Vorsicht Hochspannung. Glaubt man zwar nicht, wenn eine erfolgreiche westdeutsche Schriftstellerin sich ausgerechnet der ostdeutschen Konflikte annimmt. Aber Roswitha Quadflieg gelingt ein echtes Kammerstück, wenn sie bei Gabrieles Beerdigung all die Leute zusammenkommen lässt, die von Gabrieles Vorgeschichte wussten, und jene, die bei der völlig anders verlaufenden Beerdigungsfeier aus allen Wolken fallen.
So wie Hans Gerechter, ein braver Tischler aus Westberlin, der mit Gabriele die letzten fünf Jahre ihres Lebens verbringen durfte und der sie nur als liebende Frau in Erinnerung hat, die der Krebs viel zu früh aus dem Leben gerissen hat. Doch die Trauergesellschaft hatte sie selbst noch zusammengestellt.
Eine kleine Runde, von der Hans annehmen durfte, dass es die ihr wichtigsten Menschen im Leben gewesen waren. Nicht ahnend, dass Gabriele, die sich schon 1990 in einem großen Fernsehinterview als IM geoutet hatte, jetzt – nach ihrem Tod – augenscheinlich wirklich reinen Tisch machen wollte.
Denn nicht nur ihre alte Mutter, die sie einst als Kind ins Kinderheim gegeben hatte, war eingeladen, sondern auch zwei ihrer einstigen Freunde aus der Oppositionsbewegung, ihre einstige Lebensgefährtin Christa, ihre schon 1973 in den Westen geflüchtete Cousine Claudia, und ihre Freundin aus dem Kinderheim Cora Lanz, deren Name sie einst als Deckname benutzt hatte.
Unerwartete Gäste
Genug Zunder an einem Tisch. Auch wenn Hans nichts davon ahnt. Nicht einmal davon ahnt er etwas, dass Gabriele ihre Tagebücher mit der Verlegerin Isabell von Hohenstein als Buch veröffentlichen wollte. Reine Sensationsmache? Hans jedenfalls ist völlig irritiert, als am Tisch all die alten Geschichten zur Sprache kommen.
Insbesondere Leah Kautz, die unter Gabrieles Bespitzelungen einst besonders zu leiden hatte, sieht die Gelegenheit gekommen, Hans ordentlich reinen Wein einzuschenken. Der sich natürlich – ganz ähnlich wie Pfarrer Konrad Mantel – völlig im falschen Film fühlt.
Schon dieser erste Teil von Roswitha Quadfliegs lesenswerter Inszenierung ist im Grunde ein Glanzstück über die deutsch-deutschen Missverständnisse, die im Jahr 2007, in dem die Geschichte spielt, noch viel offener dalagen als heute. Die Wunden waren noch frischer, die Diskussionen härter und die Gräben im Osten viel tiefer. Die Brisanz hat zwar nicht wirklich abgenommen. Aber viele der einstigen Akteure sind inzwischen gestorben.
Auch die alten Stasi-Offiziere, die Roswitha Quadflieg einfach eindringen lässt in die eigentlich klein geplante Trauerfeier, sind schon hochbetagte, alte, verhärtete Männer in Lederjacken, die hier glauben, die Beerdigung ihrer einstigen Informantin dazu nutzen zu können, ihre alten Überzeugungen und Selbstgerechtigkeiten verkünden zu können, stehen für ein Milieu, das ja mit der Friedlichen Revolution und der deutschen Einheit nicht einfach verschwunden ist.
Es ist auch heute noch da – ressentimentgeladen, beleidigt, selbstgerecht und noch immer der Überzeugung, dass die DDR mit ihrem Überwachungs- und Spitzelsystem die bessere Gesellschaftsordnung gewesen wäre. Und als sie das auch noch in der alten, stiernackigen Art in die Runde werfen, stacheln sie Leah Kautz erst recht an, ihr Treiben und ihre Namen auf den Tisch zu packen. Denn scheinbar steht Gabriele hier irgendwie auf der Anklagebank, mit ihrem Verrat, ihrer Selbstbezogenheit und Unehrlichkeit.
Ein anderer Film
Aber genauso ist gerade Leah klar, dass die eigentlichen Täter in Lederjacken im Raum stehen. Ob es nur die drei alten Knacker sind, die sich hier bissig zu Wort melden, wird nicht recht klar. Denn außer den zehn Gästen, mit denen Hans gerechnet hat, sind noch weitere 20 uneingeladen mit in das Hinterzimmer der Gaststätte spaziert.
Nur Mitläufer? Oder ist alles schon abgekartet? Man weiß es nicht. Und die Brisanz der Szene entsteht auch nicht wirklich dadurch, dass diese Leute als bedrohlich empfunden werden, auch wenn da unübersehbar ein altes Stück DDR wieder im Raum steht, auch als nie Ausdiskutiertes. Das wird gerade den Westdeutschen am Tisch deutlich, die sich in der Diskussion immer fremder fühlen, wie in einem anderen Film.
Der es ja auch ist. Und es verblüfft schon, wie genau Roswitha Quadflieg das gezeichnet hat – auch mit einem Sinn für das Unabgegoltene, nie Ausdiskutierte in den ostdeutschen Konflikten, die aus Westsicht immer marginalisiert worden sind. Oder ignoriert.
Mit Folgen. Denn aus westdeutscher Sicht existieren praktisch nur die jubelnden Fahnenschwenker im Vorfeld der Deutschen Einheit. So wird das Thema auch fast nur behandelt, gern gekoppelt mit hochnäsigen Stasi-Vorwürfen an die Ostdeutschen, als hätten sie sich ihre Überwacher und Peiniger selber ausgesucht.
Wie komplex die Sache auch heute noch ist, beschreibt Roswitha Quadflieg – mit Leahs Worten – so: „Wie Schaben in der Wand, fressen und kratzen sie, höhlen aus – bis das Gebäude eines Tages, gänzlich zerrüttet, zusammenfällt. Ein ganzer Staat, der Frieden und Freundschaft propagierte, vernichtete sich selbst, durch Lügen und Verrat, durch Misstrauen und Missgunst, die er unter unseren Bürgern säte. Es wird Generationen dauern, bis sich das ausgewachsen hat.“
Alte Wunden
Es wird auch Generationen dauern, bis das ausgeheilt ist. Denn im Grunde sind die vielen verschiedenen Erinnerungen an Gabriele auch Erzählungen über ihre verschiedenen missglückten Leben. Und davon erzählt auch die Wortmeldung des jungen Arztes Jakob Kreuzer. Auch er war nicht eingeladen.
Hat aber – wie Gabriele – ebenso Heimerfahrung im DDR-Kinderheim sammeln können, nachdem seine Mutter in den Tod getrieben worden war. Auch er wird deutlich. So wenig wie Leah lässt er sich in diesem Raum die Butter vom Brot nehmen. Und eigentlich deutet alles darauf hin, dass die Anklage endlich Gehör findet und die Richtigen trifft – nämlich die alten Männer in ihren Lederjacken.
Aber dann geht das Licht aus.
Am Ende weiß niemand, wer den Lichtschalter betätigt hat und wer das Kuchenmesser gegriffen hat. Der zweite Teil des Buches „Im Verhörzimmer“ ist wie der Versuch im Krimi, durch Befragung der Beteiligten möglichst schnell die Verdächtigen ausfindig zu machen.
Ob diejenige, die die Polizei dann als Verdächtige abführt, tatsächlich die Täterin ist, wissen wir nicht. Aber darum geht es augenscheinlich bei diesem technischen Kunstgriff auch nicht, sondern um das Problem unserer heutigen Perspektiven. Jeder hat das Vorhergehende auf seine Weise erlebt und verstanden – oder fehlgedeutet. Oder war gar – wie Cora Lanz – völlig überfordert.
Was ja ein Spiegelbild unserer heutigen Sicht auf das Vergangene ist. Und auf die sich begegnenden Unverständnisse und Missverständnisse, die noch heute nicht nur in den ostdeutschen Diskussionen stecken, sondern auch im Missverstehen von Ost und West.
Oder besser: West und Ost. Denn gerade die westdeutsche Anmaßung, die richtige Sicht auf die (gemeinsame) Geschichte zu haben, verzerrt den Dialog, macht sogar meistens sprachlos, weil diese Schwarz-Weiß-Sichten aus westlicher Perspektive meist falsch und unpassend sind.
Anmaßend sowieso. Während die von Leah geschilderten Konflikte Ost nicht wirklich ausdiskutiert sind. Vielleicht auch gar nicht ausdiskutiert werden können, weil es keine gemeinsame Gesprächsbasis gibt.
Ein ostdeutsches Kammerstück
Um die voreingenommene Perspektive West zu vermeiden, hat sich Roswitha Quadflieg Hilfe und Rat bei echten Kennern der Materie geholt – von Freya Klier über Roland Jahn bis zu Gerd Poppe und Peter Wensierski. Was dabei herauskommt, ist ein echtes ostdeutsch-ostdeutsches Kammerstück, in dem auch das westdeutsche Unverständnis für die ostdeutschen Konflikte, Verwundungen und und tiefsitzenden Kränkungen seinen Platz hat.
Das sich übrigens im Unverständnis der verhörenden Polizeibeamten spiegelt, die augenscheinlich so jung sind, dass sie selbst vom Herbst 1989 nichts mehr mitbekommen haben. Und denen die alten Geschichten sowieso egal sind, weil sie nur herausfinden wollen, wer da nun im Dunkeln zum Kuchenmesser gegriffen hat.
Doch gerade in den Verhören verliert sich diese alte Krimi-Neugier danach, wer es denn nun getan hat. Und warum. Auch wenn in den Einzelverhören deutlich wird, dass hier jemand tatsächlich Interesse daran hatte, die Sache eskalieren zu lassen. Und zwangsläufig fällt einem dabei Brecht wieder ein: „Und man siehet die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.“
Sie sind dann nach dem heillosen Tohuwabohu, das nach dem Ausschalten des Lichts entstand, verschwunden. Bis auf die, die etwas abbekommen haben.
Schatten einer Diktatur
Was übrig bleibt, ist die „Utopie von einer besseren Welt“, wie Leah im Verhör sagt. Die in ihrer Brüskheit auch ausspricht, wie Diktaturen funktionieren und ihre Bürger verkrüppeln. „Ich war Friedensaktivistin“, sagt sie.
„So nennt man das heute. Mit dem Unterschied, dass so eine Tätigkeit in der DDR als Landesverrat galt und mit zwei bis zehn Jahren Gefängnis geahndet wurde. – Ja, freuen Sie sich, dass Sie nicht in diesem Land aufgewachsen sind.“
Eine Stelle, bei der man unwillkürlich auf den offiziellen Erscheinungstag des Buches schaut: es war der 28. Februar. Da konnte Putins Überfall auf die Ukraine am 24. Februar noch keine Erwähnung finden. Aber wer so aufgewachsen ist wie Leah, der weiß, wie das funktioniert.
Und gerade, weil die verhörenden Polizisten es scheinbar nicht begreifen, wird die Geschichte an dieser Stelle auch zu einer ost-westdeutschen Geschichte des Missverstandenwerdens. Oder des Nichtzuhörens und der Gleichgültigkeit.
Gewissermaßen auch die Geschichte von Hans Gerechter, dem hier die Wahrheit über die geliebte Frau um die Ohren fliegt, von der er nun lernen muss, dass er sie gar nicht kannte.
Eigentlich der größte Vorwurf in diesem Kammerstück, in dem sich Hans am Ende weiterhin selbst bemitleidet und nicht einmal versteht, dass es überhaupt nicht um ihn ging: „Als erstes habe ich meine Lebensgefährtin zu Grabe getragen, und dann …, wie soll ich das beschreiben, kübelweise Dreck über den Kopf geschüttet bekommen.“
Kein Wunder, dass Gabriele ihm ihre Geschichte nicht erzählt hat. Sondern lieber eine Beerdigungsgesellschaft einlud, von der sie sicher sein konnte, dass sie alles auf den Tisch packen würde. Auch ihre Verlegerin, die sich schon auf den Skandal um das Buch freute und genüsslich vorliest, was Hans nie zu hören gewagt hatte.
Und so begreift er nicht einmal, welches Drama sich da aufbaut, während er sich noch um Schnittchen und einen übereifrigen Wirt sorgt, der ja vielleicht auch …? Ein echtes Kammerstück eben über die deutsch-deutschen Missverständnisse, dass man sich durchaus auch auf der Bühne vorstellen kann – mit Licht, das plötzlich ausgeht, Schreien, Gepolter und einer Beerdigungsgesellschaft, die nicht geahnt hat, wie das so auf einmal enden würde.
Roswitha Quadflieg Ihr wart doch meine Feinde Faber & Faber, Leipzig 2022, 20 Euro.
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