Die lässt der gestresste Pädagoge und die kämpfende Pädagogin im sonnigen Juni gerne hinter sich. Ähnlich wie jeder normale Werktätige sehnt sich auch das soziale Betreuungspersonal nach der Sommerpause. Im denkenden Wechselspiel zwischen Neigung und Pflicht gilt es momentan aber, die kommenden Tage für den Endspurt vor den Ferien nach den langen Pandemiewochen zu nutzen.
Also raus mit der Jugend. In die Natur, in Bewegung und in das präsente In-die-Augen-schauen-Gespräch kommen. Überall Aufbruch. Als hielten sich alle daran, brechen alle Dämme sozialer Isolation. Treffen, Feste, Partys im Park – selbst der Freisitz im Lieblingsrestaurant um die Ecke – sofern es ihn noch gibt – fühlt sich in der erneuten Nach-Corona-Zeit noch ein Stück freier an als vorher. Wie ein verspäteter „Osterspaziergang“. Endlich steht buchstäblich wieder der Mensch im Mittelpunkt. Und „zufrieden jauchzet Groß und Klein …“
Nur ganz so unbeschwert und „zu Frieden gekommen“ ist die Welt im Großen und Kleinen dann wohl doch nicht. Das ist uns schon bewusst. Genauso wie es verständlich und nachvollziehbar ist, sich beim Vergegenwärtigen komplexer Zusammenhänge sonnige Pausen und Auszeiten zu genehmigen. Um sie im nächsten Moment umso klarer vor Augen zu haben und zu wissen. Unsere Welt befindet sich im Wandel. Sehen wir es, lässt sich unter Umständen bewusster handeln.
Die Welt im Wandel zu begreifen, bedeutet zu realisieren, dass wir an einer eigenartigen und komplizierten „Sollbruchstelle“ zwischen Tradition und Fortschritt stehen. Oder besser gesagt, zwischen Erhaltung und Rettung unserer Lebensgrundlagen. Und da ergeben sich wechselseitig bedingende Konstellationen politischer Wertevermittlung und Lösungsgedanken.
Geprägt von unterschiedlichen Interessen, immer auch im Spannungsfeld von Macht der Minorität, die einer Ohnmacht der Masse Mensch gegenübersteht. Tradition bedeutet hier an dieser Stelle, sich eines Satzes aus unserem Grundgesetz zu erinnern. „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“.
Das Halten an den Grundsatz, dass es ums WIR bei allen gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Entscheidungen geht, muss also Vorrang vor egoistischen Intentionen, dem ICH haben. Sollte so sein.
Zentraler Diskussionsgegenstand, praktisch mit Monatsbeginn ins öffentliche Bewusstsein hineingefahren wie der Blitz heftiger Frühsommergewitter, gestiegen mit den Temperaturen, ist das Thema Mobilität. So neu ist es nun auch wieder nicht, werden viele von Ihnen sagen.
Neu ist, dass sich jetzt auch Schulen in Podiumsdiskussionen verstärkt damit beschäftigen. (Fast möchte man das Fach „Verkehrserziehung“ wieder einführen, wenn es nicht so einen altstalinistischen Margot-Honecker-Geruch an sich trüge.)
Während das mobile Volk seit Anfang Juni 9-Euro-Tickets kauft, um drei Monate auf Busse und Bahnen umzusteigen, haben Jugendliche kein Problem damit, sich bei Wind und Wetter aufs Fahrrad zu schwingen oder in den Schulbus zu steigen. Da scheint weit weniger Erziehungsbedarf zu bestehen als bei Erwachsenen. (Eigenartig.)
Fahrrad versus Auto. Diesem Phänomen widmet sich die Journalistin, Mobilitätsexpertin und Umweltaktivistin Katja Diehl (*1973). Die gebürtige Emsländerin und studierte Literaturwissenschaftlerin hat sich in den letzten Jahren in ihren verschiedenen Kommunikationsaufgaben immer wieder dem Thema Mobilitäts- bzw. Verkehrswende gewidmet. Eine „Verkehrserzieherin“ mit pragmatisch konstruktiven Lösungsansätzen.
Sie versucht in ihrem 2021 geschriebenen Buch „Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt“ mit Analysen, Zahlen und Fakten vor allem eins zu belegen: Mit dem Privat-KfZ ist nicht mehr Freiheit und Frei-Zeit möglich, ganz im Gegenteil. Das Fahr-Zeug hat sich in den letzten Jahren immer mehr zu einem „In-der-Welt-herum-Steh-Zeug“ entwickelt, meint Diehl.
46 h pro Jahr steht der mobile Deutsche mit seinem fahrenden Wohnzimmer durchschnittlich im Stau. 1,2 Steh- äh, Fahrzeuge kommen ebenso durchschnittlich auf jeden der 80 Millionen Einwohner, das bedeutet, dass in manchen Familien beinahe jede Person ein fahrendes Automobil besitzt. Aber von alleine fahrend, also auto-mobil, ist der ganze Autoverkehr schon lange nicht mehr.
Gefahrenquelle, personenineffizientes Fortbewegungskonstrukt und sogar potenziell menschen- und umweltgefährdend sei das Auto. Als Gegenbeweis führt Diehl europäische Metropolen (Paris, Helsinki) als verkehrspolitische Alternativen ins Feld, versucht zu beweisen, dass es mit weniger Blech auch geht. Gehen kann.
Weniger Auto wagen. Ein geradezu revolutionär klingender Imperativ. Zwischen Tradition und Fortschritt. Immerhin war das Auto als deutsche Erfindung – 1888 unternahm Bertha Benz als Frau(!) erstmals eine längere Automobilfahrt – eine ingenieurtechnische Meisterleistung vor ungefähr 120 Jahren. Die Straßen wurden vom Pferdedung frei, Menschen kamen sauber, trocken und schneller an ihr Ziel, hatten nicht zuletzt ein Statussymbol zum Vorzeigen.
Aber spätestens im 20. Jahrhundert wurde die Distinktion zum Volkssport, d. h. sich über „seine“ Automarke zu definieren und von der „Nachbarschaft“ abzugrenzen. Das Auto wurde bis zur Selbstwertprothese stilisiert, somit wird es in Zukunft schwer werden, der privaten Kfz-Nutzer/-in das Lieblingsspielzeug wieder zu entziehen.
Die deutsche Bürger/-innen-Welt zu klimafreundlicheren Fortbewegungsarten zu bewegen. Zu motivieren. Von einer beinahe übermächtigen Automobilindustrie und Autofahrer/-innenlobby ganz abgesehen, die eher Tankrabatte fordert und neue Fahr-Bedürfnisse weckt. (Könnten ja stattdessen schicke „Volksfahrräder“ bauen.)
Den Verzicht als Gewinn zu betrachten, das Automobil als Ausdruck einer fragwürdigen, weil egomanen Gesellschaftsphilosophie („Freie Fahrt für freie Bürger“) zu begreifen, wäre ein gewaltiger sozialer und politischer Fortschritt. Sich etwas zu teilen, nicht nur aus ökonomischem Interesse – Carsharing oder einfach „clever geshuttelt“ – würde tatsächlich einer gewachsenen zivilen Reife und Verantwortung für unsere Umwelt gleichkommen.
Einer Korrektur zurück zu einer städtischen Beruhigung, in der das Auto lediglich berufliche oder gewerbsmäßige Zwecke erfüllt. Mehr zu Fuß gebummelt oder mit dem Rad gefahren wird. Für Katja Diehl ist es gewonnene Lebensqualität, wenn Kinder gefahrloser und in verkehrsberuhigten Zonen aufwachsen, wir alle durch abnehmenden Autoverkehr stressfreier, gesünder und umweltbewusster leben könnten.
Katja Diehl, Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt, S. Fischer Verlag, 2022, 272 S.
„Überm Schreibtisch links – Korrekturzeiten“ erschien erstmals am 24. Juni 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 103 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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