Der Mensch ist zuallererst das, was er in seinem Kopf erlebt โ€“ Gedanken, Selbsterzรคhlungen, Trรคume, Emotionen. Hier steckt seine Persรถnlichkeit. Hier ist er missbrauchbar und manipulierbar. Das wissen die Fachleute der Werbebranche seit รผber 100 Jahren. Sie haben sich immer emsig an den Erkenntnissen der Psychologie bedient. Und wer es noch nicht wusste, erfรคhrt schon auf Seite 17, dass die Erkenntnisse der Persรถnlichkeitsforschung auch in den Algorithmen der groรŸen Digitalkonzerne stecken.

Was den gewรถhnlichen Nutzern erst einmal gar nicht auffรคllt. Offen zugรคnglich sind die Algorithmen sowieso nicht. Aber mittlerweile gibt es genug Whistleblower/-innen, die aus dem unheiligen Innenleben der groรŸen Daten-Plattformen berichtet haben. Und gewarnt haben. Ohne wirkliche Folgen. Denn augenscheinlich verstehen die Politiker selbst in den industriell hoch entwickelten Staaten nicht, was da tatsรคchlich passiert und wie systematisch die groรŸen Datenkonzerne unsere Demokratie zerstรถren, die Neurosen der Menschen missbrauchen und aus Lรผgen, Verleumdung und Hass ein Riesengeschรคft gemacht haben. Ganz zu schweigen von ihrer vรถllig enthemmten Sammelwut, was sรคmtliche Daten รผber alle Nutzer betrifft. 

Das Geschรคftsmodell dahinter ist eigentlich billig: je mehr Aufregung auf den Plattformen, umso mehr Klicks. Je mehr Klicks, ums hรถher die Werbeumsรคtze. Gier frisst Aufmerksamkeit, frisst Vernunft. Und das alles nur, weil vernรผnftige, nachdenkliche, rรผcksichtsvolle Informationen im Netz deutlich weniger Aufmerksamkeit bekommen.

Das betrifft auch Sie, die sie ausgerechnet diese Buchrezension lesen. Damit sind sie eine/-r von Wenigen, wรคhrend 100 Mal mehr Leser lieber die Artikel รผber Krawalle, Hausdurchsuchungen, Verkehrsunfรคlle oder radikalisierte Demonstrationen lesen.

Missbrauchte Aufmerksamkeit

Was natรผrlich ist. Wir alle haben noch immer das psychische Innenleben unserer Vorfahren, die in Steppen und Wรคldern lebten und jagten und deren Sensorium ganz natรผrlich darauf geeicht war, auf jedes noch so kleine Alarmzeichen zu achten, denn davon hing ihr รœberleben ab. Lieber zehn Tiger im Unterholz zu viel vermutet als einen zu wenig gesehen. Das ist keine Neurose. Das ist unser natรผrliches รœberlebenspaket, fest eingebaut in unsere Gene.

Doch genau das fรผhrt auch dazu, dass Nachrichten รผber Kriege, Katastrophen, Skandale und Kriminalfรคlle in den Medien die hundertfache Aufmerksamkeit bekommen gegenรผber allen nur rationalen, informativen und ausgewogenen Berichten. In klassischen Medien genauso wie in den sogenannten โ€žSocial Mediaโ€œ, denen aber eins fehlt: die Redaktion. Und damit die Einordnung.

Algorithmen sind keine Redakteure. Im Gegenteil. So wie sie heute gestrickt sind, รถffnen sie alle Schleusen, wenn sich auch nur andeutet, dass eine Nachricht besonders viele Reaktionen im Netz auslรถst. Und noch etwas kommt hinzu: die riesige Menge schon gespeicherter Daten in riesigen Serverfarmen, in denen alle Spuren gespeichert sind, die wir im Netz hinterlassen. Und damit auch alle unserer Persรถnlichkeitseigenschaften โ€“ die positiven (Extraversion, Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Vertrรคglichkeit) genauso wie die negativen โ€“ unsere Neurosen.

Die Angriffsflรคche fรผr Manipulation

Und wรคhrend man ausgeglichene Menschen nur schwer manipulieren kann, ist das bei Menschen, die sich mit diversen Neurosen plagen, leicht. Dann werden Neurosen zum Angriffspunkt fรผr ganz gezielte Manipulation. Und sie werden geschรผrt und verstรคrkt. Und niemand weiรŸ das besser als ein Psychologe wie Johannes Hepp, in dessen Praxis immer รถfter Menschen aufschlagen, die unter Problemen leiden, die durch ihre digitale Abhรคngigkeit verstรคrkt oder tatsรคchlich erst angelegt werden.

Denn manche Neurosen gab es auch schon vorher. Nur, dass sie dort nicht stรคndig kontrolliert und befeuert werden konnten. Erst die Rund-um-die-Uhr-Kontrolle durch zunehmend vernetzte digitale รœberwachung hat es mรถglich gemacht, Menschen in digitalen Kรคfigen zu fangen, sie abhรคngig zu machen und sie auch noch einem gegenseitigen Kontrolldruck zu unterwerfen. Etwas, was zum Beispiel in den Kapiteln zur Profilneurose, der omnipotenten Neurose oder der Exklusions-Neurose (Stichwort: Selbstausbeutung) sichtbar wird.

โ€žErst gezieltes Ausspionieren und Anwenden der persรถnlichen Informationen (gegen uns) hat in den Bereich des Mรถglichen gerรผckt, neurotisierte Menschen leichter lenken zu kรถnnen, um erst unser Fรผhlen und Denken, dann unser Verhalten nach Wunsch zu beeinflussenโ€œ, schreibt Hepp, bevor er so richtig einsteigt in die 21 Neurosen, die er detailliert beschreibt und zu denen er auch genau erklรคrt, warum uns die einzeln aufgefรผhrten ร„ngste, Verletzlichkeiten, รœberforderungen und Verlockungen so neurotisch und krank machen.

Denn immer mehr Menschen leiden ja tatsรคchlich unter diesem zunehmenden Druck, der keinen Feierabend mehr kennt, keine Schonzeiten, kein Genug. Nicht einmal das Geprassel der negativen Nachrichten hรถrt auf, wenn es immer mehr Abhรคngige nicht mehr schaffen, ihre digitalen Gerรคte einfach mal auszuschalten. Sie konsumieren die Datenstรผrme beim Gehen auf der StraรŸe, im Bus, nebenbei am Arbeitsplatz, auf dem Heimweg und oft noch bis zum Schlafengehen. Es hรถrt nie auf.

Die Nรถtigungen der digitalen Welt

Aber da Hepp jede einzelne Neurose genauer untersucht, kommen dahinter auch die Muster zum Vorschein, die er aus seiner psychologischen Praxis schon kennt. Sodass er auch zu jeder einzelnen Neurose sagen kann, was dagegen zu tun ist. Wobei der erste Schritt ja immer ist, รผberhaupt zu verstehen, was einen da depressiv, traurig, mรผde, wรผtend macht. Erst so wird ja deutlich, wie sehr man in den Nรถtigungen, Verlockungen, Erpressungen der digitalen Welt verfangen ist.

Man hat irgendwann damit angefangen, hat sich von den Reizen der neuen Technik verfรผhren lassen, hat das Gefรผhl einer ungeheuren Erweiterung der eigenen Mรถglichkeiten erlebt und irgendwann nicht mehr gemerkt, wie viel Lebenszeit man lรคngst schon an die digitalen Welten und Spielzeuge verloren hat. Und wie gleichzeitig die Zahl echter sozialer Kontakte und Begegnungen schrumpfte, wo man doch โ€žalles mit einem Klickโ€œ haben konnte.

Ganz zu schweigen von all den Bereichen, in denen die cleveren Konzerte diese Totalkontrolle รผber Menschen in Arbeitsverhรคltnisse verwandelt haben, in denen gerade die prekรคr Beschรคftigten immer mehr zu Digitalsklaven geworden sind โ€“ rund um die Uhr รผberwacht und von gnadenlosen Algorithmen immerfort bewertet und angetrieben. Schรถne neue Arbeitswelt kรถnnte man sagen. Aus Hepps Sicht lรคngst die Verwirklichung von Aldous Huxleys โ€žSchรถne neue Weltโ€œ.

Und es bleibt ja nicht bei der Arbeitswelt. Es dringt in die persรถnlichsten Lebenssphรคren vor โ€“ in die Partnerwahl, mit all den Datingapps, die das Bewerten und Abwerten in einen Bereich eingefรผhrt haben, in dem es um die intimsten Gefรผhle geht. Immer mehr Menschen vereinsamen vor ihren Digitalgerรคten, weil sie sich echte Begegnungen mit echten Menschen kaum noch zutrauen. Partnerschaften gehen in die Binsen, weil das Internet mit getรผrkten und aufgehรผbschten Bildern auch die Vorstellungen vom idealen Partner / der idealen Partnerin in Dimensionen schraubt, denen irdische Menschen nicht genรผgen kรถnnen.

Das Drama der Influencer mit ihren schรถnen Scheinwelten beleuchtet Hepp genauso wie die exhibitionistische Neurose, den Zwang aller mit Bild und Profil im Netz vertretenen Menschen, sich selbst zu etwas Besonderem, Ausgefallenen, Idealen zu stilisieren.

Alles oder Nichts

Was nicht nur Lug und Trug Vorschub leistet und dem Zwang, die Follower-Gemeinde immerfort mit neuen eindrucksvollen Bildern und โ€žErlebnissenโ€œ bei der Stange zu halten, sondern auch der Nรคhrboden fรผr zunehmende Minderwertigkeitskomplexe ist. Wovor selbst jene nicht gefeit sind, die mit ihren Online-Auftritten eine riesige Community versammelt haben โ€“ ein falscher Post, ein hรคmischer Kommentar, und das ganze Gebรคude fรคllt in sich zusammen. Ein Shitstorm vernichtet Karrieren und Leben.

Denn das Bewerten haben sie alle gelernt, die in den asozialen Netzwerken groรŸ geworden sind. Sie kennen nur Daumen rauf oder Daumen runter. Dazwischen gibt es nicht. Das Internet kennt kein Dazwischen, blendet den Raum des noch Ungewissen, Vagen und Rรคtselhaften regelrecht aus. Und damit eigentlich die Gefรผhlswelt, in der Menschen normalerweise zu Hause sind. Sonst kรคmen wir nรคmlich alle nicht miteinander aus. Es ist sogar unser Reichtum, zwischen 0 und 1 Million Zwischentรถne sehen und fรผhlen zu kรถnnen.

Was ja den Umgang mit echten Menschen so aufregend macht. Aber all das wird durch die scheinbar eindeutige Bewertungslogik auf den digitalen Plattformen platt gemacht, eliminiert. Nur Perfektion zรคhlt, nur die Besten bekommen den groรŸen Kuchen. Wer nur Zweiter wird, bekommt gar nichts. Auch das fรถrdert die Radikalisierung in den Netzwerken โ€“ und die Anspruchshaltung der Menschen, die die Gnadenlosigkeit der digitalen Bewertungslogik in die reale Welt tragen.

Hepp behandelt das zum Beispiel unter dem Stichwort Kompromisslosigkeit, die zur extremistischen Neurose wird, wenn die Nutzer durch die Algorithmen immer weiter in die bekannten Bubbles gefรผhrt werden, wo es nur noch eine Ansicht zur Welt gibt und alle sich gegenseitig befeuern und radikalisieren. Denn wer dort aus dem Raster fรคllt, wird niedergebrรผllt.

Wen Fake und Fakt den selben Wert haben

Am Ende greifen diese Mechanismen tief ein in die Sinnfindung der vor ihren Bildschirmen vereinsamenden Menschen. Denn in den ausufernden digitalen Welten gibt es keinen Sinn. Nur jede Menge Verlockungen, falsche VerheiรŸungen von Omnipotenz und eine riesige Irritation, weil dort alles gleich gehandelt wird โ€“ die Lรผge genauso wie die Konspiration, die Verschwรถrungserzรคhlung genauso wie die scheinbar logische Erzรคhlung, die ihre Anbieter nur zu gern als โ€žWahrheitโ€œ anpreisen und die Verunsicherten dann locken mit der Aufforderung, einfach selbst nach der โ€žverborgenen Wahrheitโ€œ zu suchen. Die Algorithmen werden schon helfen. Sie brauchen nur ein Stichwort und fรผhren die Nutzer dann tief hinein in die Rรคume, in denen die Vermutungen, Gewissheiten und Selbstgerechtigkeiten brodeln. Und die Gefรผhle.

Denn was sich da austobt โ€“ in Kommentaren und Posts, aber immer รถfter auch auf der StraรŸe, โ€“ sieht zwar auf den ersten Blick wie blanke Wut, Zorn und volle รœberzeugung aus. Aber dahinter stecken noch immer die alten menschlichen Verunsicherungen: ร„ngste, Hilflosigkeit, Demรผtigung, Minderwertigkeitsgefรผhle, das Gefรผhl, in dieser Welt nicht gefragt zu sein und keine Wirkmรคchtigkeit zu haben.

Scheinbar hilft dabei die BUMMER-Maschinerie, jene von den groรŸen Digitalkonzernen geschaffene Welt der Algorithmen, die genau diese menschlichen Verletzlichkeiten ausnutzen und zu ihrem Geschรคftsmodell gemacht haben. โ€žDurch die BUMMER-Maschienen angeheizt, wird die Paranoia ausagiert und die eigene Ohnmacht verdrรคngtโ€œ, schreibt Hepp. โ€žSo werden die Frustrationen und Demรผtigungen eine Weile nicht gespรผrt.โ€œ

Legale Datenhamsterei

Denn es ist ja nicht so, dass die Welt auรŸerhalb der digitalen Echorรคume in Ordnung wรคre. Die radikale Ausnutzung unserer persรถnlichsten Daten von riesigen Datenkonzernen ist ja eine direkte Fortsetzung der kapitalistischen Denkweise, alles in Besitz zu nehmen und damit Geschรคfte zu machen. Denn so lange niemand es diesen lรคngst weltumspannenden Konzernen mit ihrer Monopolmacht verbietet und den Missbrauch unserer Daten unter Strafe stellt, werden sie so weitermachen und immer mehr Menschen in ihre digitalen Universen zu locken versuchen und nach ihren Regeln arbeiten, leben, lieben und denken zu lassen.

Der digitale Zugriff ermรถglicht die direkte Beeinflussung der Psyche. Und er macht die Nutzer wehrlos, wenn sie immer einsamer, gestresster und frustrierter vor ihren digitalen Gerรคten sitzen oder gar eine Bestรคtigung dafรผr suchen, dass ihr Leben einen Wert und einen Sinn hat.

Aber die kรถnnen einem die digitalen Verwertungsmenรผs nicht liefern. Auch wenn einige Leute glauben, sie wรผrden sich selbst und ihr Leben immer mehr perfektionieren, wenn sie immer grรถรŸere Teile ihres Alltags digitalisieren und โ€žsmartenโ€œ Gerรคten โ€“ gar einer KI โ€“ รผberlassen, von der sie nicht mal wissen, wer diese programmiert und trainiert hat. Wer bestimmt hier also noch รผber wen? Und wer ist da noch Herr im eigenen Haus, wenn das Haus alle Daten an einen riesigen Server in den USA รผbertrรคgt und so nebenbei alle Lebensspuren der Hausbewohner aufzeichnet?

Und dabei gehรถrt zur zunehmenden Vereinsamung der Gegenwart die schlichte Tatsache, dass wir mit all unseren Emotionen an eine reale Welt angepasst sind und diese Resonanz mit richtigen Menschen, Tieren, Wรคldern, Flรผssen und Seen auch brauchen. Denn genau hier liegt das, was uns heil sein lรคsst und die Panik nimmt, stellt der Psychologe fest: โ€žUnd schlieรŸlich sollten wir die Wirklichkeit zu umarmen lernen, so wie sie ist, und sie nicht mit Mythen umzudichten trachten. Wir sollten lernen, die Wirklichkeit ungefiltert zuzulassen, anstatt sie durch fadenscheiniges Refraiming umzudeuten. Nur die leidenschaftliche Umarmung des Unvermeidlichen bringt letztlich Gelassenheit und Frieden โ€ฆโ€œ

Allmachtswahn und Fatalismus

Und das mindert auch die Zukunftsรคngste und die Hilflosigkeit, die Hepp bei so vielen Patienten feststellen kann. Die resultieren nรคmlich aus dem fatalen Gefรผhl, nichts tun zu kรถnnen. Das nun einmal aufs Engste verkoppelt ist mit dem digital verbreiteten Allmachtswahn und der Rigorositรคt der dort verkรผndeten โ€žWahrheitenโ€œ, die mit den konkreten Lebensumstรคnden der einzelnen Nutzer und Nutzerinnen in der Regel nichts zu tun haben. Doch dabei geht das Wissen verloren, dass man im Kleinen immer wirken kann. Dass unsere Wirksamkeit gerade da spรผrbar wird, wo wir mit ganz konkreten Menschen an รผberschaubaren Problemen in unserem eigenen Lebensumfeld arbeiten. Da ist wenig Platz fรผr den uferlosen Radikalismus. Fรผr Fatalismus auch nicht, weil wir dort tatsรคchlich sehen, mit wem wir um gemeinsame Lรถsungen ringen.

โ€žFatalismus zeigt sich hรคufig in Schwarz-WeiรŸ-Denken, in รœber- und Untertreibungen und Verallgemeinerungenโ€œ, schreibt Hepp. Und zรคhlt dann etliche auf, so, wie sie im Internet als heiรŸe Ware angepriesen werden. Als wรคre jeder einzelne Mensch genรถtigt, alle Probleme der Menschheit immerfort lรถsen zu mรผssen.

Auch hier empfiehlt Hepp das Loslassen, das Eingestรคndnis, dass es gar nicht in unserer Macht steht, alle Missstรคnde auf Erden zu beseitigen. โ€žInformierte Hilflosigkeitโ€œ nennt es Hepp, was viele Menschen dann auch in die Denkfalle fรผhrt, sie kรถnnten ja eh nichts tun. Das ist das immer wieder auftauchende Alles-oder-nichts-Dilemma. Obwohl jeder in seinem ganz realen und erfahrbaren Umfeld handeln kann. Jederzeit. Alle groรŸen Verรคnderungen beginnen im Kleinen.

Und wenn es das (zeitweilige) Ausschalten dieser kleinen โ€žsmartenโ€œ Helferlein ist, die eins jedenfalls nicht sind: vernรผnftig. Sie sind allesamt darauf programmiert, die Daten der Menschen zu sammeln und die Nutzer sogar zu Lieferanten und kostenlosen Dienstboten zu machen fรผr die groรŸe Bereicherungsmaschinerie, die gleichzeitig auf dem Sprung ist, zum Big Brother zu werden und auch noch die kleinste Lebenstรคtigkeit zu รผberwachen und zu speichern. Das Beispiel China, von dem auch westliche Technokraten so begeistert sind, nimmt Hepp sehr eingehend unter die Lupe. Mit all den Folgen, die die โ€žDiktatur 4.0โ€œ einer von Algorithmen kontrollierten Welt fรผr die Freiheit und das unabhรคngige Denken der Menschen hat.

Digitaler Sozialdarwinismus

Und das alles geschieht, weil wir es zulassen, dass Konzerne und Staatsapparate vollen Zugriff auf unsere persรถnlichsten Daten bekommen und diese nach Gutdรผnken missbrauchen, speichern, kumulieren und am Ende dazu nutzen, die immerfort online agierenden Menschen sanft dahin zu stupsen, dass sie entweder zu gehorsamen Staatsbรผrgern werden (China) oder zu gestressten Konsumenten und gejagten Hamstern in einer immer hochtourigeren Arbeitswelt, schlecht bezahlt und sozial schlecht abgesichert.

Denn an mehreren Stellen in Hepps Buch wird auch deutlich, dass der Traum von der โ€žSchรถnen neuen Weltโ€œ der Traum der Reichen und Vermรถgenden ist, die sich die technischen Wohltaten der Zukunft auch noch leisten kรถnnen. Und die gleichzeitig โ€“ ohne es selbst zu merken โ€“ ihr altes Herren-Sklaven-Denken in die digitale Welt mitgenommen haben. Das, was als Sozialdarwinismus auch schon die Welt vor der groรŸen Digitalisierung beherrschte und als Handlungsmaxime in die Kรถpfe der Menschen eingepflanzt ist โ€“ das ganze Ich-muss-mehr-leisten-Ethos, das die Menschen dazu treibt, sich zu verschulden, um sich Erfolg zu kaufen, rund um die Uhr erreichbar zu sein und alle Energie in die Darstellung einer Karriere zu stecken, die fรผr die Verwirklichung eines eigenen, sinnvollen Lebens fehlt.

Und nun?

Das braucht, stellt Johannes Hepp zu recht fest, neue Regulierungen. So wie vor 100 Jahren mit dem Aufkommen der Automobilitรคt der StraรŸenverkehr geregelt wurde. โ€žMenschen haben das Recht auf Selbstbestimmung und darauf, in einer gesunden und geschรผtzten Umwelt zu lebenโ€œ, schreibt Hepp. โ€žBelastende Algorithmen sollten fair, transparent und vor allem รผberprรผfbar sein.โ€œ

Denn erst dann stehen die Menschen den digitalen Angeboten nicht mehr ratlos, รผberfordert und ausgeliefert gegenรผber. Wenn sich das nicht รคndert, werden sie immer wieder und immer รถfter mit all ihren รœberforderungen in seiner Praxis aufschlagen, unter Neurosen leidend, die die Technik, die eigentlich alles gut machen sollte, erst so richtig befeuert hat.

Weshalb Hepp eine wichtige Kampagne empfiehlt, die um die Ratifizierung digitaler Grundrtechte in der EU kรคmpft. โ€žAuf der Website www.jeder-mensch.eu kann man fรผr diese Grundrtechte stimmen. Das sollten wir tun.โ€œ

Johannes Hepp Die Psyche des Homo Digitalis, Kรถsel Verlag, Mรผnchen 2022, 22 Euro.

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