Dieses Buch reicht für 61 Tage. Jeden Tag eine kleine Geschichte. So klein, dass man sie zwischen Zähneputzen und Einschlafen lesen kann. Und dann darf man träumen und es kann durchaus passieren, dass man in der Welt von Jörn Hühnerbein landet. Eine Welt gleich neben unserer Welt. Hinter der nächsten Hecke, hinter der Stubentür. Das Seltsame an unserem Leben ist immer gleich nebenan. Wir leben mittendrin. Hühnerbein weiß es.

Von der Ostseeküste hat es den Liedermacher und Autor ins schöne Mittelsachsen verschlagen, nach Roßwein. In eines von diesen Städtchen, die immer im Schatten anderer Städte lagen und so ein bisschen vor sich hin existieren, ohne große Ambitionen. Städtchen, in deren Mitte auch durchaus ein riesiges Loch ins Nichts existieren könnte wie in einer von Hühnerbeins kleinen Geschichten, die den Titel Kurzprosa allesamt verdient haben.

Andere hätte vielleicht sogar Kurzroman draufgeschrieben. Denn jede einzelne der 61 kleinen Geschichten lebt von einer Idee, einem jener unverhofften Einfälle, die Leuten kommen, die sowieso immer mit wachem Geist durch ihr Leben laufen, immerfort gespannt auf Neues, auf Überraschendes und Ungewohntes. Die auch beim Umzug in eine kleine sächsische Stadt nicht aufhören, das Verwirrende im Leben zu registrieren und über sich selbst, ihre Gedanken und die Welt drumherum nachzudenken. Sich nur allzu sehr dessen bewusst, dass selbst das schier Allergewöhnlichste höchst seltsam ist, wenn man es nur recht bedenkt.

Es passiert immer was

Die verrücktesten Geschichten stecken in den zufälligsten Gedanken. Und Hühnerbein ist reich daran. Vielleicht reicher als andere. Vielleicht nur aufmerksamer, weil das Leben in so einer kleinen Stadt sowieso viel unaufgeregter ist als etwa in L. oder D. Die Leute sind nicht so gestresst, haben mehr Zeit zum Klönen und Murren und zum Aus-dem-Fenster-Gucken. Mal sehen, ob was passiert. Weil ja meistens nichts passiert.

Oder nur lauter Dinge, die sonst auch passieren. Im Garten zum Beispiel, in den auf einmal Tiere einziehen. Im Wohnzimmer, in dem auf einmal ein stiller rauchender Mann sitzt, ohne dass die Heldin der Geschichte weiß, wie er da hingekommen ist. Aber im Unterschied zu all ihren vorigen Lebensabschnittsbegleitern macht er keinen Stress, ist nur da, ist freundlich und tut sonst nichts.

Man merkt schon, dass in diesem Hühnerbein auch ein Lebensphilosoph steckt. Das, was eigentlich in einem guten Autor immer stecken sollte. Wer nicht nachdenken mag über die Seltsamkeit des eigenen Daseins, der sollte vielleicht keine Geschichten schreiben. Denn gute Geschichten entstehen immer aus dem Wundern über das unmöglich Denkbare. Und das möglicherweise Undenkbare. Aus dem leichten Schaudern, wenn uns ein komischer Gedanke daran erinnert, dass wir uns – so als menschliche Spezies – sowieso sehr seltsam benehmen. Als wären wir nicht ganz bei Trost.

Da demolieren wir die schönste aller Welten mit stupender Fantasielosigkeit, nehmen das aber hin, als wäre das ein Naturereignis!

Da landen schon einige von Hühnerbeins Geschichten in einer Szenerie, in der die irre Hatz der Menschen, ihre Zerstörungslust schon für tabula rasa gesorgt hat. Verwüstete Welten, in denen ein paar Überlebende trotzdem weiterzumachen versuchen im alten Trott. Oder wie wirken eigentlich all die künstlichen Traum-Erzeuger, die die Supermärkte der Städte mit lauter künstlichen Welten füllen, während den Menschen der Schlaf und die Träume verloren gehen. Wie würde sich da ein Geschäft mit alten, gebrauchten Träumen lohnen?

Was Leuten so passiert

Und was passiert eigentlich, wenn eine von Vegetarismus und der Wiedergeburt zutiefst überzeugte Person dann einfach als Grashalm wiedergeboren wird? Einer von Millionen Grashalmen, die dann ihr Glück im Maul eines Schafes finden?

Manche Geschichten sind ganz dicht neben der Wirklichkeit angesiedelt, die ja selbst schon diffus ist und sich manchmal sehr eigenartig anfühlt, etwa wenn man den alten Vater zu sich nach Hause geholt hat, der sich aber zunehmend in eine wortlose Puppe verwandelt, die steif und hölzern da sitzt, wenn die Kinder mit ihm spielen wollen.

Viele Geschichten sind regelrechte kleine Biografien von Leuten, denen ihr Leben zustößt, als könnten sie nichts dafür. Ein Mann ist so nachlässig, dass er nach dem Frühstück seine Hände am Frühstückstisch vergisst. Die er aber auch gar nicht braucht, weil er sowieso nur die Ellenbogen benutzt, um sich durch den Alltag zu drängen. Einer beschließt kurzerhand, fortan sein Leben im Kühlschrank zu verbringen, bei einer angenehm kühlen Temperatur.

Und dem Bombenentschärfer Berjukow passiert zwar nichts. Aber wenn er im Schutzanzug allein zur Bombe geht, ist er so einsam wie kein anderer Mensch auf der Welt und wird diese Einsamkeit auch nicht los, wenn er danach, zutiefst ermüdet, zu seiner Familie zurückkehrt.

All dessen müd’ …

Und auch Xi Lhu, der in Bielefeld gestrandete Chinese, ist nur noch müde und kann nicht schlafen. Vielleicht auch, weil er in der Heimat, die er verlassen musste, schon einsam war. Und diese Einsamkeit auch in der Fremde wiederfindet. Natürlich ermüdet das einen zutiefst, wenn man überall auf der Welt auf die Bösartigen trifft, die nur daran denken, anderen das Leben zur Hölle zu machen.

Hühnerbein kann es nachempfinden, lässt auch solche müden Fremden in dem kleinen Städtchen landen, eigentlich gar nichts Besonderes tun. Aber sie stehen so sehr unter Beobachtung, dass der Beobachter das Allerschlimmste in jedes Geräusch deutet, das aus ihrer Wohnung dringt.

Manchmal muss man die Wirklichkeit nur ein wenig aus einer anderen Perspektive betrachten – und auf einmal merkt man, wie fatal, schäbig und auch falsch die gewöhnlichen Vor-Urteile der Menschen sind. Etwa wenn der Held in „Ich bereue nichts“ nach zehn Jahren aus dem Knast kommt und eine Welt vorfindet, in der die Menschen noch gestresster, noch gehetzter sind, wie ferngesteuert, mit kleinen Geräten am Ohr. Eine Welt, die viel kälter und haltloser wirkt als die Welt hinter Gittern.

Manche von Hühnerbeins kleinen Geschichten treiben einfach den Nonsens unserer Zeit auf die Spitze – „Lous Tag“ etwa, in dem die bis zur Perfektion getriebene Effizienz in einem Pflegeheim zur endgültigen Perfidie perfektioniert wurde.

Nur dass das Denken dahinter keineswegs fantastisch ist, sondern genau die Denkweise, wie in Deutschland mit Pflegekräften und den ihnen Anvertrauten umgegangen wird.

Nichts ist in Ordnung

Das Verrückte, aus dem Lot Geratene, ist überall. Die meisten Menschen sehen es nur nicht mehr, blenden es aus. Tun so, als wäre trotzdem alles in Ordnung. Doch nichts ist in Ordnung. In dieser Beziehung ist Hühnerbein ein Geistesverwandter von Kafka, also ein selten gewordenes Exemplar von Beobachter in einer Welt, in der die meisten Menschen wie selbstverständlich auf der Galeere rudern, sich antreiben lassen. Denn: „Unsere Galeere ist ein modernes Schiff …“

Man darf verstört sein. Wer das Sinnlose als normal begreift, der bemerkt es nicht mehr. Der merkt nicht, in was für seltsamen Geschichten und Ereignissen man landet, völlig ungewollt und unerwartet. Vielleicht merkt man das noch eher beim stillen Sitzen im Garten in einem sächsischen Städtchen, wenn man sich so das Treiben des Dachses, des Spechts und des Igels beschaut, der einem einfach viel mehr Trost spendet als irgendein am Weltall herumwerkelnder Gott. Der Igel ist immer da.

Vielleicht braucht man diese Ruhe (während die Frau drinnen mit dem Mittagsgeschirr klappert und den Kuchen bäckt), um diese kleinen, flüchtigen Sätze zu fassen zu bekommen, die einem beim richtigen Müßiggang erst durchs Hirn huschen. Und in denen schon die ganze Geschichte steckt, die nur noch auf ein, zwei Seiten erzählt werden muss. Bis zum Stutzen und Staunen. So ein Satz zum Beispiel: „Ich verdiene mein Geld mit Warten …“

Reden übers Wetter

Geldverdienen mit Warten? Das tun zwar etliche Leute, auch wenn sie eigentlich für etwas anderes bezahlt werden. Aber der Held in dieser Geschichte hat das Warten tatsächlich zu seiner Profession gemacht. Denn er weiß, wie viele Menschen das Warten auf etwas als Last und Belastung empfinden und deshalb zum Eigentlichen nicht kommen.

So wie sie mit Gerede über das Wetter, das gerade ist, überspielen, dass sie eigentlich über all ihre Probleme und Wehwehchen nicht wirklich nachdenken wollen. Aber wehe, das Wetter verschwindet und es gibt nichts mehr über Regen und Sonnenschein zu sagen. Wie still wird es dann in der Welt?

Was bleibt dann noch zu erzählen vom Leben in einer „Stadt ohne Namen?“ Vielleicht dies: „Die Gesetze der Zeit sind außer Kraft gesetzt. Die Kirchturmuhr schlägt, wie sie will.“

Und trotzdem kann man an so einem Ort zufrieden sein. Wenn man, wie Hühnerbein, die Kunst beherrscht, „sich einfach am Morgen einen Gott“ zu erfinden, dem man dient. Oder eine Geschichte aufzudröseln, wenn man ihres Anfangs habhaft geworden ist, staunend darüber, was alles dabei herauskommt, wenn man sie einfach weitererzählt bis zu dem Punkt, an dem sie eine höchst sonderbare Wendung nimmt.

So wie eben alles, was unser Leben wirklich so seltsam gehaltvoll macht, so wundersam, dass man auch an Tagen ohne Wetter etwas zu erzählen hat.

Jörn Hühnerbein Tagebuch für später, kul-ja! Publishing, Erfurt 2022, 15 Euro.

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