Wie beißt man sich durch in einem Land, das sich immer noch damit schwertut, zu begreifen, dass es sich längst verändert hat? Dass Millionen Menschen darin leben, die anderswo flüchten mussten und sich hier ein Leben aufgebaut haben und eine Heimat gefunden. Oder – wie die fünf jungen Heldinnen und Helden in diesem Buch – Kinder dieser Einwanderer sind. Mit großen Träumen, komplizierten Familienkonstellationen und unliebsamen Begegnungen mit der Polizei.
Und wer noch nicht gleich zum Buch greifen will, kann sich mit der extra fürs Buch eingespielten Musik in Stimmung bringen. „Alles Gold“ heißt die CD, eingespielt von einem fiktiven Rap-Duo mit dem Namen AK602. Das Duo gründen zwei der Helden aus dieser Geschichte, die beim Warten auf ein Flugzeug am Flughafen Paderborn beginnt, das aber nicht kommen wird.
Aber man lernt dabei schon mal Bobby und Artur kennen, beide an dem Punkt im Leben, an dem so viele noch nicht wissen, wie es weitergehen soll mit ihrem Leben. Die Schule haben sie hinter sich. Doch mehr als Bielefeld kennen sie eigentlich nicht. Und es ist noch längst nicht zu ahnen, dass Artur schon in wenigen Monaten in einem Rap-Duo mitmachen wird, das die Leute tatsächlich von den Sitzen reißt.
Oder im Ton der Website zum Buch und CD: „AK602 sind der Deutschrusse Artur aka ‚Arturo‘, Rapper und Beatproduzent (gerappt von Partizan), und der jesidische Kurde Kazim aka ‚Kay‘ (gerappt von KD), Rapper, begnadeter Freestyler und DJ Arturo und Kay struggeln sich in Bielefeld jeder auf seine Weise durchs Leben. Während einer turbulenten Nacht, die in der Ausnüchterungszelle endet, lernen sich die beiden kennen und beschließen, zusammen Musik zu machen. Es ist 2006, J-Dilla ist gerade gestorben, die WM in Deutschland steht vor der Tür und die beiden schrauben an ihrer Debüt-EP ‚Alles Gold‘.“
Zwischen den Welten
Vorher aber ziehen Bobby und Artur in eine gemeinsame Bude, um endlich rauszukommen aus ihren Familien, wo sie sich schon lange nicht mehr glücklich fühlen. Zu Hause schon mal gar nicht. Es ist ein seltsamer Schwebezustand, in dem sie sich alle befinden.
In Bielefeld aufgewachsen und auf den Skateplätzen und in mit Alkohol durchfeierten Nächten unterwegs, Teil einer Jugendszene, wie es sie in allen deutschen Großstädten gibt. Sie kennen alle angesagten DJs und auch die angesagten Kneipen, wo man auch noch was zu Trinken bekommt, wenn sonst in der Stadt schon die Bürgersteige hochgeklappt werden.
Man vergisst, wenn Murašov über „Bauchgefühl – die dämonische Kuh“ und „Skatepark/Nichts“ schreibt, ziemlich schnell, dass es eigentlich um junge Leute mit „Migrationshintergrund“ geht, wie das so schön heißt, wenn Statistiker irgendwie zu fassen bekommen wollen, dass Menschen auch noch Wurzeln und vielleicht auch Verbindungen in anderen Ländern haben. Auch wenn es bei Bobby der mittlerweile ausgezogene Vater ist, der ihm immer versprochen hat, ihn mal mit nach Russland zu nehmen.
In „Ferngespräch“ lernen wir Nelja kennen, deren Vater im Bosnienkrieg umgekommen ist. Damals floh sie mit ihrer Mutter nach Deutschland. Doch während die meisten Mitglieder ihrer Familie wieder nach Bosnien zurückkehrten, ist sie dageblieben.
Und damit zwischen allen Stühlen, denn die Familie fehlt ihr. Sie fehlt auch den anderen jungen Helden im Buch, selbst dann, wen es daheim nur Zoff gab oder – wie bei Dilek, sogar rohe Gewalt, gekoppelt mit alten Vorstellungen von Familie und Gehorsam, die in diesem Deutschland des Jahres 2006 völlig aus der Zeit gefallen wirken.
Obwohl das natürlich auch nur eine Projektion ist. In etlichen deutschen Familien sieht es nicht anders aus, fehlt den Eltern jedes Verständnis dafür, dass Kinder eigenständige Persönlichkeiten sind und eigene Vorstellungen von Liebe, Leben und Selbstverwirklichung entwickeln.
Wo geht’s hier ins Leben?
Das ist die Stärke an diesem ersten Buch von Murašov (am Ende, als ein schwerer Unfall, den Artur erleidet, seine Freunde in Alarmstimmung versetzt, hat er schon einmal mutig ein „To be continued …“ hingeschrieben), dass er gar nicht erst darauf eingeht, auf das ewige deutsche Diskutieren um Fremdsein, Integration, Assimilation und Subkultur.
Es ist das ganz normale verrückte Jugendleben, das sie führen. Mal mit Gelegenheitsjobs, mal mit übersprudelnden Ideen, was man alles so anstellen könnte, oft genug leicht jenseits jener Linie, die die braven Tugendwächter gezogen haben und an der die Polizei besonders aggressiv und rücksichtslos auftritt.
Rücksichtslose Polizeigewalt trifft auf junge Leute, die schon deshalb immer wieder neben sich stehen, weil sie den Faden in das Leben, das sie eigentlich führen wollen, nicht finden können.
Doch sie lassen sich nicht einschüchtern. Artur traut sich – nachdem er bisher alleine an seinen Tracks gefriemelt hat –, mit Kazim die ersten Rap-Songs einzuspielen. Und er findet den Mut, Nelja anzusprechen, die in einer dieser kleinen Bars als Kellnerin aushilft und kurz davor ist, den Sprung auf die Kunsthochschule zu schaffen.
So ähnlich wird sich Bobby später, als er ganz ohne Plan einfach nach Berlin aufgebrochen ist, trauen, Dilek anzusprechen. Dilek, die er noch aus der Schule kennt, die aber eines Tages verschwand, weil ihr Vater gewalttätig geworden war.
Und nun auf einmal traut sich Bobby aus Bielefeld, die schöne junge Frau mitten am Set zu einem Spielfilm, in dem er als Komparse auftritt, anzusprechen.
Das deutsche Wegsortiersystem
Würde Murašov seine Heldinnen und Helden nicht immer wieder auch mal in die Sprache ihrer Elternländer verfallen lassen, man würde vergessen, dass es Kids mit einem besonderen Hintergrund sind. Der eigentlich keiner ist, sondern nur Lebensgeschichte, Traumgeschichte, Familiengeschichte.
So, wie sie alle anderen Jugendlichen auch haben. Nur dass ihnen der Weg ins eigene Leben nicht immer so schwergemacht wird. Das Thema Schule lässt Murašov nicht aus. Denn hier werden in Deutschland die Weichen gestellt. Hier wird ausgesiebt, abgewertet und einsortiert.
Was für die so freundlich wegsortierten Kinder heißt: Entweder schicken sie sich in ein Leben, in dem sie immer nur kleine, prekäre Jobs haben werden und keinen ihrer Träume leben werden. Oder sie investieren Zeit, Kraft und Geduld, um ihre Vorstellungen von einem wirklich erfüllten Leben dann trotzdem zu erfüllen.
So, wie sie auch Zeit und Aufmerksamkeit in ihre Freunde investieren, mit denen sie eben nicht nur „abhängen“, sondern Dinge auf die Beine stellen. Neugierig auf die Lebensgeschichte der anderen. Nur dass das eben nicht der exotische Blick ist, den die distanzierten deutschen Bewerter immer wieder zeigen.
Denn ihre Schicksale ähneln sich. Sie kennen das Gefühl, immerzu irgendwo dazwischen zu hängen, nicht richtig dazuzugehören. Außer zu den Freunden, mit denen sie durch die Nächte ziehen.
Deren Träume sie anhören. Und sich selbst darin wiederfinden. Denn eins treibt sie alle an: Sie wollen was draus machen. Und sie wissen, dass es ihnen keiner schenken wird, dass sie sich selber was trauen und zutrauen müssen.
Auch wenn ausgerechnet Artur, der in Nelja seine große Liebe findet, das schwarze Loch in seiner Brust nie loswird.
Bielefeld ist überall
Sehr nuancenreich erzählt Murašov, schildert penibel das Outfit seiner Helden, zeigt uns ihre Wohnungen, lässt sie in stimmigen, vom Slang geprägten Dialogen über alles reden, was sie bewegt. Er zeigt sie auch in ihren Unsicherheiten, das, was in handelsüblichen Liebesromanen so schnell zu Kitsch und falschem Tüll gerät.
Denn wenn man selbst voller Selbstzweifel ist und an einem angekratzten Selbstbild leidet, ist jede Annäherung an andere ein Risiko, ist gar nicht sicher, ob man dann auch das Richtige tut und sagt. Was selbst Bobby erlebt, der genau da lieber kneift, wo für Dilek schon alles klar ist.
Die fünf Heldinnen und Helden in Murašovs Geschichte sind keine Charaktere aus dem Fertigteillager. Nur von außen wirken sie so, wenn andere Leute – wie etwa die Polizisten, die mit ihnen ruppig umspringen, ihr Mütchen an ihnen kühlen. So, wie es im Song „Polis“ deutlich wird.
Kein Wunder, dass es dort, wo eine ganz und gar nicht weltoffene Polizei in den jungen Leuten nur Störenfriede und Kleinkriminelle sieht, immer wieder zu Gewalt kommt. Die Probleme mit den Kids auf der Straße sind meist gar nicht ihre Probleme, sondern die einer Ordnungsmacht, die kein Verständnis hat und haben will.
Und die schon mal gar nicht interessiert, dass die jungen Leute Träume haben, Hoffnungen auf ein anderes Leben. Und nicht alle lassen sich so wenig einschüchtern wie Artur, Kazim, Nelja, Bobby und Dilek. Die andererseits ja genau für die Veränderung stehen, die unser Land längst prägt.
Nicht nur mit Musik und Kunst und solchen Büchern wie diesem. Und auch nicht nur in Bielefeld, über das so viele Witze gerissen werden. Aber Bielefeld ist überall. Und gerade Bobby mit seiner Unfähigkeit, für sich selbst Grenzen zu ziehen, zeigt, dass all die Animositäten und Aggressionen, mit denen die Diskussion über die Menschen „mit Migrationshintergrund“ geführt wird, Bullshit sind.
Nichts als die verkappten Ängste und Misslaunigkeiten von Leuten, die lieber Mauern und Grenzzäune bauen, als sich auf die Unsicherheit des Lebens überhaupt einzulassen.
Einsamer Asteroid im Universum
Und so erleben wir mit, wie die fünf ihr Leben tatsächlich anpacken, manchmal mit Bauchgrimmen, manchmal mit Übermut, meist mit vielen Überlegungen und Nachdenklichkeiten. Denn davor, dass es schiefgeht, haben sie trotzdem Angst.
Auch das kennen ja alle, dieses Gefühl, das gerade dann immer da ist, wenn wir uns wirklich mal was trauen. Aber wer sich nichts traut, erlebt auch nichts. Wird nie die Frau finden, die einen so herausfordert wie es Nelja tut. Wird nie wie Artur blass auf der Bühne stehen und dann trotzdem den größten Auftritt seines Lebens hinlegen.
Gerade weil Murašovs Helden so nachdenklich sind, gibt es viele Stellen im Buch, an denen sie sich jeweils aus ihrer Sicht Gedanken machen über die Verrücktheit ihres Lebens, über das, was sie als Glück empfinden.
Und das, was sie verunsichert. Fast zum Schluss, bevor der Anruf von Kasim kommt, dass Artur verunglückt ist, formuliert es Bobby zum Beispiel so: „Na ja, jedenfalls habe ich langsam das Gefühl, dass es okay ist, sich in dieses Chaos fallenzulassen und es einfach so anzunehmen. Früher dachte ich immer, dass dieses Chaos mich allem und jedem entreißt und ich darin einsam und verloren bin. Aber mittlerweile denke ich, dass es etwas Gutes ist.“
Nun hat er Dilek, ist mit ihr einfach nach Barcelona gedüst.
Vorher ging es ihm ganz ähnlich wie Artur: „Weißt du, ich habe schon lange das Gefühl, dass ich alleine bin und komplett haltlos durch dieses Leben treibe. Wie so ein einsamer Asteroid durch das Universum. Ohne zu wissen, wann und mit wem oder was ich zusammenstoße. Ich habe viel über mich und das Leben nachgedacht. Der Gedanke, dass alles nur ein einziges, riesiges, unkontrollierbares Chaos ist, zieht einen auf die Dauer echt runter.“
Irrwege, Sackgassen und Verbotsschilder
Es ist eben auch einfach ein Buch über das Jungsein und die Zeit des Chaos, die alle jungen Menschen durchmachen, meist misstrauisch und ängstlich beäugt von den Erwachsenen, die dieses Chaos nicht verstehen. Oder gar vergessen haben, dass es ihnen auch einmal so ging.
Vielleicht sollten also auch nicht nur junge Leute das Buch lesen und etliches darin finden, was ihnen nur zu vertraut sein dürfte. Vielleicht sollten es auch ihre Eltern und andere alt gewordene Menschen lesen, die den Aufruhr ihrer Jugend vergessen haben.
Oder – was wohl sehr häufig vorkommt – das eigene Chaos vor Augen haben, das sie überwunden glaubten. Und nun sind es die Kinder und Enkel, die ihren Weg suchen in einer Welt voller Irrwege, Sackgassen und Verbotsschilder. Wer das so nicht erlebt hat, hat nicht gelebt.
Und hat auch nie gespürt, was Bobby ganz zu Anfang zu Artur sagt, während sie auf das Flugzeug warten, das nicht kommt: „Aber ich möchte nicht für immer irgendein Niemand sein. Weißte? Die meisten verschwinden einfach wieder von der Bildfläche, ohne dass irgendwer gecheckt hat, dass sie überhaupt da waren. Das ist schon Scheiße, Alter.“
So fängt das alles an.
Und manchmal wird daraus so ein Buch, das wahrscheinlich lange schmorte, bis es mit dem Katapult Verlag endlich eine Heimat fand, mit Illustrationen von Malik Heilmann gespickt, die das Lebensgefühl von 2006 auf ihre Weise transportieren.
Andrej Murašov Alles Gold Katapult Verlag, Greifswald 2022, 24 Euro.
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