Untertitelt hat der Mediziner, Psychiater und Neurowissenschaftler Philipp Sterzer sein Buch mit āWarum wir von unseren Ćberzeugungen nicht zu Ć¼berzeugt sein solltenā. Das klingt fast so, als hƤtte das auch ein kluger Philosoph vor 250 Jahren so schreiben kƶnnen. Aber diesmal geht es nicht um Philosophie, sondern darum, was sich mƶglicherweise wirklich in unserem Kopf abspielt. Und warum Ćberzeugungen so trĆ¼gerisch sein kƶnnen.
Was die Philosophen der AufklƤrung natĆ¼rlich nicht wissen konnten, war ja tatsƤchlich, was da in unserem SchƤdel vor sich geht, wie wir die Signale, die unsre Sinnesorgane aufnehmen, in unserem Gehirn verarbeitet bekommen.
Dazu brauchte es erst die modere Hirnforschung, die in hunderten ausgeklĆ¼gelter Experimenten so nach und nach ein Bild davon zu bekommen versucht, wie unser Gehirn mit den Informationen der AuĆenwelt umgeht und daraus eine Welt konstruiert.
Denn einen direkten Zugang zur Welt haben wir ja nicht. Wir sehen nicht, was ist, sondern das, was unser Gehirn aus den Signalen, die Ć¼ber die Nervenbahnen hereinkommen, konstruiert. NatĆ¼rlich konstruiert es nicht irgendetwas.
Es schafft ja tatsƤchlich eine einigermaĆen stimmige Darstellung der Welt, in der wir leben. Man kann ja Babys regelrecht zuschauen dabei, wie diese Welt in ihrem Kopf Gestalt gewinnt und sie beginnen, Farben, Formen und Laute zu unterscheiden und immer besser zuordnen kƶnnen, was da um sie herum geschieht.
Fixe Ćberzeugungen
Aber weil das scheinbar so perfekt funktioniert, gehen natĆ¼rlich die meisten Menschen davon aus, dass das, was ihnen ihr Gehirn als Welt zeigt, tatsƤchlich ein wahres Bild der Welt ist. Und das hat Folgen.
Denn nicht nur konstruiert unser Gehirn die Welt, die wir wahrnehmen, immer wieder neu und arbeitet dabei so effizient, dass wir gar nicht mehr merken, wie sehr es immer noch eine Konstruktion ist, in der blinde Flecken Ć¼berspielt werden und wir oft sogar nur sehen, was wir sehen wollen.
Wir laufen auch dann auch mit fixen mit Erwartungen und Ćberzeugungen durch die Welt. Und das ist auch nichts Schlimmes ā denn das macht es unserem energiehungrigen Gehirn leichter.
Wenn die Welt unseren Erwartungen entspricht und die Vorstellung, die wir von ihr haben, mƶglichst gut dazu passt, kƶnnen wir in den Gewohnheitsmodus schalten und sparen dabei jede Menge Energie. So lebt es sich relativ stressfrei. Zumindest bis zu dem Moment, da das, was uns passiert, nicht mehr zu unseren Erwartungen passt.
Stƶrungen lieben wir Ć¼berhaupt nicht. Unstimmigkeiten auch nicht. Wenn die Welt, von der wir glaubten, sie vollkommen verstanden zu haben, aus den Fugen gerƤt, geraten wir in Stress. Und darauf reagieren Gehirne durchaus unterschiedlich. Je nach Veranlagung.
IrrationalitƤt ist keine Krankheit
Philipp Sterzer hat sich als Psychiater auch mit Schizophreniepatienten und Menschen, die unter Wahnvorstellungen leiden, beschƤftigt. Als Arzt weiĆ er, wie schwer die Diagnose ist und dass es die eindeutigen Klassifikationen dafĆ¼r nicht gibt.
Was ihn als Forscher auf den Gedanken brachte, IrrationalitƤt einmal anders zu betrachten und nicht als Symptom einer Krankheit. Seit zehn Jahren beschƤftigt er sich intensiv mit dem Stoff, hat sich in Studien vertieft, die sich weltweit mit der Frage beschƤftigen, wie Menschen zu Wahnvorstellungen kommen, wie sie damit leben und wie das ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit beeinflusst.
Ein ganz diffiziles Feld. Das wissen die Neuroforscher nur zu genau. Denn irrationale Vorstellungen sind nicht nur Menschen mit klinischen Befunden eigen. Sie sind weit verbreitet. Und sie kommen bei sehr vielen Menschen vor, wenn man die Definition tatsƤchlich auf irrationale Vorstellungen erweitert, sogar bei allen. Selbst Wissenschaftler sind davor nicht gefeit, weiĆ Sterzer.
Die Wissenschaftsgeschichte ist auch gespickt mit Sackgassen, falschen Hypothesen, regelrechten Glaubensvorstellungen, die in wahren Glaubenskriegen berĆ¼hmter Professoren ausgetragen wurden. Weshalb die Wissenschaft ja ein ganzes Instrumentarium entwickelt hat, um Hypothesen Ć¼berprĆ¼fbar zu machen. Und die klĆ¼geren Wissenschaftler wissen, wie elementar der Zweifel ist. Auch an den eigenen Meinungen und Ćberzeugungen.
Deswegen wird ein richtiger Wissenschaftler niemals absolute Wahrheiten verkĆ¼nden. Das macht es Laien oft schwer, wissenschaftliche ĆuĆerungen Ć¼berhaupt ernst zu nehmen. Was ja in der Corona-Zeit, in der Sterzer an seinem Buch arbeitete, nur zu gut zu beobachten war. Da hieĆ es schnell: āNa, wenn die es nicht wissen ā¦ā
Vermutungen Ć¼ber das, was wirklich ist
Aber Wissenschaft āweiĆā nicht. Wissenschaftler sind sich nur zu gut dessen bewusst, dass wir mit unserem in unserem SchƤdel eingehausten Gehirn die Welt nie wirklich absolut erfassen kƶnnen. Auch wissenschaftliche Hypothesen sind zuallererst nur Vermutungen Ć¼ber das, was wirklich ist.
Vermutungen, die mit immer neuen Experimenten Ć¼berprĆ¼ft und auf ihre Haltbarkeit hin getestet werden mĆ¼ssen. Sie gelten nur so lange als wissenschaftliche Arbeitshypothese, bis sie widerlegt oder durch eine stimmigere Hypothese ersetzt werden.
Bis dahin gilt: Es ist das derzeit bestmƶgliche Konstrukt zur Beschreibung der Welt da drauĆen. Und es erklƤrt uns das, was da passiert, so gut wie mƶglich.
Und das VerblĆ¼ffende ist: Genau so arbeitet unser Gehirn. Es konstruiert sich ein mƶglichst stimmiges Bild von der AuĆenwelt, das dann meistens ein Leben lang halten muss. Auch wenn den meisten gar nicht bewusst ist, dass es eine Konstruktion ist und schon die nƤchsten Mitmenschen vƶllig andere Konstrukte im Kopf haben kƶnnen.
Was ja nichts macht, wenn man sich nur Ć¼ber die wesentlichsten Dinge relativ einig ist. Ganz einig ist man sich sowieso nie.
Die (Un-)Berechenbarkeit der Welt
Und ein bisschen IrrationalitƤt ist immer dabei. Manchmal sogar sehr viel. Und meistens stƶrt es auch nicht weiter, wenn die irrationale Ćberzeugung, wie die Dinge so funktionieren, trotzdem ein Ćberleben sichert. Vielleicht sogar ein Ćberlebensvorteil ist. So seltsam das klingt. Aber wir konstruieren uns ja die Welt nicht nur im Kopf.
Es ist ja noch faszinierender: Wir projizieren sie geradezu. Unser Gehirn baut immerfort schon einen Erwartungshorizont, lƤsst uns in eine Welt hineinlaufen, die eben nicht erst im Moment des Wahrnehmens vor unseren Augen erscheint, sondern in gewisser Weise schon da zu sein scheint.
Die Welt geschieht fĆ¼r uns, wie wir sie erwarten. Was eher weniger mit der Welt zu tun hat, als mit unseren Erwartungen und Ćberzeugungen. Und Ćberzeugungen haben wir alle. Sie machen uns das Leben leichter, geben uns das GefĆ¼hl, dass dennoch alles irgendwie mit rechten Dingen und berechenbar ablƤuft in der Welt.
Im Gehirn passiert das wie mit einem Filter. Wir nehmen zwar die Signale aus der AuĆenwelt permanent wahr. Aber Aufmerksamkeit bekommen eigentlich nur die Stƶrungen, mit denen das Gehirn dann durchaus unterschiedlich umgeht. Werden sie als geringfĆ¼gig eingeschƤtzt, werden sie kaum wahrgenommen. Werden es zu viele und zu heftige, reagieren wir irritiert und gestresst.
Denn dann haben wir ein Wahrnehmungsproblem. Dann funktionieren unsere Ćberzeugungen nicht mehr richtig. Und das halten wir ganz schwer aus. Das macht uns richtig Stress, wenn die VerƤnderungen in der AuĆenwelt mit unseren Ćberzeugungen nicht mehr Ć¼bereinstimmen.
Und das ist der Punkt, an dem der Forscher die Ćberschneidungen mit den Symptomen der Patienten sieht, die mit Wahnvorstellungen auf dem Sessel des Psychiaters landen. Es sind oft hochintelligente Leute, die aber augenscheinlich Vorstellungen von der Welt entwickelt haben, die mit rationalen ErklƤrungen nicht zu begreifen sind.
Aber sie haben denselben Ursprung wie unsere scheinbar vƶllig rationalen Vorstellungen von der Welt: Sie bieten ein Bild davon, wie die Welt der Patienten aus ihrer Perspektive erklƤrbar wird. Und das ist wichtig. Sterzer kommt mehrfach darauf zurĆ¼ck. Wir sind allesamt dringend darauf angewiesen, dass die Welt fĆ¼r uns erklƤrbar ist, dass die Wirklichkeit, in der wir uns bewegen, einen Sinn ergibt.
FlieĆende ĆbergƤnge
Und die Unterscheidung zwischen ānormalā und āverrĆ¼cktā ist eben ganz und gar nicht eindeutig. Augenscheinlich ist es sogar so, dass die Neigung zu irrationalen Vorstellungen innerhalb aller Menschengruppen wohl wieder der berĆ¼hmten GauĆschen Verteilungskurve Ƥhnelt: Die meisten Menschen sind mehr oder weniger rational.
Doch die ĆbergƤnge zum Irrationalen oder gar verfestigten Wahnvorstellungen sind flieĆend. Es gibt keine eindeutige Grenze, an der āNormalitƤtā in āVerrĆ¼cktheitā kippt. Und das kƶnnte sogar evolutionƤr eine adaptive Rolle spielen, stellt Sterzer fest.
Denn diese āfalschenā Vorstellungen von der Welt kƶnnten sogar ein Ćberlebensvorteil gewesen sein in einer Welt, in der es besser war, lieber Ć¼berall Raubtiere zu vermuten, als nur ein einziges Raubtier zu spƤt erkannt zu haben. Man merkt, dass er den Evolutionsbiologen Richard Dawkins mag, den er mehrfach zitiert.
Eben weil Dawkins so deutlich wie kein anderer formuliert hat, dass es in der Evolution immer darum geht, ob es eine Art schafft, ihre Gene weiterzugeben oder nicht. Wer seine Gene nicht weitergeben kann, hat keine Nachfahren. Die Art stirbt aus.
Und manches deutet darauf hin, dass die FƤhigkeit zu irrationalem Denken fĆ¼r den Menschen durchaus ein Pluspunkt in der Evolution gewesen sein kƶnnte. Vielleicht sogar noch ist. Denn mƶglicherweise ist diese āFƤhigkeitā besonders mit der KreativitƤt verbunden.
Was ja nur logisch ist: Wer sich die verrĆ¼cktesten Sachen vorstellen kann, der verwandelt sie oft genug auch in Kunstwerke. Oder Erfindungen. Wahn und Phantasie leben quasi in benachbarten KƤmmerchen.
Die Konstruktion der Welt im Kopf
Und wahnhafte Vorstellungen fĆ¼hren eben nicht zwangslƤufig auf die Couch des Psychiaters. Manchmal fĆ¼hren sie auch ein unauffƤlliges Eigenleben und stƶren nicht weiter, weil der Betroffene sich ansonsten so ānormalā verhƤlt wie wir anderen auch. Er muss gar nicht āgeheiltā werden.
Und Sterzer merkt ebenso auch des Ćfteren an, dass man dabei nicht nur an die Menschen denken darf, die dann mit ihren Symptomen beim Arzt landen. Denn auch wahnhafte Ćberzeugungen sind Ćberzeugungen. Und damit fĆ¼r die Betroffenen stimmende ErklƤrungen fĆ¼r die Welt. So wie wir fest der Ćberzeugung sind, dass unsere Ćberzeugungen das richtige Bild von der Welt abgeben.
Auch wenn zumindest die wissenschaftlich Denkenden unter uns festgestellt haben, dass es solche richtigen Bilder nicht gibt, sondern eben nur die faszinierenden Konstruktionen der Welt durch unser Gehirn. Die wir jederzeit Ć¼berprĆ¼fen und hinterfragen kƶnnen.
Aber irgendwann sind das eben nicht nur Ćberzeugungen, sondern wichtige Komponenten unseres Ichs. Da tut es dann richtig weh, wenn jemand unsre Ćberzeugungen infrage stellt. Oder einfach nur seine Ćberzeugungen dagegenstellt ā und dann? Welche ist die richtige?
Wissenschaftler lernen zumindest mit der Zeit, auch die eigenen Ćberzeugungen immer zu hinterfragen und fĆ¼r mƶglich anzunehmen, dass sie nicht stimmen kƶnnen. Was wichtig ist, wenn man seine Hypothesen Ć¼berprĆ¼ft und auf einmal Ergebnisse bekommt, die nicht zum Erwarteten passen.
Ein PhƤnomen, das auch Kriminalpolizisten kennen, die oft schon frĆ¼h einen schweren Verdacht und einen VerdƤchtigen im Auge haben. Und oft die Indizien Ć¼bersehen, die gegen den Verdacht sprechen und auf einen ganz anderen TƤter hinweisen.
Wenn es keine letztgĆ¼ltigen Antworten gibt
Das hat alles mit demselben PhƤnomen zu tun: Dass sich unser Gehirn ganz schwer damit tut, Fakten, die nicht zu den so lange gelebten eigenen Ćberzeugungen passen, Ć¼berhaupt wahrzunehmen und dann die eigene Ćberzeugung gar infrage zu stellen.
Dass genau diese Denkweise in eine Denkfalle fĆ¼hren kann, hat nicht nur Sterzer in der Corona-Zeit erfahren. Denn sein Buch hat er ausgerechnet in dieser Zeit geschrieben und war dann selbst sehr Ć¼berrascht, welche Wucht auf einmal IrrationalitƤt und Verschwƶrungstheorien bekamen. Dass so etwas in Krisenzeiten mƶglich ist, war ihm schon bewusst. Aber die Heftigkeit hat auch ihn zumindest Ć¼berrascht.
Andererseits auch bestƤtigt, was er schon vorher ahnte: Gerade in Zeiten, in denen die VerƤnderungen fĆ¼r die Menschen nicht mehr fassbar und Ć¼berschaubar sind, neigen viele dazu, sich in scheinbar logische ErklƤrungen fĆ¼r das Unfassbare zu flĆ¼chten.
Menschen halten unerklƤrliche ZustƤnde nicht wirklich gut aus. Da hilft dann oft auch nicht die Wissenschaft, die ja alles Mƶgliche liefert ā nur keine letztgĆ¼ltige Antwort. Da wĆ¼rde sie ihr eigenes Feld verlassen und selbst irrational werden.
Denn auch in FƤllen wie einer Pandemie arbeitet die Forschung mit Hypothesen, sucht nach der bestmƶglichen ErklƤrung fĆ¼r das, was passiert und nach mƶglichen Lƶsungen dafĆ¼r. Ohne Sicherheit, dass es am Ende hundertprozentig funktioniert, sondern vielleicht nur zu 60 oder 70 Prozent.
Das Alles-oder-nichts-Denken ist ja in unseren Kƶpfen ebenfalls zu Hause, obwohl es mit der Wirklichkeit auch nichts zu tu hat. Alle biologischen PhƤnomene geschehen immer mit Variationen. Gerade in der belebten Natur verƤndert sich alles. Und zwar immerfort. Wir leben in einer Welt, die keinen Status Quo kennt, sondern immer nur ĆbergƤnge. Das beiĆt sich logischerweise immer wieder mit unseren Ćberzeugungen, die wir so gern als fest und unverƤnderlich denken.
Obwohl es klĆ¼ger ist, immer mitzubedenken, dass die Dinge nicht so bleiben, wie sie sind. Dass es auch bƶse und unerwartete Ćberraschungen geben kann. Und dass wir in den meisten FƤllen auch nicht erfahren, wer der TƤter war. Oder warum ausgerechnet uns das passiert ist, wo wir doch nun einmal in unserer Kopfwelt der wichtigste Mensch sind. Warum also gerade uns?
Ćberzeugungen als Selbstschutz
Sterzer betont im Nachwort noch einmal extra, dass natĆ¼rlich auch sein Ansatz erst einmal noch eine Hypothese ist, die zwar auf vielen jĆ¼ngeren Studien und Experimenten aufbaut. Aber gerade wenn es um unserer Selbstbild im Kopf geht, wird es ganz schwierig, zu eindeutigen Aussagen zu kommen.
Man kann nur mit vielen klugen Experimenten ein mƶglichst genaues Bild davon herausarbeiten, wie z. B. unsere Ćberzeugungen tatsƤchlich funktionieren und wie unser Gehirn reagiert, wenn diese Selbstverortung in der Welt gestƶrt wird. Oder gar radikal untergraben.
Denn diese Ćberzeugungen sind auch ein Selbstschutz. Sie entlasten uns. āEs geht darum, Angst zu reduzieren, die durch irritierende Informationen entsteht, durch Unsicherheit und Chaos in der Welt, durch scheinbar widersprĆ¼chliche Informationen. In dieser Hinsicht haben wahnhafte Ćberzeugungen dieselbe Funktion wie ānormaleā Ćberzeugungenā, schreibt Sterzer.
āJe grƶĆer der Bedarf fĆ¼r die Reduktion von Unsicherheit ist, desto stƤrker wird an den Ćberzeugungen festgehalten, desto vehementer verteidigt man sie gegen Gegenargumente und widersprechende Evidenz.ā
Und da verblĆ¼fft es dann auch auch nicht, wenn gerade in einer Zeit der vƶllig chaotischen InformationsĆ¼berflutung Wahnvorstellungen und Verschwƶrungstheorien allerorten sprieĆen. Der Mensch hƤlt dieses Chaos nicht aus, fĆ¼hlt sich darin verloren und sucht sich natĆ¼rlich eine Gruppe, in der er sich verstanden fĆ¼hlt und eine ErklƤrung fĆ¼r all die Dinge zu finden glaubt, die ringsum passieren.
Auch das reduziert die Angst, auch wenn es natĆ¼rlich nicht dabei hilft, ein rationales Bild vom Zustand der Welt zu bekommen. Aber ā das erwƤhnt Sterzer ganz zum Schluss ā das Wissen um diesen Mechanismus kƶnnte zumindest ermƶglichen, dass wir uns dann nicht gegenseitig die SchƤdel einschlagen, sondern auch die Leute weiterhin als Menschen akzeptieren, die aus unserer Sicht her vƶllig irrational agieren.
Orientierung in einer chaotischen Welt
ĆberbrĆ¼cken wird man die Kluft dann vielleicht nicht. Aber vielleicht Ć¼ber ganz normale Dinge sprechen und zumindest einander signalisieren, dass man nicht aufhƶrt, ein Mensch zu sein, wenn man irrationale Vorstellungen von der Wirklichkeit hat. Manchmal erleichtern sie einem einfach den Umgang mit einer als vƶllig chaotisch erlebten Welt.
Oder ā mit Sterzers Worten: āDie Maschine lƤuft weiter, allerdings mit eingeschrƤnkter Funktion, nƤmlich unter Zuhilfenahme von Ćberzeugungen, die mit der RealitƤt nicht mehr Ć¼bereinstimmen. In einer subjektiv als unsicher erlebten Welt sorgt die Ausbildung eines paranoiden Wahns dafĆ¼r, dass der/die Betroffene zumindest eingeschrƤnkt weiterfunktioniert.ā
Und das kƶnnte eben nicht nur auf Menschen zutreffen, bei denen paranoide Wahnvorstellungen diagnostiziert werden. Sondern auch auf ānormaleā Menschen, die mit einer irrationalen Vorstellung wieder so etwas wie KohƤrenz in ihr Leben bringen. āDass ein wiedererlangtes GefĆ¼hl von Sinnhaftigkeit und Kontrolle etwas ist, das man nicht so leicht wieder aufgeben will, ist einleuchtendā, schreibt Philipp Sterzer.
Philipp Sterzer Die Illusion der Vernunft Ullstein Verlag, Berlin 2022, 23,99 Euro.
Keine Kommentare bisher