In seinem 2019 erschienenen Buch „Der Mann im roten Rock“ findet Julian Barnes deftige Worte für die Dummheit seiner Landsleute, 2016 den Brexit zu beschließen, nur weil ein paar erzkonservative Knallchargen es geschafft hatten, die EU für alles verantwortlich zu machen, was in Merry Old England schiefgelaufen ist. Dabei konnten sie noch nie ohne einander – die Engländer und die Festlandeuropäer. Wie konnten sie das nur vergessen?
Schlechte Politik lenkt immer von eigenen Versäumnissen ab, indem sie die Schuld bei anderen sucht. Und sie ist geschichtsvergessen, was ja schon James Hawes in seinem Buch „Die kürzeste Geschichte Englands“ sehr schön gezeigt hat. Konservative Politiker rühmten sich zwar immer wieder gern der „splendid isolation“, die England zu einer scheinbar uneinnehmbaren Insel machte, die mit den Händeln auf dem Festland nichts zu tun hatte. Aber Insel-Festland-Beziehungen erzählen seit Jahrhunderten eine andere Geschichte.
Denn dass die Machtverhältnisse auf dem Kontinent sehr wohl eine Rolle spielten für Englands Einfluss und seine wirtschaftliche Blüte, das war den klügeren Köpfen in London immer bewusst.
Wenn es um den Zugang zu Absatzmärkten und den Einfluss auf die labilen politischen Gleichgewichte auf dem Festland ging, zögerte London nie lange, bis es sich engagierte – meist mit Geld, so wie in den Kriegen Friedrichs II. Aber immer wieder auch mit eigenen Truppen – so wie in den Napoleonischen Kriegen.
Nelson, Wellington, Bogue
Ein Thema, das für Reinhard Münch schon deshalb auf der Hand lag, weil einige englische Bataillone als Teil der Nordarmee auch an der Völkerschlacht bei Leipzig teilnahmen. Sie brachten in der Schlacht die damals modernste Waffe zum Einsatz – die Congrev’schen Raketen. Der Kommandeur der Raketeneinheit, Richard Bogue, kam während der Gefechte ums Leben und bekam in Taucha ein prachtvolles Grab und 1863 auch einen eigenen Apelstein.
Schlachtentscheidend waren die Raketen freilich nicht. Dazu waren sie noch zu unpräzise in der Anwendung, auch wenn sie schon ein Vorgefühl dessen gaben, wie sehr aus der Ferne abgefeuerte Raketen künftige Schlachten und Kriege verändern würden.
Natürlich widmet Münch trotzdem auch den Engländern in der Völkerschlacht einen Abschnitt, deutlich kürzer als z. B. die Erinnerungen des britischen Offiziers Moyle Sherer, mit denen Münch die englischen Truppen in die Kämpfe in Spanien begleitet, nachdem er zuvor das Wirken von Wellington und Nelson beleuchtet hatte.
Im ersten Kapitel geht er darauf ein, warum die Briten mit Napoleons Eroberungszügen ihre Vormachtstellung gefährdet sahen. Es ist ziemlich selten, dass Napoleons Kriege tatsächlich aus einer modernen Perspektive beleuchtet werden.
Gerade das Eingreifen der Engländer – nachdem Napoleon schon begonnen hatte, eine Flotte zur Invasion in England aufzubauen – zeigt, dass es gerade von französischer und von englischer Seite die ganze Zeit um Märkte, Warenverkehr und Profite ging.
Gern wird ja Carl von Clausewitz mit seinem scheinbar so logischen Satz „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ zitiert. Aber ist es nicht so, dass Politik die Fortsetzung von Wirtschaftsinteressen mit politischen Mitteln ist? Krieg als die Fortsetzung ökonomischer Interessen mit militärischen Mitteln?
Der Krieg und die Ökonomie
Natürlich ist es so. Das Motiv, das Napoleon zu der geradezu selbstmörderischen Entscheidung brachte, 1812 in Russland einzumarschieren, war nun einmal die Tatsache, dass der russische Zar nicht wirklich bereit war, seine Handelsblockade gegen England zu unterstützen.
Der Fokus verändert sich völlig, wenn man Napoleons Neuaufteilung Europas und seine Handelsblockade gegen England als eine frühe, militärisch geführte Auseinandersetzung um Absatzmärkte und wirtschaftliche Dominanz versteht. Dann werden diese Kriege nämlich zu Vorläufern Dutzender großer Kriege, in denen es immer wieder darum ging. Und damit zu typischen Kriegen des angebrochenen neuen kapitalistischen Zeitalters.
Und mit England und Frankreich standen sich die leistungsfähigsten Wirtschaftsmächte dieser Zeit gegenüber, auch wenn man aus den später veröffentlichen Erinnerungen und Tagebüchern der beteiligten Soldaten meist nichts darüber erfährt, wer die Waffen und Uniformen lieferte, wer für die Fourage und die Munition zuständig war, wer die Rechnungen schrieb und aus welcher Portokasse sie bezahlt wurden.
Ja, natürlich: Der Wunsch, einmal eine wirklich umfassende ökonomische Rechnung für die Napoleonischen Kriege zu bekommen, wächst mit jedem dieser Büchlein, die Reinhard Münch vor allem aus den veröffentlichten Erinnerungen der beteiligten Soldaten speist.
Aber selbst Generäle und Feldmarschälle verlieren in der Regel kein Wort darüber, was der ganze Spaß kostete: die Lazarette, die Pferde, die Truppentransporte, die Brot- und Weinlieferungen, die ganze verballerte Munition …
Wie funktioniert eigentlich eine Kriegsmaschinerie?
Von Sherer erfahren wir zumindest, dass die englischen Truppen relativ gut verköstigt wurden und auch besser uniformiert waren als ihre spanischen Verbündeten. Aber wer die Soldaten in der Schlacht mit frischer Munition versorgte, darüber verliert er kein Wort.
Eher mokiert er sich über die englische Einheit, die vorher schon in die ersten Kampfhandlungen verwickelt wurde, aber keinen Uniformstoff zum Flicken der zerschossenen Uniformen hatte. Sodass die Soldaten irgendwelche anderen Flicken auf die Löcher nähten.
Manchmal kommen einem diese Schlachtenschilderungen geradezu seltsam vor, in denen die Soldaten stundenlang mitten im Kugelgewitter stehen und selbst immerfort schießen, als hätten sie Rucksäcke voller Kugeln und Schießpulver mitgeschleppt. Oder als würde ihnen ein emsiger Diener immerfort Nachschub bringen, während beide Seiten schießen bis die Gesichter schwarz vom Pulver sind.
Natürlich bleibt von der schönen Überschrift nichts übrig. Die Engländer – jedenfalls die auf den Schlachtfeldern – empfanden Napoleon nicht als Erzfeind. Man findet in den von Reinhard Münch zitierten Passagen übrigens auch nichts von dem Hass, den die „Mobilisierungsschriftsteller“ damals auf Bergen von bedrucktem Papier fabrizierten.
Genauso wenig wie in den anderen Büchern, mit denen Münch all die an den Napoleonischen Kriegen beteiligten Truppenverbände porträtiert. Es wäre ja auch Unfug, denn die Soldaten und Offiziere konnten schon im nächsten Feldzug auf der anderen Seite stehen, weil die Allianzen gewechselt haben.
Für Offiziere war es sowieso normal, ihren Dienst auch außerhalb des eigenen Landes zu suchen. Von Wellington berichtet Münch, wie er an der französischen Militärakademie dem jungen Napoleon begegnete und sich die beiden jungen Männer augenscheinlich als Ebenbürtige erkannten, auch wenn Napoleon wohl meinte, „ein Mann mit solchem gottgegebenen musikalischen Talent hat nichts im Soldatenberuf verloren“.
Wie schreibt man über das in Schlachten Erlebte?
Trotzdem war es Wellington, der in Spanien den Kampf gegen die französischen Truppen forcierte und bei Waterloo die englischen Truppen befehligte, die so lange standhielten, bis – für Napoleon überraschend – Blüchers Truppen auf dem Schlachtfeld erschienen und den Sieg für die Alliierten sicherten.
Vom Mobilisierungston eines Ernst Moritz Arndt oder anderer Scharfmacher ist in all diesen Erinnerungen nichts zu finden. Für die Offiziere ergab er keinen Sinn. Und die Soldaten waren entweder – wie die Engländer – bei den ärmsten Volksschichten angeworben oder – wie bei Napoleon und den anderen beteiligten Staaten – rekrutiert.
„Volksheere“ waren das nur in dem Sinn, dass die jungen Männer aus dem gemeinen Volk hier in Uniform gesteckt wurden und Befehle ausführten. Dass sie sich – wie die englischen Soldaten – dann auf den Kriegszügen oft regelrecht unzivilisiert benahmen, wie Sherer feststellt, änderte nichts daran, dass sie sich in der Schlacht trotzdem tapfer hielten.
Wobei auch den englischen Erinnerungsschreibern nicht wirklich sprechende Bilder für das einfallen, was sie in der Schlacht erlebten. Da merkt man schon, dass auch ihnen oft nur die Worthülsen von edlen Kämpfen und tapferem Aushalten im Gefecht übrig bleiben.
Für das eigentliche Grauen und die blutige Realität des Schlachtenlärms fehlen ihnen in der Regel die Worte. Dafür sparen sie nicht mit Bewunderung für ihre Feldherren, erst recht, wenn es Männer wie Wellington sind.
Von Nelsons Sieg bis St. Helena
Münch beginnt seine Auswahl mit Nelsons Sieg über die spanisch-französische Armada im Jahr 1805, in dem eben nicht nur die von Napoleon geplante England-Invasion unterging, sondern aus Sicht gerade englischer Historiker auch das Ende Napoleons begann, auch wenn es erst den Russlandfeldzug 1812 und die Völkerschlacht 1813 brauchte, um den Kaiser tatsächlich zu stürzen.
Aber die massive Unterstützung der Engländer für Portugal und Spanien, die in Sherers Erinnerungen lebendig wird, war dafür genauso eine wichtige Etappe wie die englische Beteiligung an der Völkerschlacht.
In Waterloo standen sie dann mitten im Feuer und bekamen es mit Napoleons Garde zu tun. Und dass Napoleon dann von den Engländern nach St. Helena deportiert wurde, erzählt auch eine Menge darüber, wer eigentlich am Ende von all diesen Kriegen direkt profitierte.
England wurde ab jetzt zur Wirtschaftsmacht Nr. 1 – und zwar für ein ganzes Jahrhundert, bevor im Ersten Weltkrieg die ökonomische Frage wieder mit brutaler Waffengewalt ausgekämpft wurde. Und mit bösartigen Mobilisierungs-Tiraden auf beiden Seiten.
Keine Frage. Doch der gedruckte Chauvinismus ist nicht das, was die Soldaten auf den Schlachtfeldern erlebten. Und er verstellt völlig den Blick auf die Gewinne der Rüstungskonzerne, für die Kriege immer ein formidables Geschäft sind.
Das vergisst man so leicht, wenn der nun schon 200 Jahre währende Ruhm Napoleons zitiert wird, dem auch Münch ein paar Seiten widmet – am Ende auch mit einer jener Legenden, die von einem Napoleon erzählen, der nicht auf St. Helena gestorben ist, sondern als alter Mann in Louisiana.
Es gibt immer irgendwelche Leute, die es unfassbar finden, dass auch die großen Imperatoren einfach so abtreten können – in der Regel auf den Scherben und Ruinen ihres Allmachtswahns. Geschlagen und gedemütigt. Was bleiben da mehr als ein paar Worte für die Geschichtsbücher? „Die ganze Welt blickt auf uns!“, zitiert Münch Napoleon. „Wir werden auf ewig die Märtyrer einer unsterblichen Sache bleiben!“
Klar: Die Ausrufezeichen nicht vergessen. Unter „unsterblich“ und „die ganze Welt“ tun es diese Leute ja nicht. Dass man sich genauso emsig an die Generäle und Admiräle erinnert, die Imperatoren besiegt haben, ist die schöne ausgleichende Gerechtigkeit der Geschichte.
Dr. Reinhard Münch Napoleons Erzfeinde Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2022, 11,70 Euro.
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