2018 hat Verleger, Autor und Übersetzer Viktor Kalinke schon ein aufsehenerregendes Stück Arbeit vorgelegt: die Übersetzung des Gesamtwerks des Zhuangzi. Nun hat er ein ebenso opulentes Arbeitsergebnis vorgelegt: die Übersetzung des Daodejing von Laozi, ergänzt um etwas, was er bescheidenerweise einen Essay nennt, obwohl es geradezu eine dicke Lesehilfe für Europäer ist, wie sie die 81 Kapitel des Daodejing lesen können.
Dass Kalinke sich so intensiv mit den großen chinesischen Philosophen beschäftigt, hat auch damit zu tun, dass er Psychologie und Mathematik nicht nur in Leipzig studiert hat, sondern auch in Bejing. Er kennt sie also nicht nur aus dritter Hand oder die Umwege über andere Sprachen, wie so viele deutschsprachige Übersetzer in der Vergangenheit, die eifrig dazu beigetragen haben, den Markt mit immer neuen Laozi-Übersetzungen zu fluten.
Die sich allesamt unterscheiden, aus guten Gründen. Nicht nur, weil die chinesischen Schriftzeiten jede Menge Assoziationen und Mehrdeutigkeiten ermöglichen, die das lateinische Alphabet nicht kennt. Die Sprüche des Laozi sind auch in ihren Aussagen vieldeutig, widersprüchlich, manchmal auch dialektisch in den Augen europäischer Leser.
Und ihre Ratschläge sind deshalb oft genug auch Weisheitsregeln für die Fürsten, Könige und Kaiser, für die sie tätig waren. Leute, denen man lieber nicht naseweis und besserwisserisch kam. Und denen man lieber auch nicht vorschrieb, wie sie mit dem Volk, den Steuern, der Armee und den verfeindeten Nachbarstaaten umgehen sollten.
Wie regiert ein Weiser?
Weshalb auch die Gedanken des Lao Dan, aus dem erst die spätere Überlieferung den Meister Lao, Laozi, machte, immer beides sind: Sprüche, die ein gutes Leben begründen und zurückhaltende Ratschläge an den Fürsten, die ihm ein weises Leben und damit Regieren nahelegten.
Wobei die lang anhaltende Wirkung des Daodejing eben auch darin besteht, dass die Sprüche eben nicht nur den Mächtigen nahelegen, ein naturgemäßes Leben zu leben und in Einklang mit dem Dao zu kommen, sondern dass diese Gedanken auch für ganz normale Menschen fruchtbar werden können.
Auch wenn der Einstieg in die Gedankenwelt der Chinesen im allgemeinen und der des Dao im Besonderen für Europäer aus diversen Gründen nicht einfach ist. Das hat nicht nur mit den Prägungen durch die europäische Philosophie von den Griechen angefangen zu tun, dem stark ausgeprägten europäischen Individualismus (der sehr leicht zum Egoismus abdriftet) und den Machbarkeitsvorstellungen einer Naturwissenschaft, die ja auch zum technischen Erfolg Europas beigetragen hat.
Auch die europäischen, durch das Christentum geprägten Vorstellungen von Gott, Jenseits, Sündenfall und Tugenden beeinflussen selbst all jene, die längst keine praktizierenden Christen mehr sind.
In seinem wirklich umfangreichen Essay zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Daodejing geht Viktor Kalinke ausführlich darauf ein. Dort beschäftigt er sich auch mit den Tücken der Übersetzungen und erklärt, warum es so viele verschiedene Interpretationen der Texte Laozis gibt.
Und natürlich auch, warum er alle 81 Kapitel noch einmal neu übersetzt hat und dabei auch Worte zu vermeiden versucht hat, die durch europäische Philosophie und christliches Denken hochgradig vorbelastet sind. Worte, mit denen sich immer wieder die europäische Sichtweise in den Text schleichen würde und die damit tatsächlich nivellieren würden, was an den Texten offen, bewusst mehrdeutig und teils auch völlig anders gemeint war.
Wenn das gute Leben im Hier und Jenseits gefunden werden darf
Denn die Chinesen haben kein Gottes- und Jenseitsbild wie die Europäer. Sie haben deswegen auch keine Sündentheologie entwickelt und auch keine Vertröstung auf eine bessere Welt nach dem Tod. Im Gegenteil: Kalinke ist ganz und gar nicht überrascht, wenn er in den Zeilen ein Verständnis von Natur und Respekt vor den Dingen, die geschehen, findet, das dem heutigen Denken über die Gefährdung unserer natürlichen Grundlagen sehr nahe ist.
Man kann Dao als „der Weg“ übersetzen, obwohl es nur eine von vielen möglichen Übersetzungen ist. Es ist auch das Ganze, in das sich jedes kleine menschliche Leben einfügt. Und das ein kluger Herrscher in seinem Wirken immer berücksichtigt. Auch wenn es keinen Regelkanon gibt und geben kann, wie man das macht.
Und gerade dadurch geben die Sprüche demjenigen, der sie beherzigt, das Gefühl, Herr des eigenen Lebens zu sein und Lösungen selbst gefunden zu haben. Lösungen, die auch im Abwarten, Nichtstun, Die-Dinge-geschehen-Lassen bestehen können. „Handeln durch Nichthandeln“, umschreibt es Kalinke. Oder – mit dem Titel seines Essays: „Nichtstun als Handlungsmaxime“.
Denn natürlich steckt auch im Nicht-Handeln das Handeln. Und damit immer ein ganzer Strauß von Optionen, die nicht – wie in mancher europäischen Radikalität – auf Gut und Böse, Ja und Nein, Schwarz und Weiß hinauslaufen. Denn so eine radikale Polarität kennen die Chinesen gar nicht.
Für sie sind in allen Menschen und allen Dingen immer Yin und Yang vereint, gehen regelrecht ineinander über. Nichts ist komplett Yin, nichts komplett Yang. Und die Dinge sind immer im Fluss. Der Weise stopft sich nicht mit unnützem Wissen voll, von dem er glaubt, dass es ihm die Entscheidung leichter macht oder gar abnimmt.
Im Gegenteil: Er entledigt sich dessen, macht sich frei davon, beobachtet und gibt den Dingen, die geschehen, Raum zur Entfaltung. Und er handelt dann, wenn er sich eins fühlt mit seinem Dao, dem Unübersetzbaren. Was auch eine Kunst des Regierens ist, die wir Europäer kaum kennen.
Denn auch diejenigen unter uns, die in Regierungsämter drängen, sind voll des Wissens, von dem sie glauben, damit die Welt beglücken zu können. Und immerfort müssen sie agieren, neue Gesetze erlassen, Verordnungen, Geschäftigkeit zeigen – sonst sind sie bei unseren großen Medien sofort unten durch.
Denn unsere Macher-Kommentatoren wollen natürlich Macher sehen, Politiker, die ständig irgendetwas Weltbewegendes vollbringen, egal, ob es Unheil anrichtet oder dauerhafte Schäden.
Was lesen eigentlich Menschen, die Entscheidungen treffen?
So kann man natürlich Reich und Reichtümer vernichten. So falsch lag ja Meister Lao nicht, als er dem Fürsten lieber Metaphern für das Nicht-Handeln gab, die immer auch Vertrauen in das Handeln der Untergebenen suggerieren, eine „Systemsteuerung im daoistischen Sinn“, nennt es Kalinke.
„Durch sie werden sowohl die Steuernden als auch die Ausführenden nicht im Detail in ihren Handlungen festgelegt, sondern bewahren das Gefühl – und zwar zu Recht -, selbst die Lösungen entdeckt und verwirklicht zu haben.“ Wobei die Lösungen nicht aus dem Instrumentenkoffer stammen, sondern immer ein Handeln im richtigen Moment meinen, dem Moment, in dem die Handlung eins ist mit dem Dao.
Wobei Kalinke noch etwas beobachtet, was Europäern meistens ziemlich fremd ist: Dass die großen revolutionären Schriften wohl ganz und gar nicht „die Welt verändern“, wie Marx das mal ausdrückte. „Nicht Evolutionen, sondern Texte, die Rezipientengenerationen übergreifend wirken, werden zum Generator der Menschheitsgeschichte.
Es kommt nicht darauf an, dass diese Texte die Massen ergreifen, wie Marx behauptet hat: „Eher ist es wahrscheinlich, daß ein Text zur Trivialliteratur gehört, wenn er die Massen ergreift. Es kommt darauf an, daß der Text von den Menschen aufgenommen wird, die Entscheidungen treffen.“
Da macht es dann schon einen gewaltigen Unterschied, ob die Herrschenden lieber das Daodejing lesen und den Respekt vor dem Seienden entwickeln, oder ob sie eher den Konzi wiederbeleben, wie das augenblicklich in der chinesischen Führung der Fall ist. Beides verändert das Denken über das Handeln und seine Folgen.
Und natürlich auch über das, was man dem eigenen Volk zumutet. Und der Natur. Denn wenn ich verstehe, dass mein Leben zutiefst davon abhängt, dass die Welt alles Lebendigen auch weiterhin lebendig bleibt und mich (er-)trägt, dann handle ich auch so – in einem tiefen Respekt vor allem Lebendigen.
Die Stärke des Nicht-Handelns
Es ist schon erstaunlich, wie Kalinke das – nachdem er die Entstehung, die Wirkungsgeschichte und die gesicherten Schriften näher beleuchtet hat – aus den durchaus metaphorischen Zeilen des Daodejing herausliest. Wohl wissend, dass auch das Daodejing missbrauchbar ist, so wie jede Philosophie.
Wer sie missbrauchen will, braucht sich nur die geeigneten Sätze herauszupicken. Dass sie erst im Zusammenhang der ganzen Kapitel einen Sinn ergeben und zur Abstraktion einladen, erschließt sich erst, wenn man sie ganz liest.
Wobei Kalinke nicht nur seine Übersetzungen abgedruckt hat, sondern auch die chinesischen Texte – und im Anhang ein ganzes Lexikon der verwendeten chinesischen Schriftzeichen, die auch dem Nichtkenner der Sprache eine Ahnung davon geben, vor welchen Herausforderungen die Übersetzer stehen.
Und weil das auch noch nicht die Interpretationsbreite dessen zeigt, was die einzelnen Kapitel an Möglichkeiten in sich tragen, gibt es auch noch einen ganzen Apparat „Sprachkritische Anmerkungen“, in denen Kalinke auch die wichtigsten schon veröffentlichten Übersetzungen anführt, um den Lesern zu zeigen, wie vieldeutig im Grunde jedes einzelne Kapitel ist.
Was seltsamerweise gerade der Schlüssel zur langlebigen Wirksamkeit des Daodejing ist, das sich eben seinen (fürstlichen) Lesern ganz und gar nicht in der Attitüde des Lehrers „offenbart“, der alles besser weiß (so, wie leider auch die größten und berühmtesten europäischen Philosophen in der Regel ihre Leser behandelt haben), sondern als zurückhaltender Ratgeber, der seinem Leser auch immer wieder das Gefühl gibt, dass die Lösung für alles, was er zu bestehen hat, in seinem eigenen Nachdenken und (Nicht-)Handeln liegt.
Selbst im Verzicht auf den Akt des Handelns liegt Stärke, oft sogar erst Weisheit und ein Verständnis für das eigene Dao, das nirgendwo offenbart wird, sondern das sich ständig verändert.
Die Aktualität der Kunst des Nicht-Besitzens
„Es bleibt schlicht offen, welche Deutung die richtige ist“, schreibt Kalinke zum Beispiel in den Anmerkungen zum Kapitel 2. Eines der herausforderndsten im ganzen Daodejing, das aber letztlich auf den Punkt bringt, wie der Mensch immer Teil der Welt ist, in der er verweilt, die ihm aber nicht gehört – was viele Menschen immerzu vergessen. „Nur indem er (der Weise) nichts beansprucht, verliert er nichts.“
Man merkt schon: Das gilt nicht nur für Leute, die etwas zu entscheiden haben. Das gilt für jeden, der sich in einem Kosmos wiederfindet, der sich in permanenter Veränderung befindet und in dem niemand wirklich weiß, was er anrichtet, wenn er (gedankenlos) handelt.
Und manches klingt ja nicht zufällig nach einem guten Ratschlag, in Zeiten der Gefährdung der Welt anders zu leben: „Wer das Dao bewahrt, strebt nicht nach Übermaß; nur wer nicht nach Übermaß strebt, kann verbrauchen, ohne zu erneuern.“ (Kapitel 15)
Als hätte Meister Lao seine Sprüche extra fürs 22. Jahrhundert geschrieben. Aber er lebte wohl um das 5. und 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, begegnete wohl auch Konzi, auch wenn es ganze Berge von Büchern gibt, die Laozis Existenz sogar abstreiten und seine Sprüche einer ganzen Schule zuschreiben.
Aber vieles – so arbeitet es auch Kalinke heraus – deutet darauf hin, dass es Meister Lao tatsächlich gab, dass er Fürstenberater war und auch der Kern seiner Sprüche auf ihn zurückgeht, auch wenn später möglicherweise noch etliche Redakteure drüber saßen und der Kanon erst weit nach seinem Tod verschriftlicht wurde.
Nur an Aktualität haben seine Sprüche nichts verloren, auch wenn sie zuweilen verwirren und verstören und so manche Handreichung, die Kalinke in seinem Essay gibt, sehr hilfreich ist, das ganze Werk auch für uns Europäer zu erschließen.
Und damit auch die Denkweise und Lebenshaltung dahinter, die so gründlich dem europäischen Machbarkeitswahn widerspricht und vielleicht sogar genau die Änderung unserer Sicht auf die Welt beinhaltet, die wir jetzt vornehmen müssen, wenn wir noch ein paar Generationen auf diesem Planeten und mit diesem Planeten überleben wollen.
Viktor Kalinke (Hrsg.) Laozi. Daodejing Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2022, 124,95 Euro.
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