn so viel Grรผn vor der Nase hat man sonst selten in Leipzig. Samt Parkgaststรคtte, Musikpavillon und Freilichtbรผhne.
Was will man mehr? Eine Pferderennbahn vielleicht? Die ist ja gleich nebenan, fรผr das wett- und zeigefreudige Leipziger Publikum dort angelegt, wo einst der Herr Scheibe sein eigenes Wรคldchen besaร, das Scheibenholz.
Wasser ans Licht!
Man darf das noch fast nagelneue Gerda-Taro-Gymnasium entdecken, das Roรbachhaus und das Literaturinstitut in der Wรคchterstraรe. Nicht zu vergessen den Wasserspielplatz โNeue Uferโ, der nah an der Wundtstraรe daran erinnert, dass insbesondere der Pleiรemรผhlgraben jahrhundertelang prรคgend war fรผr diese Ecke von Leipzig.
Und dass die Stadt da noch was zu erledigen hat. Denn zwischen Lampe- und Simsonstraรe erinnert der Grรผnstreifen ja daran, dass hier das Wasser immer noch unterirdisch in einer Rรถhre flieรt und baldigst ans Licht kommen soll. Auf der Karte im Bรผchlein ist der Verlauf schon mal wie ein freiliegendes Gewรคsser eingezeichnet.
Und da auch ein paar Cafรฉs am Wege liegen, kann man sich beim Entdecken des Musikviertels richtig Zeit nehmen. Wobei die Wahl bei sonnigem Wetter nicht so einfach ist: Geht man ins Cafรฉ der Galerie fรผr Zeitgenรถssische Kunst? Plant man die Pause im โGlashausโ im Clara-Park ein oder nimmt man lieber den groรen Freisitz an der Galopprennbahn als Zwischenziel?
Da die 33 Stationen dieses Spaziergangs alle auch auf der beigegebenen Karte eingetragen sind, kann man sich die Tour sehr schรถn einteilen und sie vielleicht am Mendelssohn-Ufer ausklingen lassen, wo das Wasser wieder erlebbar wird und Musikkenner die Noten lesen kรถnnen, die als Wรผrfel im grรผnen Ufer zu sehen sind.
Ein musikalischer Ort, auch wenn heute der Blick auf das Neue Gewandhaus fehlt, an dessen Stelle die Universitรคt ihr Geisteswissenschaftliches Zentrum gebaut hat.
Hella Gormsen Leipziger Spaziergรคnge, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2022, 6 Euro.
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