Thriller sind ja so etwas wie die Buchvariante von Action-Spielen am Computer. Es gibt Gute und Bรถse. Beide haben unglaubliche Krรคfte und kรถnnen in einem wilden Rennen immer neue Levels erreichen. Wer am Ende noch einen Joker in petto hat, gewinnt. Meistens werden die richtig Bรถsen dann mit jeder Menge Feuerwerk zur Strecke gebracht. Dieses Buch ist ein Thriller.
Was schade ist. Das hat das Thema nicht verdient. Denn das Buch hat einen historischen Kern. Und sicher hatte Paul Schรผler, studierter Architekt, Physiker und Mathematiker, einen guten Riecher, dass hier ein spannender Stoff fรผr einen Roman drin steckt.
Nur steht ein Autor natรผrlich immer vor der Frage: Wie dicht bleibt er an den historisch verbรผrgten Fakten? Wie kรถnnte das damals gewesen sein, als es im Juni 1942 im Versuchsreaktor des Leipziger Physikalischen Instituts zu einer Verpuffung kam, dem ersten โeiner langen Reihe von Unfรคllen in kerntechnischen Anlagenโ (Wikipedia), gefolgt von einem schwer zu lรถschenden Brand, nach dem der Reaktor nicht mehr nutzbar war.
Was tatsรคchlich geschah
Berichtet hat darรผber ja einer, der direkt dafรผr verantwortlich war: Robert Dรถpel, seit 1938 Auรerordentlicher Professor fรผr Strahlungsphysik am Physikalischen Institut an der Uni Leipzig und damit einer der vier deutschen Forschungseinrichtungen, die am deutschen Uran-Projekt beteiligt waren. Dรถpel kommt in diesem Buch nicht vor, stattdessen tritt eine junge Physikerin mit dem Namen Dr. Margarethe von Brรผhl auf, der die Uran-Maschine regelrecht unter den Hรคnden explodiert, als sie mit ihrem Assistenten Karl eine neue Testreihe durchfรผhrt.
Karl stirbt dabei und ausgerechnet sein Vater Wilhelm findet ihn, der mit seinem Feuerlรถschzug zum Einsatz kommt, nachdem er sich gerade den Unmut seines Chefs eingehandelt hat, weil er im โKommunistenviertelโ Connewitz zwei Kinder aus einer brennenden Wohnung gerettet hat.
Und weil er seinem Chef auch noch widerspricht, wird er gefeuert. Natรผrlich hรคlt er von Brรผhl fรผr verantwortlich fรผr den Tod seines Sohnes, doch als er sie im Universitรคtsklinikum aufsuchen will, hat dort die Gestapo schon die ganze Etage abgeriegelt, denn die Gestapo hat hier die Hรคnde im Spiel, organisiert irgendwie hinter dem Rรผcken Hitlers den Bau einer Atombombe. Und der Gestapo-Mann Gerald Schander, der sich hier zum bรถsen Gegenspieler entwickelt, unterstellt der jungen Physikerin gleich mal Sabotage, obwohl er die Bombe, wie es aussieht, lรคngst hat.
Denn die hat ihm irgendwie von Brรผhls Chef, Prof. Braun, schon gebaut. Binnen weniger Monate. Der erste Test soll praktisch gleich am nรคchsten Tag auf einem Militรคrgelรคnde bei Ohrdruf stattfinden. Und wรคhrend der etwas dubiose Fritz Kowalski, der irgendwie mit der Untergrundbewegung zu tun hat, von Brรผhl aus dem Klinikum entfรผhrt / befreit, entspinnt sich eine wilde Jagd, an deren Ende Kowalski, von Brรผhl und Wilhelm Leitner auf dem Militรคrgelรคnde bei Ohrdruf stehen und eine gewaltige Explosion miterleben.
Showdown in Haigerloch
Und statt ihre Haut in Sicherheit zu bringen, wollen sie jetzt unbedingt verhindern, dass Hitler die Bombe in die Hand bekommt, das Spiel รผber mehrere Level kann beginnen und erlebt dann seinen Hรถhepunkt auf einer Mainbrรผcke. Diese wird just in dem Moment, in dem die nunmehr vier Gesuchten (Wilhelm hat auch noch seine kranke Ehefrau mitgenommen) in eine gewaltige Straรensperre geraten sind, von alliierten Bombern unter Feuer genommen.
Was den Vieren nicht erspart, dennoch erwischt zu werden, schon kurz vor der Erschieรung zu stehen und dann in Haigerloch bei Hechingen (wo sich 1945 ja tatsรคchlich der letzte Versuchsaufbau des Uran-Projekts befand) den Auftritt von Fritzโ herbeigerufenen Freunden zu erleben. Was keine wirkliche Rettung bedeutet, denn die Retter sind genauso wie Schander und seine Kameraden nur an der Bombe interessiert. Auรer Fritz Kowalski, der jetzt ein weiteres Mal seinen Charakter verรคndert. Es sieht also ganz schlimm aus.
Es ist folglich ein Buch geworden fรผr alle, die gern Action-Spiele spielen und Thriller verschlingen. Weniger fรผr all jene, die um die Faszination der tatsรคchlichen historischen Ereignisse wissen. Denn da gibt es meistens weniger Action, die Bรถsen sind nicht als solche erkennbar oder, wenn schon sauber an ihren Uniformen zu identifizieren, nicht so clever und reaktionsschnell, wie sie es in den Hollywood-Filmen sind.
Das Bรถse ist nicht faszinierend, sondern banal
Geschichte leidet nun einmal unter der menschlichen Unfertigkeit, unter Zรถgern, Nichtwissen und fehlender Technik. Und unter nicht herzustellender Rasanz. Mal fehlen die entsprechend schnellen Fluchtfahrzeuge, mal fehlt es an รberblick, an Genialitรคt meistens sowieso.
Auch die Gestapo wurde nicht deshalb berรผchtigt, weil sie von genialen Bรถsewichtern wie Gerald Schander bestรผckt war, sondern weil sie ein umfassendes Spitzelsystem aufbaute, das spรคter Erich Mielke nur noch kopieren musste. Und sie lebte von Angst, Einschรผchterung und Verhรถrmethoden, die heute allesamt als Folter gelten. Diktaturen leben davon, dass sie ein System der Angst aufbauen und ein System des allgegenwรคrtigen Misstrauens.
Beides existiert neben einem Alltag, in dem scheinbar alle unbehelligt ihrer Arbeit oder ihrer Forschung nachgehen. Und natรผrlich wรคre es faszinierend, wenn es einem Autor gelรคnge, tatsรคchlich ein Bild davon zu zeichnen, unter welchen Bedingungen Robert Dรถpel seinerzeit in Leipzig arbeitete und was in den Tagen, als sein Reaktor abbrannte, in Leipzig tatsรคchlich geschah. Natรผrlich auch, wie die Polizei, die Feuerwehr, die oberen Staatsinstanzen tatsรคchlich reagierten.
Die Faszination der unperfekten Wirklichkeit
Dรถpel erlebte ja seine eigene Tragik, als seine Frau โ die ihn in seinen Forschungen unterstรผtze โ im April 1945 bei einem Bombenangriff im Physikalischen Institut, wo beide ihre Wohnung hatten, verschรผttet wurde und nur noch tot geborgen wurde.
Weshalb er dann seelisch auch nicht mehr in der Lage war, am sowjetischen Atombombenprojekt mitzuwirken, wรคhrend er nach seiner Rรผckkehr in die DDR eine Forschung vorantrieb, die man meist รผbersieht: โZudem wandte er sich mit Modellrechnungen zur globalen Erwรคrmung durch die anthropogene Abwรคrme und den dadurch bedingten Wachstumsgrenzen der Energieerzeugung bereits 1973 drรคngenden Menschheitsfragen zu. Dies geschah nahezu zeitgleich mit dem Club of Romeโ, liest man auf Wikipedia.
Die Wirklichkeit ist immer auf vรถllig andere Weise dramatisch, als es Thriller gern als Handlungsdramaturgie gestalten. Und dazu kommt, dass Werner Heisenberg, der eigentliche Kopf der deutschen Atomforscher, damals noch in Leipzig war und erst danach ans Kaiser-Wilhelm-Institut nach Berlin wechselte. Er mรผsste also in einem Roman, der sich wirklich dicht am historischen Geschehen entlang entfaltet, eine wesentliche Rolle spielen.
Und dass der Reaktorunfall in Leipzig seiner Karriere ganz gewiss nicht schadete, zeigt sich schon daran, dass er in Berlin einen neuen Reaktor bauen lieร, der dann auch die ersten positiven Ergebnisse bei der Neutronenvermehrung brachte.
Dass er โ zusammen mit den anderen in britische Kriegsgefangenschaft gekommenen deutschen Atomforschern โ froh war, dass sie es nicht waren, die die Atombombe gebaut hatten, gibt ja der Geschichte noch einen ganz besonderen Dreh. Das klingt nur ganz entfernt in der Rolle des Prof. Braun an, der in Schรผlers Thriller am Ende am Grenzรผbertritt in die Schweiz scheitert.
Meistens ist die Geschichte, wie sie tatsรคchlich passiert ist, viel aufregender als jeder Thriller. Aufregender auch deshalb, weil die Motivation der Beteiligten eben nicht so simpel schwarz oder weiร, gut oder bรถse ist. Schon gar nicht, wenn sie eigentlich alle damit zu tun haben, in einem Land zu รผberleben, in dem die Ideologen wรผten, jede Regung von Menschlichkeit misstrauisch beรคugt wird und jeder Widerspruch strafwรผrdig ist. Das ergibt nรคmlich sehr gebrochene Charaktere.
Die grauen Abgrรผnde der Geschichte
Nur wissen wir ja aus der deutschen Geschichtsbewรคltigung, dass man auch im Nachhinein gern alles schรถn in Schwarz/Weiร haben mรถchte. Und man die Gebrochenheit der eigenen Geschichte nicht wahrhaben mag. Auch nicht die seelischen Verkrustungen. Das Schuldiggewordensein im Versuch, nur ein halbwegs anstรคndig gebliebener Mensch zu sein. Auch das gehรถrt zum Erbe der Diktaturen: die Unerbittlichkeit des Urteils.
Aber gerade in dieser Zerrissenheit werden historische Gestalten wirklich aufregend und verstรคndlich. Wird ihre Geschichte nachfรผhlbar und nacherlebbar. Und kann man sich mit ihnen auch identifizierten. Vielleicht hab ich auch zu viel Robert Harris gelesen, der ja zuletzt in โMรผnchenโ und โVergeltungโ genau solche Gestalten aus dem faschistischen Deutschland gestaltet hat. Und sein Verlag hat sich logischerweise gehรผtet, โThrillerโ auf das Buchcover zu schreiben, obwohl man ja tatsรคchlich mitfiebert bis zuletzt.
Er hat es beim โRomanโ belassen. Und so ahnt der Leser dann, dass auch sein eigenes Leben letztlich ein Roman ist, wenn man es nur mit der nรถtigen Aufmerksamkeit betrachtet und all den Irrungen und Wirrungen, aus denen am Ende eine halbwegs erzรคhlbare Biografie entsteht.
Auch wenn kein โMรผnchener Abkommenโ und keine V2 darin eine Rolle spielen, man vielleicht sogar nur die Assistentin ist, der ein Experiment vรถllig aus den Fugen gerรคt, oder der Feuerwehrman aus Lรถรnig, dem die Hutschnur platzt, weil er ausgerechnet in Connewitz nicht lรถschen soll.
Meistens ist man mitten in der groรen Weltgeschichte als kleine Randfigur dabei, hofft nur innigst, dass alles gut ausgeht, und weiร hinterher gar nicht, was man erzรคhlen soll, weil sich der eigene Part dabei รผberhaupt nicht heldenhaft anhรถrt. Zumindest im Vergleich zu den Heldengeschichen auf der Titelseite der Zeitung.
Zumindet hat Paul Schรผler gezeigt, dass da ein guter Stoff zum Erzรคhlen bereit liegt rund um den Reaktorunfall von 1942. Aber in einen Thriller gehรถrt er eigentlich nicht.
Paul Schรผler โ1942. Das Laborโ, Aufbau Verlag, Berlin 2022, 12 Euro.
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