Wer kennt schon Dershawin? Puschkin kennt man, seinen berühmten Nachfolger als bekanntester russischer Dichter. Dem Namen nach zumindest. Denn auch Puschkin haben die meisten nie gelesen. Die meisten kennen die Welt nur noch aus der Handy-Perspektive. Wem legen wir jetzt also Dershawin ans Herz? Vielleicht all jenen, die noch wissen, wie viel Literatur über ein Land, seine Vergangenheit und seine Herrscher erzählt.
Im Grunde hat Russland nie aufgehört, ein Zarenreich zu sein. Und wie gut es dem Land ging, das hing immer am jeweiligen Herrscher im Kreml – manchmal auch Herrscherinnen wie Katharina die Große, die Dershawin einst bewunderte.
Eine der Lichtgestalten auf dem russischen Thron. Während ihr Enkel Alexander, der Russland in der Napoleonzeit regierte, ein ziemlich kalter Herrscher war. Zaren kommen immer wieder vor in Dershawins Gedichten, die auch immer wieder zu sehr umfangreichen Oden werden.
Lob der Mücke
Oden, die scheinbar so poetische Dinge besingen wie die geheimnisvolle „Feliza“, „Amor und Psyche“ oder das „Lob einer Mücke“. Doch was scheinbar so lyrisch daherkommt, ist fast jedes Mal ein dichterisches Gegenbild zum Hof des Zaren, zur Welt der Höflinge, zur Moskauer Scheinheiligkeit, die der in einer verarmten Adelsfamilie geborene Dershawin nur zu gut kannte, auch wenn er nie eine gediegene Schulausbildung bekam.
Aber er war fleißig, wissbegierig und erwarb sich sein Wissen durch einen Leseeifer, wie er bei damaligen Höflingen am Zarenhof ganz bestimmt nicht üblich war. Was ihm auch höchste Ämter einbrachte. So war er zeitweilig auch Justizminister, war aber heilfroh, als er auf sein Gut (mit 300 „Seelen“) zurückkehren konnte und Abstand neben konnte von all den höfischen Intrigen.
Christine Hengevoß, die diese Auswahl seiner Gedichte übersetze, bescheinigt ihm einen ganz eigenen Stil, mit dem er die erstarrten Konventionen seiner Zeit durchbrach. Sein Ton klingt oft volkstümlich, hat aber nichts zu tun mit dem, was für gewöhnlich als russisches Volkslied angepriesen wird.
Es fällt trotzdem auf, wie er den akademischen Kanon der streng nach antikem Vorbild gebauten Dichtung durchbrach, neue und überraschende Reime fand, intensive Naturbeobachtungen einfließen ließ und jede Menge Überlegungen, mit denen er die aktuelle Gesellschaft mit humorvollem Ton kritisierte: Emporkömmlinge, Nichtsnutze, Intriganten, eitle Pfauen, Ruhmsüchtige, falsche Helden.
Aber so freundlich in den Gedichten verpackt, dass sich die Getroffenen zwar ärgerten, die Leser seiner Gedichte ihn aber gerade deshalb liebten.
In der Mücke durften sich einige seiner aufgeblasenen Standesgenossen (die man später in Gogols „Die Toten Seelen“ wiederfinden konnte) durchaus wiedererkennen: „Viele Siege sie gewann / auch in Dünkel und Blasiertheit, / und im Prahlen gleicht sie allzeit / manchem hohen Heeresmann.“
Und wer da munter wird und an die Gegenwart denkt, wird nicht enttäuscht: „Die erobern fremde Staaten / nicht durch eigne Heldentaten, / sondern wie’s die Mücke tut: / Summend bei den Gegnern wecken / sie von weitem Angst und Schrecken, / trinken plötzlich dann ihr Blut.“
Die Hoffnung auf aufklärbare Herrscher
Hegevoß merkt auch an, dass es möglicherweise die grottenschlechten Übersetzungen eines Kotzebue waren, der zwar als erster Dershawin ins Deutsche übersetzte, aber das so untalentiert, dass sich kaum jemand für den Mann interessierte.
Und damit auch nicht für den Freundeskreis, der sich um ihn gebildet hatte, einem der Kreise, in denen die russische Aufklärung ihren Ort gefunden hat, auch wenn Dershawins Hoffnung, er würde in den Zarinnen und Zaren aufgeklärte Herrscher finden, die er quasi mit Gedichten aufklären und belehren konnte, schon früh enttäuscht wurde.
Und die Enttäuschung klingt in vielen seiner Texte an, wo er zwar immer auch die jeweiligen Herrscher in Moskau nennt als Vorbilder für alle anderen. Aber stets als Erwartung, dass sie dem genügen könnten. Dass sie dem alle nicht genügten, verpackte er dann lieber in Bilder der Trauer.
Auch wenn er für sich in Anspruch nahm, dem Zaren tatsächlich – einst – die Wahrheit gesagt zu haben, „in schlichter Herrlichkeit dann plauschte über Gott“. Man spürt, dass er immer wusste, dass ihn die Zaren wohl eher wie den nötigen Hofnarren betrachteten, der sich zwar nicht lächerlich machte, aber – schön verpackt – manchmal die Wahrheit sagen durfte.
Denn das änderte ja nichts an ihrer Politik, die in vielem dem ähnelte, was auch heute wieder am modernen Zarenhof passiert: Das Ohr des Zaren gehört den Schmeichlern, Günstlingen und Zuträgern.
Wozu soll ich Dienst versehen?
Die Entfernung vom Hof empfand dieser Dichter wie eine Befreiung, nachlesbar etwa in „An die Muse“: „Wie die Natur uns heut umgarnt: / laut ruft sie, während all die vielen / Geschöpfe fröhlich springen, spielen: / Wer krönt sich heut zum Zarn?“
Welche Rolle er in diesem Reich der Satrapen und Günstlinge tatsächlich spielte, war ihm sehr wohl bewusst: „Wozu soll ich Dienst versehen / unter meines Amtes Joch? / Dafür, dass ich aufrecht gehe / meinen Weg, schmäht man mich doch. / Sollen doch die andern fronen, / schlaue Herren gibt’s genug / sorgen scheinbar für die Krone, / und für sich besonders gut.“ („An mich selbst“, 1798)
So taucht die Welt des Dorfes in seinen Gedichten auf, die auch die einfachen Russen kannten, eine Welt, in der er sich sichtlich zu Hause und eins fühlte mit sich. Was kümmert einen da das ferne Moskau oder Petersburg, all das Gerede der höfischen Schranzen?
Der Ruhm, den er schon bei Lebzeiten erwarb, lebt davon. Die Leser/-innen erkannten ihre Welt wieder in seinen Gedichten. Und gerade die nicht als Schäferidylle geschilderte ländliche Welt macht die Diskrepanz zum Hof deutlich.
Was darf das Gedicht?
Im Grunde sind gerade seine späten Gedichte auch eine freundliche Absage an den Glanz des Hofes und all die dort spürbare Falschheit. „Was brauch ich Städte? / Ich lebe auf dem Land. / Wie gerne ich verschmähte / auch Ordenstern und -band!“, schreibt er 1802 in „Das Landleben“.
Ein Gedicht, das sich auch sehr gegenwärtig liest. Denn die Ruhmsüchtigen, Gierigen und Nimmersatten, die dem falschen Schein nachjagen, gibt es auch im scheinbar so modernen Westen, dem die feudale Arroganz und das Verfressen fremder Reichtümer überhaupt nicht fremd sind.
Den jungen Puschkin lernte Dershawin noch kennen. Einen Burschen, der noch viel weniger ein Blatt vor den Mund nahm, wenn es um die Verlogenheit der alten Welt und ihre falsche Moral ging. Was ihm ja dann bekanntlich das Duell einbrachte, in dem er niedergeschossen wurde. Und auch der Ton ist schon da, den man dann später bei Block, Mandelstam und Bjely wieder hören wird.
Immer ein wenig augenzwinkernd, denn im Gedicht darf man immer ein bisschen mehr sagen über die Dummheit und Eitelkeit der Macht. Ob die Gepiesackten dann die Dichter verschonen, ist dann freilich ein leider blutiges Eichmaß dafür, wie viel Menschlichkeit sich die Mächtigen im Kreml noch bewahrt haben. Oder ob sie sich mal wieder für Götter halten, die mit Menschen machen dürfen, was ihnen einfällt.
So gesehen auch das eine unvollendete Geschichte der Aufklärung, in diesem Fall eines aufgeklärten Dichters, der zumindest ein wenig die Hoffnung hegte, man könnte auch Herrscher aufklären und moralisch erziehen. Das klappt irgendwie nicht. Insbesondere nicht bei Zaren, die sich moralisch sowieso für was Besseres halten.
Gawriil Romanowitsch Dershawin So werd auch ich unsterblich sein Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2022, 11,40 Euro.
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