Geschichte geht verloren, wenn man die Stimmen der Betroffenen nicht festhรคlt. Selbst die, die zur Friedlichen Revolution noch jung waren, kommen so langsam ins gesegnete Alter, in dem man den Enkeln schon eine Menge erklรคren muss, damit sie verstehen, was da vor 33 Jahren รผberhaupt geschah und warum eine scheinbar allmรคchtige Diktatur einfach in sich zusammenfiel, als die Bรผrger mit Kerzen auf die Straรe gingen.
Und auch Historiker werden froh sein, wenn sie Bรผcher wie dieses aus der Buchreihe der Sรคchsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in der Bibliothek finden. Denn es gibt nicht wirklich viele Menschen, die sich die Arbeit gemacht haben, so viele Stimmen zu den Umbrรผchen 1989 / 1990 aus einer einzelnen sรคchsischen Kleinstadt zu sammeln.
Vergleichbar ist im Grunde nur Cordia Schlegelmilchs Protokollierung der Stimmen aus Wurzen aus dieser Zeit. Selten kรถnnen Historiker und Soziologinnen so nah dran sein, wenn Geschichte passiert, die Schicksale der Menschen durcheinander wรผrfelt, die Machtverhรคltnisse grรผndlich verรคndert und fรผr einen Moment die Geschichte vรถllig offen scheint โ alles scheint mรถglich.
Auf dem Teppich aus Persien
Auch wenn nie alles mรถglich ist, wie gerade einige der Akteure vom Neuen Forum Bautzen, die bei Bettina Renner zu Wort kommen, ziemlich schnell merkten, wie sie erlebten, wie das ist, wenn eine Revolution ihre Kinder frisst. Friedlich in diesem Fall.
Aber angenehm war das auch nicht fรผr die Frauen und Mรคnner, die in Bautzen die Dinge in Bewegung setzten, die Mรคchtigen zum Dialog brachten und zum Beispiel auch dafรผr sorgten, dass die Gefangenenaufstรคnde in der Haftanstalt Bautzen I glimpflich abliefen und die vielen zu Unrecht dort und in der MfS-Haftanstalt Bautzen II Inhaftierten so bald wie mรถglich den Weg in die Freiheit fanden.
Dass da jede Menge zu erzรคhlen war, das wusste die Bautzener Regisseurin und Autorin Bettina Renner, als sie 2018 Mittel fรผr ihr Filmprojekt โTeppich aus Persienโ beantragte, bei dem Akteure des 1989er-Herbstes auf einem Teppich auf der Bรผhne des Bautzener Schauspiels Platz nahmen und aus ihrer Sicht erzรคhlten, was im Herbst 1989 und danach in Bautzen passierte. Unter ihnen auch mit Christian Schramm auch der erste frei gewรคhlte Oberbรผrgermeister von Bautzen nach der โWendeโ, ein Wort, das einem immer seltsamer vorkommt, je mehr Zeit vergeht.
Denn wenn das, was im Herbst 1989 geschah, etwas nicht war, dann eine โWendeโ, in welche Richtung auch immer. Denn die SED-Genossen, die da noch von einer guten Wende fรผr ihren Machterhalt trรคumten, verloren diese Macht binnen weniger Woche, erwiesen sich als handlungsunfรคhig und โฆ auch da wird man dann vorsichtig, weil eine Menge Leute hinterher meinten, als Sieger auf den Trรผmmern der SED-Diktatur tanzen zu kรถnnen.
Gefรคngnisdirektor bewies Mut und Courage
Das wird nicht nur in den Beitrรคgen von Frank Hiekel deutlich, der 1989 stellvertretender Leiter der Haftanstalt Bautzen I war und damit einer der wenigen Verantwortungstrรคger aus der DDR-Zeit, der seine eigene Rolle hinterfragte und sich auch die Frage stellte, wie sehr er sich mitschuldig gemacht hat an dem, was in der DDR passierte.
Doch auch seine Karriere lief nicht glatt. Denn eigentlich wollte er Lehrer und Hochschuldozent werden, fรผgte sich aber den Befehlen (und de angedeuteten Erpressungen), die ihn am Ende zum Leiter der Haftanstalt machten. Doch im Herbst 1989 handelte er dann nicht wie befohlen und tat alles, damit der Aufstand im Gefรคngnis nicht zu einem Blutbad wurde, zeigte also etwas, was die meisten SED-Funktionรคre nicht mehr fertigbrachten: In den Eingesperrten noch Menschen mit aller Wรผrde und allen Rechten zu sehen, Menschen, mit denen man sprechen konnte.
Das Ende der Vormundschaft und der symbolische Verfall
Auch in Bautzen versuchten die alten Funktionรคre ja noch, den รถffentlichen Dialog an sich zu reiรen โ nur um dann zu erleben, mit welcher Wucht die Bรผrger ihnen all ihre Versรคumnisse um die Ohren hauten. Im Grunde konnte man รผberall in der DDR in diesen Tagen erleben, wie sich ein Volk zum Gesprรคch auf Augenhรถhe selbst ermรคchtigte, nachdem es vier Jahrzehnte lang gelernt hatte, die Klappe zu halten und sich den Proklamationen der โfรผhrenden Parteiโ zu fรผgen.
Nicht grundlos fand ja Rolf Henrich damals die Formel vom โvormundschaftlichen Staatโ, die immer beides in sich vereinte: Die absolute Befehlsgewalt รผber das Volk und das Versprechen, dem Volk einen bescheidenen Wohlstand in Frieden zu garantieren โ wenn man sich denn beugte.
Ein Versprechen, dass die โVormรผnderโ nicht einhalten konnten. Sie hatten sich zu viel angemaรt. Bautzen war โ wie so viele Stรคdte im Osten โ 1989 vom Verfall geprรคgt, ein Groรteil der Altbausubstanz in der Innenstadt war zum Abriss vorgesehen, nachdem die Bausubstanz Jahrzehnte lang vernachlรคssigt worden war und die niedrigen Mieten nicht einmal ausgereicht hatten, notwendige Reparaturen vorzunehmen.
Ein Thema, das in diesem Band die Denkmalpflegerin Christa Kรคmpfe anspricht, die damals mit dabei war, als die vom Abriss bedrohte Bautzener Altstadt gerettet wurde. Einige Fotos in diesem Band zeigen die Tragรถdie und lassen das Gefรผhl wieder wach werden, das man damals beim Besuch in den Altstรคdten der DDR fast รผberall hatte: Der Verfall der geschichtstrรคchtigen Bausubstanz nahm im Grunde den Verfall der DDR vorweg. Das eine symbolisierte das andere.
Wer zu spรคt kommt โฆ
Ihren Film mit den Gesprรคchen auf dem โTeppich aus Persienโ hatte Brigitte Renner 2020 fertiggestellt und fragte beim Sรคchsischen Landesbeauftragten fรผr die Aufarbeitung der SED-Diktatur an, ob man ihn auch in den Schulen zeigen kรถnnte. Aber dazu war das Format zu sperrig. Ein Buch, das die Wortmeldungen sortiert, die Schicksale der darin versammelten Menschen sichtbar macht und die Geschichte des Herbstes 1989 bis in die frรผhe Zeit nach der Vereinigung fortschreibt, ist viel praktischer. Hier liegt es vor, von Bettina Renner mit dem Material aus dem Film zusammengestellt. Und das Ergebnis ist jetzt die ganz eigene, unverwechselbare Geschichte Bautzens in der Zeit der groรen Umbrรผche.
Eine Zeit, in der viele der hier zu Wort kommenden, sich engagierten โ im Neuen Forum, an den Runden Tischen, viele natรผrlich in der Hoffnung, dass man die DDR wรผrde รคndern kรถnnen. Ein Wunsch, der sich ja bekanntlich nach dem 9. November in Luft auflรถste. Die Volkskammerwahlen im Frรผhjahr 1990 gewannen nicht jene Aktiven, die den Prozess der Verรคnderung angestoรen hatten, sondern das Parteienbรผndnis โAllianz fรผr Deutschlandโ, das die schnellstmรถgliche Wiedervereinigung wollte.
Das klingt zwar bei einigen der Interviewten traurig. Aber es wird auch sichtbar, dass Geschichte letztlich ein Prozess ist, den man nicht am Schreibtisch planen kann. Dessen Lauf eigentlich auch niemand wirklich beherrscht. Und das erinnert einen natรผrlich an die Worte von Michail Gorbatschow, die er am 7. Oktober 1989 zu Erich Honecker gesagt haben soll: โWer zu spรคt kommt, den bestraft das Leben.โ
Was ja bekanntlich eine sehr freie รbersetzung dessen darstellt, was Gorbatschow tatsรคchlich sagte: โIch glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.โ
Ein kleiner Stubs
Denn hier wird sichtbar, wie Geschichte tatsรคchlich passiert. Politiker kรถnnen nur reagieren und die Chancen nutzen, die sich bieten. Etwas, was den alten Genossen aus dem Politbรผro schon seit Jahren nicht mehr gelang. Wรคhrend ein Mann im Westen, den die deutsche Einheit zuvor nicht die Bohne interessierte, begriff, dass es jetzt eine einmalige Mรถglichkeit zum Handeln gab, ein Zeitfenster, wie es auch da und dort in den Interviews sichtbar wird. Ein Zeitfenster, in dem ein kleiner Stubs genรผgt, um der Geschichte eine neue Richtung zu geben.
Zwei Stubse in diesem Fall. Den ersten brachte ja ausgerechnet der kurzerhand zum Pressesprecher der SED gewordene Gรผnther Schabowski in Gang, als er mit einem Versprecher die Mauerรถffnung auslรถste. Auch den Moment schildert ein Interview. Denn so etwas erlebt man im Leben in der Regel nur einmal. Frei nach Goethes ewigem Spruch: โUnd du kannst sagen, du bist dabei gewesen.โ
Und dieses Gefรผhl bringen im Grunde alle Interviewten zum Ausdruck. Was in diesen turbulenten Jahren 1989 / 1990 passierte, war fรผr sie โ wie fรผr so ziemlich alle DDR-Bรผrger โ ein einmaliger historischer Moment. Alle haben sie miterlebt, wie ein erstarrtes System in die Knie ging, die Funktionรคre an ihrer Dialog- und Sprachunfรคhigkeit scheiterten und die Dinge ins Flieรen kamen. Ohne dass irgendjemand im Oktober 1989 ahnen konnte, wohin das fรผhren wรผrde.
Das macht insbesondere das dritte Kapitel in diesem Buch, betitelt mit โUmbrรผcheโ, sichtbar. Denn letztlich verรคnderte sich fรผr die meisten ihre berufliche Situation grรผndlich. Viele mussten vรถllig neu anfangen, andere lernen, ihre Selbststรคndigkeit zu organisieren. Manche gingen in die Politik, andere setzten ihr soziales Engagement fort. Und manche machten sich โ wie Georg Kanig โ Gedanken darรผber, wie man sich in einer Diktatur als anstรคndiger Mensch behaupten konnte und trotzdem die Hรคnde schmutzig machte.
Raus aus der Sprachlosigkeit
Aber auch die Beitrรคge der Mitarbeiter/-innen des Bautzner Theaters machen deutlich, wie sehr die Friedliche Revolution ein Thema allein der Ostdeutschen ist, der Moment, in dem sie zu Sprache kamen und als handelnde Subjekte selbst die Bรผhne betraten. Doch wรคhrend das Schauspiel sich nur neu orientieren musste, weil jetzt die groรen subversiven Inszenierungen der Zeit vor den Demonstrationen kein Publikum mehr ins Theater zogen, erlebten andere mit, wie sie in einer vom Ausverkauf berauschten Umbruchzeit wieder zu Objekten gemacht wurden und Arbeit und Wรผrde verloren.
Da steckt jede Menge Stoff zum Diskutieren in diesen Wortmeldungen. Stoff, der auch anregt, darรผber nachzudenken, wie sehr der Umgang mit dem Osten nach 1990 auch zu einer tief sitzenden Krรคnkung gefรผhrt hat, die am Ende sogar wieder ein ganz รคhnliches Verhรคltnis zur Politik mit sich brachte, wie es alle in der DDR gelernt hatten, ein Verhรคltnis von โWir hier untenโ zu โdenen da obenโ.
Man darf ja auch nicht vergessen, dass in Film und Buch vor allem Menschen zu Wort kommen, die sich engagiert haben und die es als ihren ganz persรถnlichen Gewinn empfinden, sich รคuรern zu kรถnnen. Die, die wieder in Schweigen verfallen sind, wird man auf dem persischen Teppich nicht treffen. Der Fotograf Jรผrgen Matschie bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: โEs kam eine Gesellschaft mit vielen Versprechungen, vielen Verlockungen, vielen Mรถglichkeiten, die sich aber nur einlรถsten, wenn man das Geld hatte.โ
Aber sich Anerkennung durch Geld zu verschaffen, ist etwas vรถllig anderes, verglichen damit, als Mensch und Erwerbstรคtiger Anerkennung zu finden. Oder โ was Eveline Gรผnther thematisiert โ als Frau. Denn gerade die engagierten Frauen merkten schon frรผh, dass ihnen viele selbstverstรคndliche Rechte, die in der DDR normal waren, wieder verloren zu gehen drohten. Sie registrierten auch schnell, wie verstรถrt die Herren der Schรถpfung reagierten, als auch die Frauen noch zwei Plรคtze am Runden Tisch haben wollten.
Zeit, den Enkeln zu erzรคhlen!
Die Gegenwart steckt wie ein Samen in dieser turbulenten Zeit. Und vieles ist ganz unรผbersehbar bis heute nicht abgegolten und geheilt, steht weiter als Herausforderung, auch wenn sich die Rahmenbedingungen wieder verfestigt haben und der Fluss der Geschichte wieder zรคh und unbeeinflussbar aussieht.
Aber auch das klingt an: Das Zรคhe produzieren wir selbst. Es sind Menschen, die Geschichte entweder zรคh, grau und schwer zu ertragen machen, oder die Dinge in Bewegung setzen. Dafรผr steht die Friedliche Revolution โ auch in Bautzen. Das Wort โAufbruchโ trifft es schon ganz gut. Nur stellen auch die damaligen Akteure aus dem Neuen Forum fest, dass sie gar nicht wussten, wohin die Reise gehen wรผrde, denn ihr Ziel war ja รผberhaupt erst einmal, die Dinge in Bewegung zu setzen. Und damit die Menschen.
Das Buch portioniert die Gesprรคche der Befragten so praktisch, dass man damit wirklich in die Schulklassen gehen kann und den Enkeln โ denn um die geht es ja lรคngst โ wenigstens eine Ahnung davon geben kann, wie sich das damals angefรผhlt hat, als die Menschen die Ohnmacht eines regelrecht schockgefrosteten Landes nicht mehr ertrugen. Und wรคhrend die einen die Gelegenheit ergriffen, in den Westen zu fliehen (auch diese Lebensgeschichte gibt es), begannen die anderen nach Wegen zu suchen, wie die Verรคnderung in der eigenen Stadt in Gang gebracht werden kรถnnte. Da war ordentlich Druck auf dem Kessel.
โDoch wer weiร in Rostock, Hamm und Mรผnchen davon?โ, fragt Dr. Nancy Aris, die Landesbeauftragte, im Vorwort. โVielleicht kann โBautzen dazwischenโ dazu beitragen, ein Bautzen jenseits der Negativschlagzeilen zu entdecken.โ
Denn in den groรen deutschen Medien gibt es lรคngst betonierte Vorurteile, mit denen man auf den Osten und gerade die kleinen sรคchsischen Stรคdte schaut. Ohne Wissen um die Geschichte und ohne eine Ahnung davon, wie die Umbruchzeiten die Schicksale der dort Wohnenden geprรคgt haben, wie aus einem Aufbruch fรผr viele ein tiefer Einschnitt im Leben wurde, der lรคngst dazu gehรถrt, wenn man รผber diese Zeit der umfassenden Verรคnderungen berichtet.
Bettina RennerโBautzen im Dazwischenโ, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2022, 12 Euro.
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