Um Goethe geht es eigentlich eher nur am Rande. Der Autor des „Faust“ steht ja eher stellvertretend da für das, was anständig und vorzeigbar ist an deutscher Kultur. Und auch für eine bestimmte deutsche Identität, die mit dem krachledernen Nationalismus, der sich immer wieder gewalttätig entlädt, nichts zu tun hat. Und damit auch für das „andere Deutschland“, das für aus Deutschland Emigrierte auch wie ein Stück Heimat in der Fremde war.
Die Filmemacherin Henriette Kaiser hat dieses Thema bewegt. Sie wollte wissen, wie jene Menschen tatsächlich damit umgegangen sind, die in der Zeit der Hitlerherrschaft Deutschland verlassen mussten. Manche im letzten Augenblick. Natürlich auch, weil sie oft darauf vertrauten, dass so etwas im Land der „Dichter und Denker“ nicht passieren könnte. Hinter den „Dichtern und Denkern“ haben sich die Lügner und Großmäuler immer versteckt.
Aber was nimmt man wirklich mit, wenn man das Land seiner Geburt verlassen muss?
Als Kinder in die Emigration
Die Elterngeneration konnte die 1961 geborene Filmemacherin nicht mehr fragen, als sie sich 2014 auf den Weg nach Argentinien machte. Doch mit den Menschen, die damals noch Kinder waren, konnte sie sprechen. Acht von ihnen hat sie in Buenos Aires getroffen und mit ihnen über die Emigration, ihre Ankunft, die Sprache und das Verhältnis zu Deutschland gesprochen.
Natürlich waren auch ihre Gesprächspartner/-innen schon hochbetagt. Als sie mit ihren Eltern Deutschland verlassen mussten, waren sie noch Kinder, um die zehn Jahre alt. Sie hatten noch eine Schule in Deutschland besucht, haben mitbekommen, wie ihre Eltern erst ausgegrenzt wurden und dann alle Hebel in Bewegung setzten, aus dem antisemitischen Deutschland zu entkommen.
Rund 45.000 aus Deutschland geflüchtete Juden nahm damals auch Argentinien auf. Ein Land, dessen Sprache die Geflüchteten in der Regel nicht sprachen. Viele hatten noch gehofft, in englischsprachige Länder wie die USA oder Australien entkommen zu können.
Die meisten Erwachsenen lernten das Spanische nur noch rudimentär, waren viel zu beschäftigt, der kleinen Familie das Überleben zu sichern. Während die Kinder sehr schnell Spanisch lernten, auch wenn ihre Schulzeit oft sehr kurz war, weil sie meist schon mit 14, 15 Jahren arbeiten und Geld verdienen mussten.
Doch Henriette Kaiser trifft keine verbitterten Menschen an, auch wenn gerade die Mädchen dann größtenteils auf ihren Studienwunsch verzichten mussten. Dass ihr Leben ohne die erzwungene Emigration (von Flucht sprechen sie lieber nicht) anders verlaufen wäre, ist ihnen sehr bewusst. Genauso wie ihnen bewusst ist, dass es das Deutschland, das sie hinter sich lassen mussten, nicht mehr gab.
Der gewaltige Aderlass, den Deutschland durch Vertreibung und Ermordung der jüdischen Mitbürger erlitt, hat Deutschland nachhaltig verändert. Was auch deutlich wird, wenn die Befragten darüber nachdenken, was sie vielleicht dazu bringen könnte, nach Deutschland zurückzukehren.
Die deutsche Gemeinde
Doch sie haben keine Verwandten und Freunde mehr in Deutschland. Ihre Heimat ist Argentinien. Hier haben ihre Kinder selbst wieder Familien gegründet, haben sie selbst ihr Berufsleben verbracht, ihre Lebensgefährten kennengelernt und oft auch schon verloren. Die meisten von ihnen haben mehrere Sprachen gelernt.
Das Deutsche haben sie nicht vergessen, auch wenn es im Gespräch mit Henriette Kaiser manchmal ein bisschen eingerostet ist. Für manches fehlen inzwischen die deutschen Worte. Aber sie staunen selbst, wie sehr sie ihre Kindheit in Deutschland dennoch geprägt hat.
Wobei auch die kleine deutsche Kolonie in Buenos Aires eine wichtige Rolle spielte. Die gab es schon seit dem 19. Jahrhundert. Hier konnten sie andocken und Kontakte pflegen, Arbeitgeber finden und neue Freunde. Und es war ein Ort, an dem intensiv Kultur gepflegt wurde. Hier wurde Musik gemacht, traf man sich zu Lesungen und Theatervorstellungen.
Es ist auch ein Stück jüngerer Vergangenheit, das so noch einmal lebendig wird, denn die Gemeinde löst sich auf. Die Menschen, die einst über den Atlantik geflohen waren, sind hochbetagt, viele gestorben. Auch die meisten deutschsprachigen Zeitungen haben ihr Erscheinen eingestellt, weil die Leserschaft weggeschmolzen ist.
Kaisers Gespräche sind wie der Besuch in einer verschwindenden Welt. Mit dankbaren Gegenüber, die sich herzlich darüber freuen, dass jemand aus Deutschland sich für ihre Lebensgeschichten und die kleine deutsche Kolonie in Argentinien interessiert.
Immer wieder fragt Kaiser auch, wie ihre Gesprächspartner damit umgingen, als nach dem Krieg auch die deutschen Nazis nach Argentinien flohen.
Doch die Berührung dieser beiden Deutschlands hielt sich wohl in Grenzen. Man mied die Kontakte lieber. Auch wenn es, wie in der Geschichte von Imo und Renate Moszkowicz – durchaus seltsame Begegnungen geben konnte.
Und natürlich ist auch der heutige Antisemitismus Thema, der in Argentinien nicht ansatzweise so ausgeprägt scheint wie heute in Europa, wo postfaschistische Bewegungen überall Zulauf bekommen.
Die Muster der Flucht
Und Kaisers Gesprächspartner/-innen gehen auch darauf ein, was Flucht überhaupt mit Menschen macht. Denn ihre erzwungene Reise nach Südamerika ähnelt ja den verzweifelten Fahrten vieler Flüchtender heute über das Mittelmeer, wo sie aber ganz und gar nicht so freundlich empfangen werden wie die einst nach Argentinien Flüchtenden.
Aber auch sie nehmen die Sprache und Kultur ihrer Heimat mit, werden sich – wenn sie es schaffen – in Hilfsjobs durchschlagen müssen und alles tun, damit ihre Kinder einen besseren Start bekommen.
Flucht ähnelt sich. Und das ist vielleicht die wichtigste Botschaft in all den Geschichten, die Henriette Kaiser erzählt, dass Flucht niemals freiwillig geschieht. Niemand verlässt das Land, in dem er sich tief verwurzelt fühlt, freiwillig.
Und verwurzelt heißt eben nicht nur Sprache und Arbeit, Freunde, Nachbarn oder die Stadt, in der jemand gelebt hat. Es ist auch dieser oft nicht greifbare Rucksack aus Kultur, der einen mit dem Herkunftsland verbindet. Den man oft verinnerlicht hat, ohne sich wirklich viel aus Goethe oder Schiller zu machen.
Und trotzdem identifiziert man sich damit, geht das Herz auf, wenn man die Lieder der Heimat hört, rühren Bilder etwas Vertrautes an. Und nur manchmal gibt es gewaltige Irritationen – wie hier zu einer Reise nach Dresden erzählt – weil die Stadt nicht mehr der Stadt der Kindheit entspricht. Denn Dresden wurde nach der Bombardierung 1945 zwar wieder aufgebaut – aber nie komplett. Im Grunde nur die schöne barocke Fassade.
Dann kam die Pandemie
Eigentlich hätte Kaisers Buch schon vor Jahren fertig sein sollen, doch dann kamen ein paar Jahre des Trubels dazwischen, in denen die Autorin nicht nach Argentinien kam. 2020 reiste sie noch einmal nach Buenos Aires, um mit den Befragten die Wortprotokolle der Gespräche durchzugehen und sie zu korrigieren.
Da ahnte sie nicht, dass die Zeit gleich doppelt knapp werden würde, denn da sorgte die Corona-Epidemie schon weltweit für Aufregung und Land um Land schloss seine Flughäfen. Mit dem letzten Flieger ging es für Kaiser zurück nach Deutschland.
Und natürlich sind es auch deshalb keine Fluchtgeschichten geworden, weil ihre Gesprächspartner/-innen noch Kinder und Jugendliche waren, als sie mit ihren Eltern auf die Reise gingen. So haben sie manches von der Dramatik auch nicht mitbekommen. Oder vergessen.
Das Gedächtnis speichert am Ende nicht alles, schafft einen eigenen Kosmos der Erinnerung, in dem die große Geschichte oft gar nicht den Platz einnimmt, den ihr Geschichtsbücher zuweisen.
Das tatsächliche Leben ist ganz anders aufregend, nimmt ganz andere Wendungen mit den Menschen, denen man begegnet, den Berufen, die man ergreift, dem ganz irdischen Scheitern, das gerade viele der flüchtenden Väter erlebten, deren Berufe oft gar nicht gefragt waren oder die unter den gesundheitlichen Folgen der Flucht litten.
„Hauptsächlich offenbaren ihre Schicksale aber eine Lebenszuversicht bis in dieses hohe Alter hinein“, schreibt Henriette Kaiser. „Es vermittelt sich zwischen den Zeilen eine Essenz davon, wie es überhaupt gelingen kann, an tragischen Umständen, an riesigen Umwälzungen nicht zu zerbrechen. Oder in einer Opferrolle, in Hass, Wut, Trauer zu erstarren.“
Tanzen lernen
Und in gewisser Weise steht für diese Lebensgeschichten der Eindruck, den Kaiser im Kapitel „Dasein“ sichtbar macht, in dem sie die „Casa dasein“ besucht und dort die Tänzerinnen und Tänzer aller Altersstufen beim Tangotanzen beobachten, beim Milonga. Auf einmal fließt etwas ineinander, was von der ganze Ungewissheit und Schönheit unseres Daseins erzählt, das uns oft genug an Orte und Strände spült, wo wir vollkommen fremd sind.
Und wo es die zaghaften ersten Schritte sind, mit denen wir wieder Stand bekommen, Tanzpartner finden und jenen Einklang mit unserem so unsicheren Leben finden, der uns dann durch die Jahrzehnte trägt. Und zuversichtlich macht.
In Henriette Kaisers Worten: „Es ist diese philosophische Dimension, die in diesem Wort mitschwingt. Diese Bedeutung, um die es in einem Leben geht. Um das eigene kleine Dasein in diesem großen Dasein.“
Das vergessen viele oder haben es nie gelernt. Dass man seinem Leben selbst einen Sinn geben muss. Das tun andere nicht für einen, auch wenn Eltern sich stets bemühen. Aber irgendwann steht jeder vor seiner eigenen Tanzfläche und muss lernen, die Tanzpartnerin zu finden und den Rhythmus, die einen lange tragen.
Es sind nicht die Kulturen, die miteinander kämpfen. Da irrte Samuel Huntington. Die Kulturen begegnen sich und kommen ins Gespräch miteinander. Und ergeben dann in der Regel etwas Neues, das noch vertraut wirkt, aber auch schon davon erzählt, dass jede Emigration damit endet, dass man doch irgendwo ankommen muss. Mit den Erinnerungen an ein Land im Kopf, das es nicht mehr gibt.
Henriette Kaiser Goethe in Buenos Aires Faber & Faber, Leipzig 2022, 22 Euro.
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