Nicht nur in Leipzig, auch in Berlin wird längst über den deutschen Kolonialismus diskutiert. Jahrzehntelang was er geradezu nicht existent in der öffentlichen Diskussion, versperrt hinter zwei großen Kriegen, die beide von Deutschland ausgingen. Da war dann auch unsichtbar, wie eng der deutsche Nationalismus von Anfang an mit dem Kolonialismus verquickt war. Und wie brutal der tatsächlich war. Für den Dichter Volker Braun Anlass für einen neuen, schonungslosen Gedichtzyklus.

Denn Schonung haben sie alle nicht verdient, keiner aus der Reihe der Herren, die sich auf der Insel Luf benahmen wie die Berserker, überzeugt davon, dass es ihnen als überlegene Europäer zustünde, die dort lebenden Menschen wie Wilde zu behandeln, zu jagen und zu töten. Ihre Boote und Dörfer zu zerstören und die geraubten Kulturschätze in europäische Museen zu verfrachten.

So wie das Luf-Boot, das seit 2018 im neuen Humboldt-Forum in Berlin aufgestellt ist und dessen Provenienz bis heute unklar ist. Denn wie genau Max Thiel, Geschäftsführer der Handelsgesellschaft Hernsheim & Co., 1903 in den Besitz des Bootes gelangte, ist nicht nachvollziehbar.

Dass es nicht wirklich auf rechtmäßigem Wege in seinen Besitz kam, liegt zumindest nahe, wenn man die knapp 20-jährige Geschichte der Besetzung der Insel Luf durch das Deutsche Reich nachvollzieht, wie es Volker Braun in seinem Gedichtzyklus tut, in dem er auf originalen Schriftverkehr aus dieser Zeit zurückgreift.

Rein geschäftliche Interessen

Ein Schriftverkehr, wie man ihn in seiner Tonalität auch aus damaligen Presseberichten und Buchveröffentlichungen kennt. Hier erlebt man die Konstruktion des Exotischen und Wilden mit – gepaart mit dem Überlegenheitspathos der Eroberer, die hier ihre Geschäftsinteressen mit grausamer Härte durchsetzen und jeden Akt des Widerstands als blutrünstige Wildheit der „Kanaken“.

Man darf über das Wort stolpern. Aber Volker Braun ist ein genauer Dichter. Er zitiert auch genau. Und ein Blick auf Google Ngram zeigt es dann auch sehr deutlich, wie so ein Wort, das man dem heutigen Rassismus zuschreibt, seinen Ursprung direkt im deutschen Kolonialismus hat, ursprünglich der Name der melanesischen Ureinwohner Neukaledoniens und dann einfach übernommen auch für andere Bewohner der Südsee, nun schon in abwertender Nutzung.

Der Begriff "Kanaken" in deutsprachigen Buchverföffentlichungen der letzten 200 Jahre. Grafik: Google Ngram
Der Begriff „Kanaken“ in deutschsprachigen Buchveröffentlichungen der letzten 200 Jahre. Grafik: Google Ngram

Volker Braun lässt es nicht bei der Perspektive der Geschäftsleute, Beamten und Kriegsherren. Er gibt den Bewohnern von Luf selbst ihre Sprache wieder, lässt sie ihr Schicksal selbst erzählen. Das, was in den Kolonialerzählungen des Wilhelminischen Kaiserreichs nämlich nie geschah.

Dort tobten sich die Moralisten und „Erzieher“ aus, die zwar sahen, dass die Bewohner der Insel in Frieden lebten, dem Fischfang nachgingen und gastfreundlich waren. Aber aus Sicht der anreisenden Handelsleute wie denen der Handelsgesellschaft Hernsheim & Co. war das ein nicht akzeptabler Müßiggang.

Inakzeptabler Müßiggang

Volker Braun wäre nicht Volker Braun, wenn er diesen Blick der Verwerter, die nach billigen Waren und billigen Arbeitskräften suchten, nicht erkennen würde. Und wie dieser Blick sich die Welt und ihre Bewohner unterwarf und ihre Art zu leben verachtete.

Denn „sie bauten ihre Häuser und Hallen, und / das Brot wuchs an den Bäumen und Fische / im Wasser. Es herrschte insofern / Überfluß. Sie sorgten für sich selbst. / Das war ein Übelstand.“

„Diese Leute wollten nicht für mich arbeiten“, lässt Braun die gierige Company noch sagen. Und auf einmal ist die ganze Gegenwart da. Denn dieser Blick der „tüchtigen“ Geschäftemacher aus dem Norden ist noch heute derselbe, auch wenn sie keine Kanonenboote mit kaiserlicher Marine an Bord mehr schicken, um die Widerspenstigen „zur Raison“ zu bringen, wie das in Preußen so schön hieß.

Denn das, was Braun schildert – bis hin zum Märchen, die Eingeborenen hätten selbst beschlossen auszusterben – ist ja schon geschehen. Die Kolonialmächte haben weltweit die ursprünglichen Gesellschaften und Lebenswelten zerstört und sie der kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen.

Die Handelsgesellschaften heißen heute anders. Aber sie benehmen sich noch ganz ähnlich. Denn die postkolonialen Gesellschaften sind instabil, hängen oft direkt am Finanztropf der einstigen „Schutzmächte“ und suchen fast alle noch nach einer neuen stabilen Gesellschaftsordnung, während korrupte Eliten versuchen, sich genauso zu benehmen wie die einstigen Kolonialherren.

„Heilsame Schrecken“

Braun muss das gar nicht alles erklären. Er hat schon immer auf die belesenen Leser gesetzt, die mit den Zitaten und Bildern etwas anfangen können, aus denen er eine komplexe Geschichte erschafft. Eine Geschichte, die er mit Zitaten auch auf andere Erdteile, wo die Kolonialherren wüteten, ausweitet.

Denn sie haben sich alle so benommen, allesamt der festen Überzeugung, dass die Verwertungslogik, mit der sie nach neuen Geschäftsfeldern Aussicht hielten, Raub, Diebstahl und die Ausrottung der „Wilden“ geradezu rechtfertigten.

„Wilde“, die sie geradezu zu „Kindern“ erklärten, denen erst einmal ein zivilisiertes Leben beizubringen wäre. Was in der Regel Unterwerfung und Sklavenarbeit bedeutete.

„Wir machen das aber, damit ein heilsamer / Schrecken über die Kanaken kommt.“

Dass das nicht „normal“ war, das wussten auch die klügeren, mitfühlenden Bewohner Europas. Braun zitiert Denis Diderot, der vor 250 Jahren den französischen Kolonialismus mit seinen gefeierten „Helden“ anklagte. „Entdecker und Eroberer“, denen völlig egal war, was die „Entdeckten“ über sie dachten, wie sie den rücksichtslosen Einfall der Männer aus dem Norden empfanden. Und wie sie ihre Unterwerfung und Ausrottung erlebten.

Und das ist eben nicht nur Vergangenheit. Die Debatte um das Luf-Boot im Humboldtforum hat es wieder deutlich gemacht, wie sehr dieser alte koloniale Blick auf die Welt noch heute in vielen Köpfen steckt, wie diese koloniale Vergangenheit glorifiziert und exotisiert wird. Und damit die konstruierte Selbstherrlichkeit der Eroberer, die heute noch immer im Umgang mit der Erde und ihren Reichtümern steckt.

Der exotische Blick auf die „Wilden“

Und so gehen sie eben auch noch mit den Menschen um, die sie als minderwertig, wild oder ungehorsam definieren. Das Finale – „Restitution“ betitelt – ist eine kurze und deutliche Anklage, in der beides zusammenkommt, weil es zusammengehört: die Feststellung, dass es die Besitzgier der Reichen ist, die die Welt zerstört, und dass es ihr Blick auf die entrechteten Menschen ist, der auch die Seelen der Bewohner des Nordens zerfrisst.

„Wir / Müssen aufhören aufhören / Auf Nacken von andern zu knien / Die nicht atmen können.“

Hier zitiert Braun schon die Dichterin Ann Cotten, die wiederum seinen Gedichtzyklus ins Englische übersetzt hat. Sodass der Käufer hier ein richtiges Wende-Buch in die Hand bekommt, mit der deutschen und der von Ann Cotten übersetzten Version.

Illustriert mit Collagen von Thomas Walther, in denen der Dresdner Künstler den europäischen Blick auf die exotisierten „Wilden“ demontiert. Denn die beschrieben die Menschen aus der ach so idyllischen Südsee gern mit den Vokabeln von Naturforschern, als würden sie neue Tierarten entdecken und für ihr Sammelalbum beschreiben.

Und so wurde die koloniale Welt eben auch jahrzehntelang in Museen ausgestellt und beschrieben. Der Blick des „Entdeckers“ dabei viel zu lange nicht hinterfragt. Genauso wenig wie die Herkunft der Ausstellungsstücke. Unsichtbar das Leiden und die Erfahrung derer, die da „zu Gehorsam“ gebracht wurden. Mit Gewalt.

Ererbte Reichtümer

Und Braun wäre nicht Braun, wenn er nicht auch anklingen ließe, dass das auch die armen Teufel im schönen Deutschland so erlebten. Immer wider – zum Objekt gemacht, zu Gehorsam gezwungen, ausgebeutet für die Geschäftsinteressen derer, die gerade dran waren, ordentlich kalkuliert ihren Besitz zu mehren.

In der englischen Übersetzung lässt Ann Cotten noch zwei Verse folgen: „Lay down your inherited leverage / respect heritage“.

Denn das hat Volker Braun ja schon angedeutet: Wir werden diese eine Welt, in der wir alle leben, nicht heilen können, wenn wir den Schmerz der Ausgeplünderten und Vergessenen nicht teilen können. Die ja – man kann es in seinen Gedichten eindrucksvoll lesen – schon erfahren haben, wie das ist, wenn die eigene Welt zerstört wird.

Denn unser wunderbarer Planet ist eigentlich auch nur eine winzige Insel im Ozean der Sterne. Die wir aber immer noch so ausplündern, wie die deutschen Kaufleute damals die Insel Luf.

Und dieser geplünderte Reichtum steckt noch heute im Reichtum der einstigen Kolonialmächte, ihrem „ererbten Einfluss“, wie es Ann Cotten nennt. Was dann auch an andere ererbte Reichtümer und ihren Einfluss in diesen postkolonialen Ländern des Nordens denken lässt.

Erstaunlich, dass Volker Braun das nicht in seinen Text übernommen hat. Vielleicht aber ging er einfach davon aus, dass seine Leser das als Subtext sowieso mitlesen. Dass es gar nicht zu überlesen ist, wenn man die Tragödie der Bewohner von Luf miterlebt und daneben die trockenen Berichte über das Handeln der Kolonisatoren, die ihren fatalen Auftritt in der Südsee daheim wie eine Mission in Sachen Zivilisation verkauften. Eine Geschichte, die bis heute fortwirkt und das Bild von der „vorbildlichen“ Kolonialmacht Deutschland prägt.

Volker Braun Luf-Passion Faber & Faber, Leipzig 2022, 20 Euro.

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