Oft wirken moderne Verkehrsinfrastrukturen wie Barrieren. Sie beschränken die Bewegungsfreiheit der Menschen, die vor Ort nach kurzen Wegen suchen, und auch die Aussicht. Das erleben nicht nur die Seehausener seit Jahren. Das erleben auch die Leipziger, wenn sie westwärts auf die Elster-Luppe-Aue schauen. An der A 9 ist im Grunde die Welt zu Ende. Dahinter ist Ausland, auch wenn sich dort die Aue erst richtig zu einer geschichtsträchtigen Landschaft weitet.

Doch nicht nur die Autobahn zerschneidet sie. Sie ist auch von Flussregulierungen und Kohlebergbau in Mitleidenschaft gezogen wurden. Jahrzehntelang lag sie im Windschatten der riesigen Chemie-Komplexe in Leuna und Schkopau. Das Chemie-Zeitalter ist nicht zu Ende. Aber der rücksichtslose Umgang mit der Umwelt der Menschen. Insbesondere der schmutzige Teil der Chemieindustrie der DDR wurde nach 1990 abgerissen. Damit verschwanden freilich auch zehntausende Arbeitsplätze. Und eine Lebens- und Arbeitswelt, die man vielleicht doch nicht so einfach vergessen und entsorgen sollte.

Das Kulturhaus der Buna-Werke in Schkopau

Im ersten Band dieser nun vierten „Streifzüge durch die Elster-Luppe-Aue“, die der Arbeitskreis Döllnitz e.V. herausgegeben hat, spielt deshalb auch ein Gebäude die Hauptrolle, das „an der Saale hellem Strande“ heute noch von einer Zeit erzählt, als die frisch gegründete DDR noch ein großes Ziel verfolgte: die Arbeiter an die Kultur heranzuführen.

Und das ließ sich das Land etwas kosten, denn überall auf dem Gebiet der DDR entstanden damals Kulturhäuser, in der Regel mitten in den großen Industriebetrieben, mitten im Werk, sodass die Werktätigen (aus denen ja heute die blässlichen Erwerbstätigen geworden sind) gleich nach Schichtende hineingehen konnten und Kultur erleben konnten. Besser noch: Sie selbst gestalten.

Deswegen ist schon allein die beigelegte DVD ein Kleinod – ein 2009 entstandener Film über das grandiose Kulturhaus des VEB Chemische Werke Buna in Schkopau. Mehrere Beiträge im ersten Band erzählen die Geschichte der Buna-Werke, des Kulturhauses und der Entstehung des Films, an dem Peter Goedel und Helga Storck über zehn Jahre lang arbeiteten, bis sie endlich überhaupt einen Geldgeber fanden, der die Fertigstellung des Films finanzierte. Doch den fanden sie nicht in Mitteldeutschland, sondern in Bayern.

Denn beim MDR war man 1998 noch nicht so weit, den Wert der ostdeutschen Geschichte überhaupt zu begreifen. Ganz zu schweigen davon, dass ein mit Gebühren bezahlter öffentlicher Rundfunk auch einen Auftrag hat, Geschichte zu bewahren, Augenzeugen zu befragen und eben nicht nur dem Zeitgeist hinterher zu senden.

Große Erwartungen

Was eben zur Folge hat, dass gerade in den wertvollen Jahren von 1990 bis 2000 die Chance vertan wurde, die Menschen noch einmal zu Wort kommen zu lassen, die die DDR noch in den 1950er, 1960er Jahren erlebt hatten. Die eben auch den anderen Teil der Geschichte erzählen konnten, der mit einer großen Erwartung zu tun hatte. Der Film deutet es an, mit welchem Anspruch das Land gestartet war und dass es sogar verschwenderisch sein konnte, wenn es um eine so kühne Idee wie die kulturelle Bildung und Aktivierung der Arbeiter ging.

An einer Stelle im Buch fällt die Zahl von bis zu 1.200 Kulturhäusern, die genau in der Zeit aus dem Boden gestampft wurden, als überall noch Ruinen standen und das Land überhaupt erst einmal wieder auf die Beine kommen sollte. Und nicht nur das Land – auch die Menschen darin, von denen wenigstens einige kluge Funktionäre wussten, dass die meisten sehr bereitwillig den Nationalsozialisten nachgelaufen waren.

Ein neues Menschenbild musste her. Und das hatte in Zeiten eines Johannes R. Becher und seines Nachfolgers als Kulturminister Hans Bentzien viel mit kultureller Bildung zu tun. Denn zu der hatten Arbeiter zuvor kaum Zugang. Kultur – egal, ob Theater, Oper, Galerie, Konzert oder Ballett – war für den normalen Arbeiter in Deutschland außerhalb seiner Möglichkeiten. Zu teuer, zu nobel, zu elitär.

Die Kunst musste zum Volke kommen. Und sie kam – mit Kulturhäusern wie denen in Schkopau, die regelrechte Kulturpaläste waren und nicht nur Musik und Theater für die Belegschaft boten, sondern auch einluden zum Selbermachen. Mit professioneller Anleitung in Mal-, Foto-, Schreib und Tanzzirkeln. Ein Angebot, das die Buna-Werker augenscheinlich nur zu gern annahmen. Der Film zeigt die Faszination dieses Aufbruchs, lässt die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu Wort kommen, die 2009, als der Film endlich fertig war, oft schon verstorben waren.

Wer zu spät kommt, trifft die Augenzeugen nicht mehr an. Dem entgeht der lebendige Teil der Geschichte, von dem Akten und Archive nun einmal nicht erzählen können. Wenn denn mit diesen Archiven überhaupt pfleglich umgegangen wurde, was in Ostdeutschland nach 1990 eben auch meist nicht der Fall war.

Burgen, Hochwasser, kleine Dörfer

Auf dem Cover-Foto sieht man am Horizont die Schlote von Schkopau qualmen. Aber man sieht auch die Weiße Elster im Vordergrund und einen Teil der überschwemmten Aue bei einem der Elsterhochwasser der vergangenen Jahre. Mittendrin die Schafbrücke, die in mehreren der Beiträge in diesen beiden Bänden eine Rolle spielt. So wie auch die Hochwasser der Vergangenheit eine Rolle spielen, die diese Landschaft prägten, mit ihren kleinen Dörfern und Kirchen und Burganlagen, die mitten in dieser Aue liegen.

Mehrere Beiträge beschäftigen sich deshalb auch damit, was über die einst hier befindlichen Burgen noch herauszubekommen ist, mit den Kirchen, Glocken und Orgeln und der Christianisierung dieses Gebietes, das ja bis vor die Tore Leipzigs reicht. Es ist eine gemeinsame Geschichte, die man aus Großstadtperspektive oft nicht sieht. Auch so ein Grund, warum sich der Arbeitskreis Döllnitz 2001 gründete und daran ging, die so sträflich vernachlässigte Heimatregion genauso emsig zu erkunden, wie das in Leipzig der Geschichtsverein tut.

Und immer wieder entstehen daraus dann dicke Bände „Au(g)enblicke“, der jüngste nun erstmals im Mitteldeutschen Verlag erschienen – und das auch noch in zwei reich bebilderten Teilen, sodass man über 700 Seiten Lesestoff in Händen hält, der einen in die Elster-Luppe-Aue entführt.

Kohlebergbau, Eiszeit und ein Floßgraben

Und natürlich werden auch die drei großen Kohleabbaufelder nicht ausgespart, die mitten in der Aue entstanden sind. Der Raßnitzer und der Wallendorfer See sind die beiden Tagebauseen, die dabei entstanden sind. Und auch wenn mit den vorzeitlichen Funden hier lange sehr rücksichtslos umgegangen wurde, können die Funde, die am Ende noch gemacht wurden, von einer langen und reichen Besiedelungsgeschichte dieser Region erzählen. In der Aue siedelten Menschen schon in der Eiszeit.

Und die Eiszeit mit ihren vielen verschiedenen Gletschervorstößen ist natürlich selbst Thema eines sehr detailreichen Beitrags. Das Entstehen und Vergehen eiszeitlicher Gletscherseen wird genauso bildhaft wie die jahrtausendelange Arbeit der Saale, die die oberen Sedimentschichten geprägt hat, während tief drunten in den Kohleflözen die Geschichte uralter Moore und der Ufer der Ur-Nordsee stecken.

Die beiden Bände sind ein Abenteuer. Der zweite Teilband taucht dann in jüngere geschichtliche Begebenheiten ein – etwa in das Jahr 1813, als die Auendörfer unter dem Durchmarsch der verschiedenen Truppen litten. Aber auch der Elsterfloßgraben wird Thema, einst der Transportweg für Holzscheite aus dem Süden zu den Salinen bei Halle, aber auch nach Leipzig.

Weshalb das Bedauern von Frank Thiel, dass Leipzig sich so überhaupt nicht um die Bedeutung des Floßgrabens als uraltes Wirtschaftsdenkmal kümmert, nur zu berechtigt ist. Da paddeln die Großstädter zwar im Sommer zu Tausenden durch den Floßgraben – aber nichts weist darauf hin, dass der nur ein ganz kleiner Teil eines riesigen künstlichen Grabensystems war, das erst durch die Tagebaue im Leipziger Süden zerrissen und gekappt wurde.

Wandervögel und der verschwundene Bornhöck

Ganz am Schluss hat ja auch Clemens Meyer noch einen Beitrag geschrieben, wie er – als im Leipziger Osten Aufgewachsener – die Flusslandschaft bei Leipzig selbst erst einmal erkunden und erwandern musste, um sie kennenzulernen. Und mit Hans Breuer, der in Gröbers aufwuchs, lernen wir auch noch den Schöpfer des berühmten Wandervogel-Buches „Der Zupfgeigenhansl“ kennen.

Und auch der berühmte Bornhöck bei Kabelsketal lag in dieser Landschaft, das größte Fürstengrab aus der Zeit, als hier vor 4.000 Jahren eine Kultur blühte, die mit der Himmelsscheibe von Nebra ihr eindrucksvolles Symbol gefunden hat. Das alles gehörte ja zusammen, meint ja der Hallenser Landesarchäologe Harald Meller. Und im Bornhöck muss der damals wohl mächtigste Herrscher begraben gewesen sein.

Auch wenn dessen Grab schon im Mittelalter geplündert wurde und der weithin sichtbare Grabhügel im 19. Jahrhundert abgetragen wurde, ohne die Funde darin tatsächlich zu sichern und zu archivieren. Davon berichtet ebenso ein ausführlicher Beitrag im Band 4, der auch erklärt, wer da alles seine Finger im Spiel hatte und wie auch die Besitzer des Hügels lieber die Fundstücke verscherbelten, als sie für die Nachwelt zu retten. Das alles erzählt Torsten Schunke in seinem Beitrag zum Bornhöck – in dem er da erstaunlichen Ergebnisse der offiziellen Grabungen von 2014 natürlich auch nicht ausspart.

Bornhöck – Auf der Suche nach dem Herrn der Himmelsscheibe

Andere Beiträge widmen sich den Fröschen und Lurchen im Auengebiet, den eingeschleppten Neophyten oder dem Kampf um die Rettung des Herrenhauses in Klein-Dölzig, wo einst der Philosophieprofessor Christian Wolff seine Erholung suchte.

Vergessenes Auenland?

Es sind lauter kleine Einblicke in eine Landschaft, die meist überhaupt keine Aufmerksamkeit bekommt, weil sich alle Blicke auf die großen Nachbarstädte Leipzig und Halle konzentrieren. Als wäre das Gebiet der Elster-Luppe-Aue tatsächlich ein verwunschenes Auenland, in dem die Zeit zum Stillstand gekommen ist. Was ja eindeutig nicht stimmt. Mit diesem vierten Band der „Au(g)enblicke“ gelingt es dem Arbeitskreis Döllnitz e.V. tatsächlich zu zeigen, dass auch in der Aue immer Leben war und hier auch viele Wege verliefen, die Merseburg und Halle auf der einen Seite mit Leipzig auf der anderen verbanden.

Hier standen Mühlen an den diversen Flussarmen, hier zeichneten Pfarrer auf, was ihnen erwähnenswert schien. Hier bauten die Menschen ihre ersten Dorfschulen mit schlecht besoldeten Lehrern darin. Hier gab es Wilderer und erinnert ein Gedenkstein an einen ermordeten Polizisten. Während Tafeln in den Kirchen und Kriegerdenkmale mahnend darauf hinweisen, dass auch hier einst die jungen Männer ausziehen mussten in die Kriege anderer Leute.

Man kann mit diesem Doppelband eine ganze geschichtsträchtige Landschaft für sich entdecken, gerade weil sie so abseits aller Touristenpfade liegt. Und am Ende bekommt man auch noch einen kleinen Einführungskurs in die Sprache, die hier gesprochen wird, lernt Maler und Dichter kennen, die die spröde Schönheit dieser Landschaft auch schon wahrnahmen, als am Horizont noch die Schornsteine qualmten und sowjetische Düsenjäger über die Landschaft lärmten.

Man kann sich ganz bequem daheim auf die Reise machen. Aber so mancher Beitrag wird es in den Füßen kribbeln lassen, einfach mal loszuradeln, sich dieses Stückchen Welt selbst einmal anzuschauen, das ja nun einmal gleich nebenan liegt, auch wenn die A9 wie eine Mauer davor steht und den Blick verstellt.

Johannes Stadermann (Hrsg.) „Au(g)enblicke. Streifzüge durch die Elster-Luppe-Aue, Band 4, zwei Bände und DVD,“, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2022, 30 Euro.

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