Diesen Gedichtband gibt es im Grunde in drei Teilen: den Gedichtband selbst mit 90 Gedichten. Dazu Biografische Notizen zu Bernhard Theilmann. Und ein Lesezeichen, welches das Bedauern des Verlages ausdrückt, dass leider ein kleines Malheur passiert ist: Acht der ausgewählten Gedichte sind nicht von Theilmann, sondern von Lutz Rathenow.
Irgendwie sind sie in die fast 600 nachgelassenen Gedichte des Dresdner Dichters, Journalisten, Druckmaschinenbauers und Werkzeugmachers geraten, der 2017 im Alter von 68 Jahren starb. Was aber natürlich auch eine Menge über Wahlverwandtschaften erzählt. Beide gehören zu den Unangepassten, Querköpfigen, die sich nicht klein und nicht mundtot machen lassen wollten.
Und während der eine seine Texte lieber in den Westen gab zur Veröffentlichung, nutzte der andere die kleine Lücke in den Zensurbestimmungen der DDR und vervielfältigte seine Gedichte und die seine Freunde auf der selbst reparierten Druckerpresse in kleinen Auflagen. Da sie gleichzeitig grafisch hochwertig gestaltet waren, fanden sie trotzdem ihre Käufer und Freunde und Kenner.
Kurzes Zwischenspiel in Leipzig
Eigentlich hätte man sich auch noch ein Leipzig-Gedicht gewünscht, denn zum Studium von Kulturtheorie und Ästhetik zog Bernhard Theilmann 1971 nach Leipzig, das er aber schon nach wenigen Wochen wieder beendete und damit wahrscheinlich seiner Exmatrikulation zuvorkam.
Denn seinen kritischen Geist hat er nicht aufgegeben. Spätestens seit Prag 1968 brodelte es in ihm. Da war das Anecken in den obligatorischen Schulungen und Versammlungen nicht zu vermeiden. Dann doch lieber als Werkzeugmacher arbeiten und die kleine, frisch gewonnene Familie so ernähren.
Es war ja tatsächlich so: Die „führende Klasse“ in den Betrieben ließ die selbstgerecht herrschende Partei lieber in Frieden, weil sonst keiner mehr gearbeitet hätte im Land. Aber wer in die sozialistische Intelligenzija wollte, der musste Unterwürfigkeit beweisen – im üblichen Sprech: Parteilichkeit.
Nichts für diesen Thielmann, der seine Gedichte dann eben nebenher schrieb, teilte und veröffentlichte und dabei Freunde und Mitwirkende genug fand. Bis 1976 auch in der Dresdner Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren. Aber sein Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns kam gar nicht gut an. Also wurde er – zusammen mit Michael Wüstefeld – aus der AG geschmissen.
Im „Biermann-Jahr“ schrieb er das Gedicht „von einem schreibenden arbeiter“, mit dem er den ganzen Firlefanz vom Bitterfelder Weg geradezu von der Werkbank wischte. Denn mit seinen Kollegen im Betrieb hatte er zwar echte Kumpel, aber keine Leser: „hab kumpels / die lesen meine verse / selbst auf dem rand der ‚Fußballwoche‘ / nicht.“ So viel zu „Greif zur Feder, Kumpel!“
Wozu man Brücken braucht
Die sogenannte Arbeiterklasse las keine Gedichte. Nur manchmal schrieb einer welche, weil er sich mit seiner Hände Arbeit den Lebensunterhalt erwerben musste und ihm als Querkopf der Weg in akademische Höhen verbaut war.
Da war es zwar nicht das fehlende Geld der Eltern, das den Aufstieg verhinderte. Aber die Ideologie der Herrschenden, die sich gern mit der herrschenden Klasse verwechselten.
Das Ergebnis natürlich: ein Leben und Dichten, zwar nicht im Verborgenen – denn die Staatssicherheit hatte ihn dann über Jahre fest im Visier –, aber doch abseits des offiziellen Literaturbetriebs. Und deshalb wurde er auch nie so bekannt wie andere Vertreter der Dichtkunst aus Sachsen – Richard Pietraß etwa. Von Theilman jedenfalls erschien auch kein offizieller Gedichtband in einem DDR-Verlag.
Nur in der Obergrabenpresse, deren Kopf er im Grunde immer war, erschienen die Gedichte zusammen mit Radierungen in kleiner Auflage. Gedichte, die natürlich auch mit dem Brückenmotiv spielen. Nicht zufällig. Wer in Dresden lebt – und ab 1974 lebte er wieder in Dresden – kommt um das Bild der Brücken nicht herum.
Nur dass Theilmann die Widersprüchlichkeit des Brückenmotivs immer gegenwärtig war. 2004 griff er es wieder auf: „sollten uns brücken verbinden / brauchte es einen fluß der uns trennt / könnten uns gedanken verbinden / brauchte es unverständnis / würde uns liebe verbinden / brauchte es eine zeit ohne liebe / nichts ist da / ohne widerpart“.
Es wird ein richtiges Liebesgedicht, kein regelgerechtes. Denn die Regeln der klassischen Liebesgedichte sind Regeln für Kitsch und Klimbim. Man merkt Theilmanns Gedichten an, wie sehr er den üblichen Bildern und Metaphern misstraut, wie er den Kanon des Schöngesagten unbedingt durchbrechen will, ausbrechen. Ins Freie.
Was eben nicht nur den erstarrten Kanon eines in Grau verpackten Landes betrifft, sondern auch das Reden übers Leben und Dasein, das bei ihm eigentlich immer ein Balancieren auf unsicheren Trittsteinen übers Wasser ist. Er will nicht ans feste, scheinbar rettende Ufer mit seinen Texten und dann siegreich seine Fahne aufpflanzen wie so mancher schreibende Kollege in der Zeit.
Misstraut dem schönen Schein
Er will die Schablonen vermeiden und Worte finden für das, was vielleicht sagbar ist, wenn man den Oberflächlichkeiten misstraut. Auch dafür steht der Fluss, an dem er aufgewachsen ist: „der fluß verliert sich in kanallabyrinthen / strudel ebben ins ufer / die strömung schiebt träg tropfen vor tropfen / rettungsringe treiben nach selbstmördern / täglich über dem offenen wassergrab / unter den brücken mit wolkenhohen geländern“ („ins schilf gefroren“, 1976).
Es wird immer wieder sehr existenziell in seinen Texten. Hier spürt einer sich selbst und seinem dissonanten Verhältnis zur Welt nach. Dissonanzen, die viele Menschen gar nicht bemerken, weil sie nicht einmal spüren, wie uneins sie mit sich und der Welt sind, wie unsicher.
Doch außerhalb der Ideologien lauert Unsicherheit, sieht man die Fährnisse des Lebens deutlicher. Aber damit auch das Lebendige selbst.
Das, was seinerzeit auch in Zeitungen nicht zu lesen sein sollte. Motto: „Unsere Menschen sind nicht so.“ Doch. Waren sie immer. Nach der Friedlichen Revolution gründete er das Stadtmagazin SAX mit und schrieb Texte über Kollegen, Literatur, Kunst und Kultur.
Eigentlich über Menschen, die er kannte und die er präsent werden ließ in der Zeitung. Jetzt durfte er. Und die Zeitungskolleginnen staunten: Da kennt einer sich aus in Dresden.
„zerbrochen ist meine maultrommel / die stählerne / geschmiedet / in der form des herzens / die mit mir sang / weil sie mich im atmen verstand“, schrieb er 2004. Doch er hörte nicht auf, Gedichte zu schreiben. Er war noch längst nicht fertig, mit den Stoff der Welt zu ringen und ihn fassbar zu machen. Wissend, dass er sie nicht enträtseln würde.
Genauso wenig wie das Geheimnis der Geliebten: „ich werde dein Geheimnis nie enträtseln“, heißt es im Gedicht „geliebte“ 2013. In dem er eine Wahrheit sagt, die sich auch die meisten Liebenden nie zu sagen trauen: Dass sie die wirklichen Geheimnisse in ihrem Leben nie zu knacken vermögen. Dass auch der geliebte Mensch fremd bleibt, rätselhaft, nicht fassbar.
Parabel des Lebens
Liebe liebt auch und gerade das Nicht-Fassbare. Das Geheimnis, das nicht nur das der Brücken ist. Sondern auch das der Städte, der (gebirgigen) Landschaften, des Flusses, der Augen, der Menschen, die einen auch noch nach Jahren der Nähe faszinieren, beunruhigen, verunsichern.
Wer uns nicht verunsichert, ist uns nicht nah. Den sehen wir gar nicht. Der verschwindet für gewöhnlich in lyrischen Bildern.
Es ist das Rätsel, das uns mit der Welt und mit den Menschen verbindet. Aber wem sagt man das in einer Zeit, da alle glauben, alles zu wissen und alle Geheimnisse enthüllt zu haben?
Nur die Rathenow-Gedichte muss man jetzt herausfischen. Es werden die leicht ironischen sein. Denn im Unterschied zu Rathenow ist Theilmann ein sehr ernsthafter Beobachter. Einer, der mit dem Fluss aufgewachsen ist und weiß, dass nur bleibt, was sich verändert. „alle tage hält mich liebfrau / auf der parabel des lebens / daß wir nicht aus der kurve schleudern“ (2013).
Die Frau, die er erwähnt, war dann mit dabei, die Sammlung zusammenzustellen. Und hat auch nicht gemerkt, dass acht Rathenow-Texte mit dabei waren. Aber auch das ist Leben: unverhoffte Vermischung und Einvernahme. Ein ähnlicher Klang.
Aber gerade deshalb sei auch Bernhard Theilmann noch zu entdecken, betont Rathenow selbst. Und der Verlag verspricht, dass in der nächsten Auflage alles korrigiert wird und nur Theilmann-Gedichte im Bändchen sind.
Bernhard Theilmann, Das Geheimnis der Brücken Typostudio Schumacher-Gebler GmbH, Dresden 2019, 16 Euro.
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