2017 veröffentlichte Georg Christoph Biller selbst noch seine „Erinnerungen eines Thomaskantors“ unter dem Titel „Die Jungs vom hohen C“. Da war er schon seit zwei Jahren aus gesundheitlichen Gründen vom Amt des Thomaskantors zurückgetreten.

Das Buch aber erzählt von seiner Freude an guten Geschichten und Anekdoten. Und natürlich an der musica sacra. Aber ist eigentlich genug erzählt über Biller? Nein, fand sein Wegbegleiter Manfred J. Hofmann.

Und auch Georg Christoph Biller – obwohl immer stärker durch seine Krankheit gezeichnet – fand, dass da wohl noch mehr zu erzählen wäre. In mehreren Arbeitsgesprächen erkundeten die beiden das Terrain, steckte Hofmann die Themenfelder ab, zu denen er Material und Stimmen sammeln wollte.

Und war wohl selbst überrascht, wie sich vor seinen Augen auf einmal ein Leben auffächerte, das viel mehr beinhaltete als die 22 Jahre, die Georg Christoph Biller Leipziger Thomaskantor war. Der 16. nach Bach, wie ja die jüngere Zählung lautet, der 44. nach der älteren Zählung.

Pfarrerssohn aus Nebra

In diesem Buch gliedert er es in Kapitel wie „Kindheit in Nebra“, „Im Alumnat des Thomanerchores“ oder „Dienst in der Nationalen Volksarmee“, wie die ersten drei von zwölf Lebens-Kapiteln lauten. Und schon mit dem jungen Pfarrerssohn aus Nebra begegnen wir einem Burschen, der Eigensinn mit Liebe zur Musik verbindet. Musik gehört zum Leben im Pfarrhaus.

Es ist die Mutter, die den Kindern die Freude am Musizieren beibringt. Doch als er ins Thomaneralumnat kommt, erlebt der kleine Christoph wie so viele andere Jungen vor und nach ihm, wie schwer das Heimweh auszuhalten ist. Schon diese Kapitel sind mit lauter Anekdoten gespickt, die auch von einem Jungen erzählen, der es faustdick hinter den Ohren hat und sich durchzusetzen weiß.

Streiflichtartig erleben wir mit ihm und seinen Freunden (die Freunde fürs Leben werden sollten) die Bedingungen im alten „Kasten“, das Reifen in einem Chor, der schon damals hohen Ansprüchen genügte, der aber immer auch ein Politikum war, auch in der DDR, wo man natürlich nur zu gern gehabt hätte, dass der Chor sein religiöses Liederrepertoire eindampfte und mehr zum weltlichen Aushängeschild für Leipzig würde.

Eine Indienstnahme, die so auch mit dem Wechsel von Thomaskantor Mauersberger zu seinem Nachfolger Rotzsch nicht gelang. Im Gegenteil: Als die Mächtigen einen eigenen Aufseher im Alumnat platzierten, vergraulten ihn die Thomaner selbst mit stinkendem Käse.

Steckte in diesem Biller also ein veritabler Schwejk? Natürlich. Spätestens das Kapitel zur NVA erzählt davon, das eigentlich von der Gründung des Singeklubs „Thomas Müntzer“ erzählt, in dem sich um den „gefreiten Müntzer“ die zum Dienst einberufenen Thomaner sammeln und ein so professionelles Programm einübten, dass sie am Ende fast nur noch unterwegs waren zu lauter Gastauftritten.

Da sieht man diesen Christoph Biller schon wie selbstverständlich organisieren und dirigieren. Und auch die Regeln gern missachten, für deren Übertretung andere zur Strafe nach Schwedt gekommen wären.

Singeklub, Vokalkreis, Gewandhauschor

Aber der Singeklub war für die NVA-Bosse zu wichtig als Aushängeschild (und nichts brauchte der „siegreiche“ Sozialismus ja so sehr wie Aushängeschilder). Und selbst die Stasi drückte beide Augen zu. Das Buch verrät, wer Billers Lehrmeister waren, als er nach der „Fahne“ an der Hochschule für Musik studierte.

Wir lernen einen Burschen kennen, der von Anfang an daran arbeitete, das Beste herauszuholen aus der Musik. Das Chöre-Formen hatte er ja gelernt beim Thomanerchor. Und jetzt formte er selber welche – angefangen mit dem Leipziger Vokalkreis (aus dem später das Leipziger Vocalensemble wurde) über das Arion-Kollegium (mit dem an eine 100 Jahre alte Leipziger Chortradition angeknüpft wurde) bis zum Gewandhauschor, dessen Chordirektor er über zehn Jahre lang war.

Meistens lief das alle parallel. Und „seine“ Sängerinnen und Sänger machten begeistert mit. Denn mit ihm erlebten sie Aufführungen auf höchstem Niveau und Kompositionen, die für gewöhnlich nicht in den Programmen von Ensembles in der DDR standen. Denn Musikpflege bedeutete für Biller auch immer Arbeit mit Komponisten, die nicht zum damals üblichen Repertoire gehörten – von Schütz bis Reger. So ungefähr.

Und auch A-cappella-Gruppen waren in der DDR etwas Seltenes, passten eigentlich nicht in die offiziell gepredigte Arbeiter-und-Bauern-Musik. Aber Billers Ensembles füllten Kirchensäle und begeisterten das Publikum. Eigentlich gab es keinen, der so prädestiniert war für das Amt des Thomaskantors wie er.

Aber auch Biller erlebte, was schon sein großes Vorbild Bach erlebt hat: Gewählt wurde er 1992 erst „in der zweiten Wahl“. Was wie so oft auch an einer Stadtverwaltung lag, die die Beliebtheit des wegen seiner Stasikontakte geschassten Thomaskantors Rotzsch unterschätzte, genauso wie die Qualitätsansprüche der älteren Thomaner selbst, die in den obligatiorischen Proben sehr wohl merken, ob die Chemie mit einem Amtsbewerber stimmt oder nicht.

Die üblichen Verstimmungen mit dem Rat

Die Probleme tauchten ja auch in der jüngsten Kür wieder auf. Manchmal ahnt man im Rathaus nicht einmal, in welches Fettnäpfchen man da wieder getreten ist. Und auch Oberbürgermeister Burkhard Jung deutet in seinem Beitrag im Buch an, dass er auch eine Weile brauchte zu begreifen, welche Rolle der Thomanerchor eigentlich für Leipzig und für Leipzigs Außenwirkung spielt.

Und was Biller da eigentlich geschafft hat in seiner dann immer öfter von Krankheit gezeichneten Zeit als Thomaskantor. Ein Knabenchor, der so auf Weltniveau singt, braucht natürlich auch die Bedingungen zum täglichen Proben und die straffe Organisation von Konzerten und Reisen. Was alles thematisch gestreift wird, genauso wie die Schaffung des „Forum Thomanum“, das nur für Außenstehende wie ein Luxus aussieht, den sich Leipzig da gönnt.

Aber Biller wusste aus seiner Arbeit, dass der Thomanerchor auch dringend eine Grundschule braucht, in der der Nachwuchs schon früh eine musikalische Ausbildung bekommt. Möglichst noch einen Kindergarten. Denn die „Jungen mit dem hohen C“ kamen immer früher in den Stimmbruch, mussten also immer schneller höchstes Niveau singen, damit die hohen Stimmen tatsächlich noch besetzt werden konnten.

Da sträubte sich das eine und das andere Amt in der Verwaltung sehr, versuchte das Projekt frühzeitig zu verhindern. Aber wenn Leute wie Georg Christoph Biller dahinterstecken, dann versandet so ein Projekt nicht, dann gewinnt es immer mehr Mitstreiter.

Und am Ende war auch Leipzigs Stadtspitze stolz, dass das Alumnat aufwendig modernisiert werden konnte, die Grundschule am Campus entstand, die Kita eröffnete und auch die Villa Thomana Wirklichkeit wurde. Ein ganzer Thomanercampus, in dem auch die Thomasschule selbst kein Fremdkörper geworden ist, wie das anfangs zu werden drohte.

Musik war sein Leben

Man erlebt so ziemlich alle Höhen und Tiefen im Leben Billers mit, den seine Freunde seit seiner Jugend Loni nannten. Ein Typ, der einfach durch sein Auftreten schon Respekt und Aufmerksamkeit einflößte, manchmal so streng wirkte, dass sich die kleinen Thomaner erschraken – bis sie dann merkten, dass der „Chef“ ein großes Herz hatte und aus eigener Erfahrung wusste, wie anstrengend das Leben im Alumnat sein kann.

Vom „kantigen Humor“ ganz zu schweigen, an den sich fast alle Weggefährten erinnern, die in Hofmanns Buch zu Wort kommen, der auch die schweren Zeiten nicht ausklammert, die ersten Zeichen der Krankheit, die Unterstützung seiner Freunde und Billers langes Ausharren, obwohl ihm die dichtgetaktete Arbeit als Thomaskantor immer schwerer fiel.

Am Ende fühlte er sich vom OBM geradezu gedrängt, sein Amt niederzulegen, und nutze den Tag seiner Verabschiedung, um gleich einmal drei neue Projekte anzukündigen, die er jetzt anpacken wollte. Denn er konnte nicht ohne seine Musik, sie war sein Leben.

Er nutze die nun zur Verfügung stehende Zeit auch wieder zum Komponieren. Denn auch damit hatte er wieder an das Wirken Johann Sebastian Bachs angedockt, zu dessen Füßen er sich zu sitzen wünschte, wenn es so weit war: Bach zu Füßen Gottes und Biller zu Füßen Bachs.

Denn in der zutiefst religiös empfundenen Musik trafen sie sich ja auch. Und Biller hatte ja dafür gesorgt, dass Bachs Kantaten-Zyklen wieder wie selbstverständlich in der Thomaskirche erklangen und Gläubige und Musikliebhaber anlockten.

Primus inter pares

Am Ende nutzten auch die Odysseen zu allerlei Fachärzten nichts. Seine Krankheit war mit den heutigen Möglichkeiten noch nicht heilbar. Seinen 65. Geburtstag konnte er trotzdem noch mit einem vom seinen Freunden organisierten Konzert in der Peterskirche feiern – unter Corona-Bedingungen. Aber natürlich viel kleiner als das Festjahr zu 800 Jahre Thomana, das er 2012 ganz maßgeblich prägte.

Seitdem wissen deutlich mehr verantwortliche Leipziger, wie sehr der Thomanerchor zu Leipzig gehört und was für ein Kleinod er ist. Und natürlich, wie viel Anspruch und harte Arbeit hinter den Leistungen dieses Knabenchores steckt, den Georg Christoph Biller 22 Jahre lang prägen konnte.

Aber man erfährt eben auch, wie wichtig seine Rolle als Dirigent und Lehrer auch für viele angehende Sänger/-innen und Dirigent/-innen wurde. Und wie dankbar ihm viele zeitgenössische Komponisten sind, deren Werke er mit seinen verschiedenen Ensembles aufführte.

Etwas, was heutzutage eben auch nicht mehr selbstverständlich ist. Auch weil es nicht wirklich viele Dirigenten gibt, die sich so mutig auf neue Kompositionen einlassen und ihre Chöre noch für die gewagteste Musik begeistern können.

Auch die verschiedenen Erinnerungen von Wegbegleitern und Wegbegleiterinnen lassen ahnen, wie sehr Biller die Musikstadt Leipzig geprägt hat. Es haben nicht einmal alle ins Buch gepasst, erzählt Hofmann ganz zum Schluss.

Weshalb es 2023 einen weiteren Band geben soll, in dem diese dann versammelt sind. Aber zumindest erfuhr Georg Christoph Biller noch, dass das Buch der Veröffentlichung entgegenreifte, bevor er im Januar starb.

„Darüber freuen wir uns alle!“, soll er gesagt haben. Als spräche er – als Primus inter pares – für einen ganzen Chor. Und wahrscheinlich hat er auch immer so gedacht und gefühlt. Nicht der Dirigent ist der Star – so ist er auch nie aufgetreten – sondern der Chor, der binnen einer Woche auch die schweren Kantaten bis zur Perfektion eingeübt hat und dann die Kirche in himmlische Klänge taucht.

Manfred J. Hofmann Georg Christoph Biller. Zu Füßen Bachs J. G. Seume Verlag, Saarbrücken 2022, 22,90 Euro.

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