Mit seiner Erschaffung von Mittelerde hat John Ronald Reuel Tolkien ein ganzes neues Genre initiiert. Spätestens seit 1954/1955 „The Lord of the Rings“ erschien, wurden magische Welten voller mythischer Geschöpfe zum zentralen Topos der Fantasy. Sogar gestandene Wissenschaftler begannen sich für das Genre zu begeistern. Aber wie sie so sind: Sie wollen auch wissen, ob trotzdem so etwas wie wissenschaftliche Logik im Buch steckt. Da sind sie bei Tolkien gerade am Richtigen.

Denn der war ja selbst Wissenschaftler, Professor für englische Sprachwissenschaft an der Universität Oxford, bewandert in mehreren Sprachen und ein Kenner der Mythologien, vom altenglischen Beowulf bis zu den germanischen Sagen der Edda. Aber nicht nur das kann man finden.

2019 machten sich 35 französische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daran, jeweils ihr Spezialgebiet in den Werken Tolkiens näher unter die Lupe zu nehmen. Das umfasst dann nicht nur den „Herrn der Ringe“, sondern auch Tolkiens andere Arbeiten vom 1937 erschienenen „Hobbit“ bis zum postum veröffentlichten „Silmarillion“.

Letzteres ja eine wahre Fundgrube für alle, die selber sehen wollen, wie Tolkien eine ganze kosmogonische und mythologische Vorgeschichte für seine Romane schuf. Im Grunde der lebenslange Spaß eines Philologen, der es sich nicht nehmen ließ, eine komplette Mythologie zu erschaffen.

Und das als Einzelner, während ja die großen Mythologien der Menschheit immer Gemeinschaftswerke waren, die über viele Generationen entstanden, mündlich weitergegeben wurden und oft nur in Fragmenten erhalten.

Wie schafft man eine komplette Mythologie?

Und da setzte sich nun einer hin, der die Funktionsweise dieser Mythen akribisch erforschte, und schuf selber eine komplette Mythologie samt Schöpfungsgeschichte, einer Abfolge von Zeitaltern und einem Ensemble von Figuren, die den Lesern schon auf gewisse Weise vertraut waren, weil sie alten nordischen Sagen, englischen Märchen, aber auch christlichen und antiken Sagenwelten entstammen.

Doch Tolkien hat diese „erstaunlichen Charaktere“ nicht einfach eins zu eins aus den Legenden Europas übernommen – er hat jeder einzelnen Spezies selbst wieder eine Entwicklungsgeschichte gegeben. Und nicht nur das.

Unübersehbar hat er auch andere Wissenschaftszweige seiner Zeit wahrgenommen und seine Mittelerde auch noch mit einer eigenen Archäologie ausgestattet – mit sagenhaften Orten und Ruinen und Sprachrelikten. Dazu einer ganzen Evolution der Sprachen.

Unübersehbar ist, dass Tolkien bei der Erschaffung seiner Mittelerde viel weiterging als die meisten seiner Nachfolger im Gewerbe der schöpferischen Fantasy. Ganz offensichtlich hat er auch die neuesten Entdeckungen der Archäologie seiner Zeit verfolgt, hat sich mit Geologie und Klima beschäftigt. Vielleicht nicht einmal absichtlich.

Aber das akribische Bemühen um eine in sich stimmige Welt ist an allen Ecken und Enden sichtbar. Genauso wie das Vorbild Europa mit seinen klimatischen und geologischen Gegebenheiten, seiner Tier- und Pflanzenwelt. Was Mittelerde den Lesern von vornherein vertraut macht.

Und trotzdem staunt man, wie ernsthaft sich Werkstoffwissenschaftler, Astrophysiker, Vulkanologen, Klimatologen, Ökologen, Biodiversitätsforscher und Luftfahrtingenieure mit Tolkiens Welt beschäftigen können. Wahrscheinlich noch viel ernsthafter als viele Tolkien-Verehrer.

Denn die Frage steht ja: Kann oder darf man gar an eine solche Fantasy-Welt wissenschaftliche Maßstäbe anlegen? Ist denn nicht ihr Wesen, dass darin Dinge geschehen, die auf der richtigen Erde gar nicht funktionieren würden? Dass darin riesige Drachen und Adler fliegen, die nach den Gesetzen der Aerodynamik gar nicht fliegen dürften? Nur so als Beispiel.

Uralte Knochen

Aber man merkt das Wohlwollen der Autoren. Da, wo die Dinge mit aller Wissenschaft nicht zu erklären sind, gestehen sie Tolkien durchaus zu, dass hier seine Imagination zu ihren Rechten kommt. Dass man zwar die mythischen und archäologischen Spuren der Drachen durchaus nachvollziehen kann, da ja in vielen Mythologien auch Drachen vorkommen, die möglicherweise mit alten Saurierknochenfunden zu tun haben.

Aber hätten die Erzähler vor 2.000, 3.000, 4.000 Jahren so rational gedacht, hätten wir niemals die vielen Mythologien bekommen, die heute noch mit Genuss gelesen werden können. Es steckt nun einmal mehr drin als nur die (Fehl-)Interpretation uralter Knochen oder der Versuch, die Entstehung der Welt und der Menschen irgendwie in einer Geschichte zu fassen.

Stets verbunden mit einer tiefsitzenden Ethik, da ja der Mensch alles auf sich bezieht und die Welt teilweise bis heute als etwas begreift, das extra für ihn geschaffen zu sein scheint. So bekommt alles, was geschieht, scheinbar eine Bedeutung und die Welt wird zum Schauplatz des immer neuen Ringens des Guten mit dem Bösen.

Im „Herrn der Ringe“ ja exemplarisch durchexerziert und mit dem Ring, der sie alle knechten kann, auch noch symbolisch aufgeladen. Wobei: Hier haben die drei Herausgeber gestoppt. Einen Beitrag zur tieferen Bedeutung des Rings wird man nicht finden.

Nur sehr ausführliche Darstellungen, wie der Ring auf seine verschiedenen Träger wirkte, wie er ihnen quasi seinen Geist aufzwang und sie zu etwas werden ließ, was ihrem ursprünglichen Charakter fremd war.

Was dann das Tagen des Ringes und seine Zerstörung zur gefährlichen Reise bis an den Punkt bringt, an dem sich erweist, ob der Träger der Verführung der Macht erliegt oder ob er sich am Ende dagegen wehren kann.

Die Bedrohung der Welt

Was ja im „Herrn der Ringe“ durch die diversen „erstaunlichen Charaktere“ durchexerziert wird, die den Ring haben wollen, ihn tatsächlich bekommen und am Ende mit ihm ringen. „Erstaunliche Charaktere“ heißt ein ganzes Kapitel, in dem sich Forscher/-innen diverser Disziplinen mit der möglichen Evolution der Hobbits, Zwerge, Elben und Ents beschäftigen.

Ganz klassisch, wie das in der irdischen Evolutionsbiologie und der Archäologie auch passiert. Auch wenn es hier niemals Orks und Ents und Elben gab. Außer in der Phantasie der Menschen und in alten, faszinierenden Sagen und Legenden.

Aber unübersehbar gibt es bei Tolkien auch ein ausgeprägtes Hüttenwesen und lässt sich sogar zeitlich einordnen, welche Geschichtsepoche auf der Erde den jeweiligen Zeitaltern von Mittelerde entspräche. Chemiker kommen zu Wort, Kenner von Edelsteinen und Hüttenwesen.

Selbst die Plattentektonik Ardas wird unter die Lupe genommen, denn Mittelerde ist ja nur der zentrale Teil dieser Welt, die in den Legenden auch bei Tolkien erst eine Scheibenwelt war.

Und während die Medizin von Mittelerde scheinbar noch auf einem sehr primitiven Stand ist, stellt eine psychologische Untersuchung etwa zu Gollum und Sauron fest, dass sie nach heutigen Maßstäben unter erheblichen Neurosen gelitten haben müssen.

Das ist das Erstaunliche dabei: Auch Tolkien konnte nicht mehr mit dem naiven Blick der alten Sänger und Barden auf seine eigenen Mythologien schauen. Sigmund Freud war längst am Werk und auch der Professor aus Oxford zeichnete seinen Figuren eine komplexe und oft sehr widersprüchliche Psyche.

Das waren nicht mehr die Helden prähistorischer Mythen, die einfach so handelten, wie sie von Natur aus von den Göttern geschaffen waren. Tatsächlich tragen sie bei Tolkien sehr heutige Konflikte aus, neigen wie Sauron zu Manipulation und die Frage darf durchaus gestellt werden: Was treibt den Mann eigentlich?

Der Blick nach Mordor genügt, um zu sehen, dass dabei auch die Schönheit und Lebendigkeit von Mittelerde zerstört wird, wenn es nur dem Drang zur Macht dient.

Und mehrere Autoren bemerken beinah verwundert, dass sich Tolkiens Beschreibung der zerstörten Landschaft geradezu gegenwärtig liest und zwingend eine Kritik an der Umweltzerstörung durch eine rigoros agierende Wirtschaftsweise ist. Da wird auch sein tatsächlich geäußertes Unbehagen an der zunehmenden Zerstörung Englands sichtbar, die auch John Garth schon in „Die Erfindung von Mittelerde“ thematisiert hat.

Passiert hier eigentlich noch mehr, als die Fabel selbst erzählt? Ist die Geschichte von Mittelerde nicht nur eine alte, sondern auch eine neue Mythologie, die etwas ganz Modernes in sagenhafter Verkleidung erzählt?

Die Frage beantwortet das Buch nicht. Die eingeladenen Autor/-innen gehen konsequent rational an alles heran, was sie in Tolkiens Werken finden, untersuchen die Fakten und geben mögliche Lösungen dafür, wie die sagenhaften Lebewesen in Tolkiens Welt vielleicht nach den Maßstäben der irdischen Wissenschaft entstanden sein könnten.

Manche Autoren bemühen sich gar sehr, die fantastischen Wesen, denen sie begegnen, mit allerlei lebenden und ausgestorbenen Tieren auf der richtigen Erde in Übereinstimmung zu bringen oder wenigstens zu erklären, unter welchen Bedingungen diese skurrilen Geschöpfe tatsächlich entstanden sein könnten.

Wie rational muss Fantasy sein?

Da gehen manchmal auch die Pferde ein wenig durch mit den Wissenschaftlern, die es erstaunlich ernst nehmen, Tolkiens Phantasiewelt zu behandeln, als wäre sie eine reale Welt, die nach ähnlichen Gesetzmäßigkeiten funktionieren müsste wie die Erde.

Und zuweilen ergibt das natürlich erstaunliche Parallelen, wird sichtbar, dass sich der eigenwillige Professor aus Oxford auch mit Wissensgebieten recht gut auskannte, die mit seinem eigentlichen Lehrfach nichts zu tun hatten. Anders hätte er eine so in sich stimmige Welt auch nicht schaffen können.

Und als Wissenschaftler war er sich ganz bestimmt sehr bewusst, dass auch Fantasy-Leser vieles goutieren und akzeptieren – aber dennoch in einer Welt unterwegs sein wollen, die vertraut wirkt und nicht durch unlogische Zustände zusätzlich verwirrt.

Was zahlreiche Nachfolger Tolkiens eben leider vergessen und entsprechend wenig Energie darauf verwenden, ihre Welt in sich logisch zu machen. Das braucht schon ein gerüttelt Maß Wissen aus mehreren Wissensbereichen.

Letztlich belegen die vielen kleinen Essays in diesem richtig dicken Band, dass sich Tolkien genau diese Mühe gegeben hat. Die Mühe eines Wissenschaftlers, der den Lesern seiner Zeit tatsächlich eine komplette neue Mythologie geben wollte, in der sie Vertrautes wiederfanden, aber auch die Konflikte ihrer Zeit.

Denn natürlich scheinen die hier versammelten Wissenschaftler/-innen das Werk Tolkiens völlig unbekümmert auseinanderzunehmen, so, wie sie mit den wissenschaftlichen Beobachtungsobjekten in ihrem Metier für gewöhnlich auch umgehen. Aber man hat am Ende keinen Haufen herausgebrochener Bausteine, aus denen man sich Tolkiens Welt dann selbst wieder zusammenbasteln muss.

Das Wesentliche bleibt erhalten und wird sogar kaum berührt, auch wenn es in einzelnen Kapiteln angesprochen wird. Denn ein Mythos ist ja nie um seiner selbst willen da. Er erzählt immer eine Geschichte, die die Erzähler besonders bewegt und beunruhigt.

Eine Geschichte von Macht und Verführung in diesem Fall, von Überwältigung und Selbstbehauptung. Also letztlich die Geschichte auch unserer Zeit, in der man Typen wie Sauron genauso findet wie solche wie Frodo oder Gollum.

Und das in einer Umwelt, die sich vor unseren Augen zum Schlechteren verändert, weil ganz offensichtlich keine unsterblichen Elfen regieren, sondern eher Leute, denen der Gesang der Vögel genauso egal ist wie die Lebendigkeit des Auenlandes – das ja bei Tolkien ebenfalls die Verwandlung in eine beklemmende Fabriklandschaft erfährt.

Die Verlockung der Allmacht

Es geht also um mehr, deutlich mehr als eine komplex ausgedachte Phantasiewelt. Und so lange wie Tolkien am „Herrn der Ringe“ schrieb, stecken nun einmal zwangsläufig auch seine Sorgen und Befürchtungen darin, ist die Geschichte von Mittelerde auch eine Parabel für das, was auf der realen Erde geschieht.

Von der Entzauberung der Welt bis hin zu all den Erkrankungen der Macht, die nicht nur die eher schuldlosen Bewohner Mittelenglands vor die elementare Frage stellen, ob sie nun losziehen und sich mit dem Bösen anlegen, oder doch lieber in ihren Erdhöhlen bleiben in der Hoffnung, das Unheil übersieht sie.

Was sich immer wieder als törichte Hoffnung erweist.

Wie aktuell das Thema ist, analysiert zum Beispiel Thierry Jandrok, wenn er bei Tolkien eine „Mythologie von Korruption und Abhängigkeit“ entdeckt. Denn philosophisch betrachtet steht der Ring auch für die entgrenzte Sucht nach Besitz.

Doch wer den Ring dann besitzt, verliert sich selbst, wird vom Ring beherrscht. Und siehe da: Es ist das Dilemma des modernen Menschen in seiner Gier nach Wohlstand, Reichtum, Besitz, Ruhm und Macht. Nur dass er dabei unheilbar vereinsamt, wenn er den „Verlockungen der Allmacht“ nicht entkommt.

Und so entdeckt man nicht nur eine Welt, die vom Klima und vielen Merkmalen der Topografie dem Europa entspricht, das auch Tolkien kannte, sondern auch einer uralten Menschheitserzählung, die Tolkien hier mit vielen vertrauten Elementen neu erzählt.

Mit Dan Lunt zeichnet ein Autor tatsächlich richtige Klimakarten für Mittelerde. Andere zeichnen Steppen, Wälder und Wüsten, wie sie aus Tolkiens Texten rekonstruierbar sind. Und mit Sylvie Delaire wird auch noch gründlich die Höhlenwelt von Mittelerde erforscht, die bei Tolkien natürlich – ganz klassisch – auch wieder voller Symbolik steckt, man denke nur an die Minen von Moria, „eine Lagerstätte geologischen Gewissens“, wo den Reisenden jedes Zeitgefühl abhandenkommt. Ein symbolischer Ort und ein uraltes Mythenmotiv.

Das aber für Tolkien noch genauso wirkt wie für heutige Leser. So wie die ganze Geschichte von Mittelerde, die viel zu oft nur auf all die filmischen Schlachten reduziert wird, als würden in Schlachten tatsächlich die Kräfte der Geschichte sichtbar – und nicht eigentlich die seelischen Abgründe ihrer Protagonisten, die regelrecht besessen sind von der Gier zur Macht.

Und das eben nicht nur auf mythologischer Ebene. Denn man liest den „Herrn der Ringe“ ja nicht mit der Gewissheit, hier nur ein uraltes Märchen vor sich zu haben. Man liest ihn eben auch, weil darin die Hybris der Gegenwart widerscheint und lodert.

Und damit eigentlich auch die Frage, ob wir dem tatsächlich hilflos ausgeliefert sind. Oder ob es sich lohnt, mit ein paar Freunden loszugehen und – in dem Sinne – die Welt zu retten. Was ja immerhin eine Option ist. Nicht nur im Fantasy-Roman.

Roland Lehoucq; Jean-Sébastien Steyer; Loïc Mangin Die Wissenschaft von Mittelerde wbg Theiss, Darmstadt 2022, 50 Euro.

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