Es gibt Bücher, die müssen irgendwann geschrieben werden. Auch wenn der Zeitpunkt der Veröffentlichung dann vielleicht der falsche ist. Aber wann ist schon der richtige Zeitpunkt, um endlich zur Sprache zu bringen, warum ein Land an seinen Worten erstickt ist? Und wie das nachwirkt und Leben prägt, Generation um Generation? „Machtworte“ ist ein spätes Buch. Und erzählt vielleicht gerade deshalb auch von heutiger Sprachlosigkeit.

Auf den ersten Blick: der Sprachlosigkeit der Eltern, der älteren Ostdeutschen, die in der DDR aufgewachsen sind, in Verantwortung waren oder Nutznießer, Mitläufer, Angepasste, Wegducker, Opfer und Täter, Ausgestoßene, mit Preisen Überhäufte, Staatsdiener, Malocher, Gläubige und Zweifelnde usw. Der ganze Zirkus.

Den man gar nicht mehr sieht, weil das ganze Land und das Leben darin mit lauter grauer Farbe übertüncht wurde, gemischt aus Schwarz und Weiß, Falsch und Richtig. Mit mehr Falsch als Richtig drin. Denn ab 1990 galt ja, wie Elke Lorenz anklingen lässt, nur noch das verächtliche Urteil: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Frei nach Adorno, den fast keiner gelesen hat, der damit sein Urteil über den „Unrechtsstaat“ und seine Bewohner fällte.

Dass dieser Urteilsspruch etwas völlig anderes besagte und erst zur moralischen Keule umgedeutet wurde, hat Martin Mittelmeier 2009 quellenkundig analysiert.

Mächtige Keulen aus Worten

So leicht lassen sich völlig anders gemeinte Sätze zu Keulen im Meinungsstreit machen. Und zur Anklage für all jene, über die man längst ein Urteil gefällt hat. Und siehe da: Auch sie entpuppen sich als Machtworte. Genau vom selben Kaliber, wie sie der Vater des Mädchens verwendet in dieser Geschichte, die eine Lebensgeschichte ist.

Die Lebensgeschichte des Mädchens, geboren wenige Monate nach Gründung der DDR, so wie auch die Autorin Elke Lorenz, die an diesem Buch im Grunde schon in den 1980er Jahren zu arbeiten begann, es wieder liegen ließ, nicht nur, weil die Zeiten sich änderten und sie sich als Verantwortliche für Pressearbeit der Stadt Bautzen einen Lebensunterhalt verdienen musste, denn jetzt reichte das Einkommen des bekannten sorbischen Dichters Kito Lorenc allein nicht mehr für den Haushalt.

Schon das wäre eine ostdeutsche Lebensgeschichte. Aber die war es nicht, die Elke Lorenz zu erzählen drängte. Es war die Geschichte des Mädchens, der Frau und des Mannes, die in den 1950er Jahren beginnt und gleich mit einer gewaltigen Distanz, die auch eine Distanzierung ist: „Ich brauche ein Kind für diese Geschichte. Ein Kind, einen Mann, eine Frau.“

Es ist eine Distanz, die nur an ganz wenigen Stellen im Buch aufgelöst wird. Denn wirkliche Nähe ist nicht möglich. Sie können alle drei nicht aus ihrer Rolle, aus ihrer Haut schon gar nicht. Denn der Vater des Kindes ist Staatsanwalt, einer jener jungen Kader der Partei, mit denen das Land in die sozialistische Zukunft geführt werden soll, überzeugt von „der Sache“, glühende Vertreter der neuen Zeit, unerbittlich in ihrer Überzeugung.

Ein Mann, vor dem sich seine Mitbürger fürchteten. So wie sich auch das Kind zu fürchten lernte. Vor seiner Rigorosität und seinen Worten. Rücksichtlosen Worten. Sätzen, die das autoritäre Denken der Zeit mitten in die Familie tragen. Auch wenn Elke Lorenz das Wort Funktionärsfamilie nicht benutzt, wächst „das Mädchen“ in einer auf.

Es wird permanent kontrolliert, zurechtgewiesen und muss Strafpredigten über sich ergehen lassen, als wäre selbst das kleinste häusliche Versagen ein Angriff auf den Staat, die „Sache“, den Willen und die Würde des Mannes als Vertreter der Macht, des Staates und der „Sache“. Er hat ein Ansehen. Das soll keine Kratzer bekommen.

Worte aus der Schwarzen Pädagogik

Und man würde es gern dabei belassen, wäre das nicht mit all den Floskeln vermengt, die auch heute noch in vielen Familien gesprochen werden. Meist gedankenlos, aus Stress, Verzweiflung, Machtlosigkeit heraus gesprochen. Denn Machtworte benutzen muss nur, wer sich machtlos und überfordert fühlt.

Oder hat sich das inzwischen geändert? Haben die heutigen Kinder und Enkel andere Erfahrungen gemacht? Sind solche Sätze endlich am Aussterben: „Was bildest du dir ein? Ich erwarte von dir. Das will ich nicht noch einmal lesen. Dankbarkeit beweisen. Fang ja nicht erst so an. Andere Kinder. Hier bei uns. Wie gut es dir geht. Und du. Vorbild sein. Sieh mich gefälligst an. Und mach den Mund auf, wenn ich mit dir rede.“

Sätze direkt aus der Schwarzen Pädagogik. Die meist viel älter sind als diese so gern für einen Unfall erklärte DDR, die auch daran litt, dass sie nicht wirklich eine menschliche Sprache fand, über sich selbst zu sprechen, sondern in Propaganda und Worthülsen steckenblieb. Dass dieses Sprechen nicht von den Kommunisten erfunden wurde, merkt das Mädchen erst spät, wenn es erstmals Victor Klemperers „LTI“ in die Hände bekommt.

Und das Mädchen liest viel. Und merkt schnell, wie man Punkte sammeln kann, wenn man die Dinge mit Machtworten und Phrasen aufbläst. Erst spät wird ihr bewusst, dass diese Worte auch Mauern und Gitter bauen.

Dass man sich selbst darin einsperrt und zum Gefangenen wird. In einer Sprache, in der es nur Freund und Feind gibt, richtig und falsch. Und die Linie unsichtbar ist, die richtig von falsch trennt.

Sodass wenig genügt, und man steht selbst in der Anklagebank, wird angegriffen und niedergemacht, wie es Elke Lorenz in einer bedrückenden Szene aus dem Studium ihrer Protagonistin erzählt.

Einer Szene, die an eine ähnliche Szene erinnert, die Hartmut Zwahr in seinem Studentenroman „Leipzig“ erzählt. Der diese Szene ebenfalls an der Uni Leipzig handeln lässt, nur an einem anderen Institut.

Die Richtigen auf der richtigen Seite

Das Mädchen in Lorenz’ Roman studiert hier am „Roten Kloster“ Journalistik und weigert sich nachher, zurückzugehen in die Kreisredaktion, die sie zum Studium delegiert hat, wie das damals hieß. Es wird sein erstes großes Kräftemessen mit „dem Mann“, der augenscheinlich noch immer Einfluss nimmt auf das, was seine Tochter tut und ihr als Lebensweg vorgezeichnet wird.

Dass er sich nie bereichert hat wie andere Funktionäre, das rechnet sie ihm später an. Aber dass er seinen Einfluss – und den seiner Genossen – immer dazu genutzt hat, auch über sie weiter Macht auszuüben, das belastet ihr Leben.

Es ist die Liebe, die ihr die Kraft gibt, auszubrechen und gegen den Willen des Mannes anzuarbeiten, den sie bislang immer noch glaubte, dadurch von sich fernhalten zu können, dass sie ihn mit Schweigen und einer verschlossenen Miene strafte.

Aber so wird man sie nicht los, die Kontrollsüchtigen, die sich „ihrer Sache“ immer so sicher sind und glauben, so handeln zu dürfen, wie sie es tun, nur weil sie „auf der richtigen Seite“ sind.

Und wo war er früher? Das wird erst später ruchbar. Da gibt es auch einen Bruch in der Karriere des Mannes, als publik wird, dass er auch im Nazireich ein Angepasster war, einer, der Befehle ausführte und vielleicht auch für Schlimmeres verantwortlich.

Mit solchen ließ sich auch der neue Staat leichter aufbauen als mit kritischen, zweifelnden, suchenden Menschen. Denn die neue Ideologie war ja fix und fertig. Die musste nur noch durchgesetzt, durchgedrückt, „zur Tat“ werden. Manche Phrasen überlebten den Zeitenwechsel. Verhaltensweisen auch.

Klamottenkiste der Drohworte

Dass Sprache auch missbrauchbar macht, auch das erlebt das Mädchen, das zur Frau wird und merkt, wie schwer es ihr fällt, sich gegen Vorwürfe, Anklagen, Misstrauen zu wehren. Gerade in diesen manchmal beklemmenden Szenen wird deutlicher, wie das funktionierte.

Und wie es den Menschen zum Spielball machte, zum Werkstück, das bearbeitet werden musste. Noch so ein Spruch aus der Klamottenkiste der Schwarzen Pädagogik: „Wo gehobelt wird, fallen Späne.“ Wer mag, kann ein ganzes Wörterbuch dieser Zumutungen aus dem Buch herausfiltern. Und wird erschrocken sein, wie das heute teilweise noch immer umgeht, pöbelt, verächtlich macht.

Denn die so sprechen, halten sich immer für stark, überlegen, erfahrener. Obwohl sie mit diesen Worten der Macht vor allem eins vermeiden: Erfahrungen. Verunsicherungen sowieso. Ganz am Ende gibt es der Mann zu. Da kann ihm das Mädchen beinah verzeihen. Seine einstige Kälte, Ablehnung und auch Gewalt, die nicht nur in den Worten steckte. Für das überfällige Gespräch ist es da aber zu spät.

Nur die Erzählerin weiß, dass es richtig war, auszuscheren, sich zu wehren und sich der Macht des Mannes und seiner Genossen möglichst zu entziehen. Eine überlebensnotwendige Entscheidung, die dem Mädchen auch zeigt, wer wirklich ehrlich zu ihr ist. Und wer lügt, sich verstellt oder gar feige entzieht.

Denn dass die Genossen in der Kreiszeitung sogar alles daransetzen wollen, sie zur Feindin zu machen und ihre Existenz zu vernichten, das sorgt endgültig für Klarheit. Da sieht sie das Brutale und Inakzeptable im Denken dieser Mächtigen, die ihre Macht auch zu gebrauchen wussten.

Auch diese Sprachfetzen kommen vor. Sprachfetzen, die Angst machen sollten. Wahrscheinlich die dümmste Erscheinung des Sprechens in diesem System: Menschen mit Angst dazu bringen zu wollen, zu funktionieren. Und auch noch dankbar zu sein dafür.

Die anhaltende Macht der Worte

Das war so in den 1980er Jahren natürlich nicht erzählbar. Es hätte selbst den Zensoren und Gutachtern den Spiegel vorgehalten. Und danach? Auch das klingt zumindest an, wenn Elke Lorenz den Adorno-Spruch hin- und herdreht. Er passt einfach nicht. Er stimmt auch nicht.

Ein Leben lässt sich nicht in richtig und falsch einsortieren. Nicht einmal in einem dogmatischen Land, wie es die DDR war. Das Mädchen jedenfalls lernt, dass es sich wehren kann „gegen den Mann, ohne von ihm zerstört zu werden. Kein Opfer zu sein.“

Und dann kommt ein Satz, der nur simpel klingt, aber einen doppelten Boden hat: „Von diesem Tag an war alles anders. Der Mann war nicht mehr wichtig für sie, sie hatte ihre Angst vor ihm endgültig verloren, und der Mann seine Macht über sie.“

Denn Machtworte funktionieren nur, wenn man ihnen Macht gibt und sich als Opfer fügt, wenn man seiner Angst allen Raum lässt. Und sich nicht wehrt. Und das hat Folgen. Auch über das Ende eines solchen Staates hinaus, wenn es darum geht, mit seinem Leben davor und danach zurechtzukommen.

Das aber kann einem keiner abnehmen, schon gar nicht die neuen Besserwisser, die mit dem Adorno-Spruch daherkommen, der eigentlich in die Auslage eines Möbelgeschäfts gehört, aber nicht in eine gesellschaftliche Debatte.

Zeit, über Machtworte zu reden

Am Ende erzählt Elke Lorenz noch einem Traum, eigentlich einen Albtraum, in dem all die kaputten und beängstigenden Menschen aus ihrer Geschichte noch einmal auftauchen, Wartende in einer Schlange, von der man Anfang und Ende nicht sieht. Die typische „sozialistische Wartegemeinschaft“, in der man schon etwas Besseres war, wenn man im Kopf der Schlange stand und nicht an ihrem Ende.

Manche haben nur die Albträume mitgenommen aus diesem Land der am Ende machtlos gewordenen Worte. Andere haben gelernt, sich zu wehren und den Worten keine Macht mehr über sich zu geben. Andere haben die Machtworte mitgenommen und sich als Helden verkauft.

Und das Schikanieren nicht aufgegeben, das immer schon in diesen Worten gesteckt hat. In Worten, denen egal ist, wer sie spricht oder welche Farbe sein Parteibuch hat. Worte, in denen immer Drohungen mitschwingen. Solche etwa: Wenn du nicht, dann …

Und das ist nicht nur ein ostdeutsches Erbe, obwohl gerade hier auffällt, wie sehr die Diskussion über die Machtworte versäumt wurde. Nicht nur 40 Jahre lang, sondern auch heute noch. Denn in Worten steckt auch eine Haltung – vor allem denen gegenüber, die man zurechtweist, kleinmacht, niedermacht, in Angst und Schrecken versetzt.

Und damit bin ich in der Gegenwart angekommen. Das Buch ist da. Vielleicht zu spät. Höchstwahrscheinlich höchst unzeitgemäß. Überfällig. Und ganz gewiss eine Zumutung für alle, die sich über das Sprechen und Machtausüben mit Worten noch nie Gedanken gemacht haben.

Elke Lorenz Machtworte Mitteldeutscher Verlag, Halle 2022, 20 Euro.

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