Das Ende der DDR hat Franz Fühmann nicht mehr miterlebt. Er starb bereits 1984. 1976 war er Erstunterzeichner eines Protestbriefes gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Schon früh engagierte er sich in der Friedensbewegung der DDR, während die Staatsmacht versuchte, ihn möglichst zu isolieren. Aber seine größten Filmprojekte scheiterten wohl eher nicht an der Zensur, sondern an der Armut der DDR.
Und es wären große Filmprojekte gewesen. Die freilich die Möglichkeiten der DEFA völlig überfordert hätten. Ein paar literarische Vorlagen von Franz Fühmann wurden ja tatsächlich verfilmt, von „Betrogen bis zum jüngsten Tag“ (1957) bis „Das Geheimnis des Ödipus“ (1973 / 1974). Danach war Schluss, auch wenn es die SED-Führung nie fertigbrachte, Fühmann öffentlich ins Abseits zu stellen. Das machte man alles hinter den Kulissen. Vielleicht steckt das auch hinter dem Unwillen, die Filmprojekte nach seinen Szenarien umzusetzen und das Geld dafür zu bewilligen.
Zu teuer für die DEFA?
Der Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber Paul Alfred Kleinert versucht in diesem Buch herauszubekommen, warum Fühmanns wirklich große Szenarien nie umgesetzt wurden, lässt dabei vor allem Filmleute zu Wort kommen, die einst mit ihm gearbeitet haben und einige dieser Szenerien bis zur Umsetzungsreife gebracht haben. Zugreifen konnte er auch auf das Fühmann-Archiv mit seinen vielen Vorarbeiten für diese Filmprojekte, und auf die Veröffentlichungen im Hinstorff Verlag, der auch Fühmanns große Romane und Epen veröffentlichte, die teilweise zur Grundlage seiner Filmszenarien werden sollten.
Das ergibt eine gewisse Geschlossenheit, die tatsächlich darauf hindeutet, dass Fühmanns Szenarien zu „Simplicius Simplicissmus“, zu „Der Nibelunge Not“ oder seine Filmideen zu Walther von der Vogelweide und E.T.A. Hoffmann auch aus inhaltlichen Gründen nie umgesetzt wurden. Denn natürlich erfuhren auch Regisseure und Drehbuchautoren nicht, warum letztlich die Budgets für umsetzungsreife Filme im Kulturministerium oder gar noch weiter oben abgelehnt wurden. Mit 15 Millionen Mark hätte Fühmanns Simplicissimus-Adaption natürlich das Budget der DEFA gesprengt und sieben bis acht andere DEFA-Produktionen unmöglich gemacht.
Im internationalen Maßstab oder gar im Vergleich mit den wirklich großen Filmstudios waren die Budgets der DEFA sowieso ziemlich winzig. Aber wie gesagt: Aus den Entscheidergremien der damaligen Zeit erfährt man hier nichts. Aber vielleicht braucht es das auch nicht, denn es sind ja nicht nur Fühmanns gescheiterte Filmszenarien. Es sind auch Stoffe, die die DEFA nicht umsetzen konnte oder durfte, obwohl sich auch Szenenbildner, Regisseure und Drehbuchautoren mit den Stoffen identifizieren konnten.
Und auch mit Fühmanns sehr eigenwilligem Blick auf die große Literatur und die Mythen. Denn wie kein anderer in der DDR beschäftigte sich Fühmann ja mit Mythen und Archetypen. Er erzählte diese nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Und das in einem Land, in dem man sich ganz und gar mythenlos zu verkaufen versuchte.
Die Ahnungslosigkeit des Ödipus
Weshalb Fühmanns Erzählung „König Ödipus“ von 1966 eben nicht nur eine Erzählung über Verblendung und Selbstbetrug in einer Wehrmacht-Einheit in Griechenland war, die den König Ödipus inszenierte und deren Akteure nicht einmal merkten, dass sie selbst ein Ödipus-Drama erleben. Genauso blind für die Folgen ihres Tuns.
Die Erzählung wurde in Ost wie West positiv rezipiert. Was umso leichter fiel, weil man hier das Verhängnis einfach auf die als überwunden definierte Vergangenheit projizieren konnte. Da hat dann eben ein Wehrmachtoffizier das Sophokles-Drama quasi noch einmal erlebt, blind für sein eigenes Schicksal.
Aber Christian Ernst deutet in seiner Beschäftigung mit den beiden Verfilmungen des Fühmann-Stoffes (1974 und 1991) zumindest an, dass Fühmanns Intention immer auch auf die Gegenwart zielte. Das ist ja die Stärke der großen Archetypen: Sie erzählen eben nicht irgendwelche alten Göttersagen und Königsdramen. Sie erzählen von der menschlichen Verstrickung ins eigene Leben. Sie erzählen immer von Gegenwart.
Und sie machen Autoren hellsichtiger. So wie es Fühmann spätestens mit dem Prager Frühling ging. Spätestens, weil ja auch schon „König Ödipus“ von der Ur-Frage handelt, die sich Fühmann nach seiner eigenen Verstrickung in den Zweiten Weltkrieg als Soldat immer wieder stellte: Wie verführbar ist der Mensch eigentlich? Wie bereitwillig folgt er verlogenen Ideologien, lässt sich missbrauchen und freiwillig zum Täter machen?
Die verfluchte Doppeldeutigkeit E.T.A. Hoffmanns
Etwas, was er ja in den Vorarbeiten zum E.T.A. Hoffmann-Stoff deutlich in den Mittelpunkt stellte, wo er die „verfluchte Doppeldeutigkeit“ aus Hoffmanns „Der Goldene Topf“ in den Dialog bringt mit der Geschichte des KZ-Arztes Dr. Mengele. Für Fühmann war Hoffmann einer der drei wichtigsten Vertreter der deutschen Romantik. Einer, der in seinen „phantastischen Erzählungen“ eben keine Mittelalter-Klischees servierte, sondern die Abgründe des menschlichen Verhaltens auslotete. Hellsichtig, zum Erschrecken. Fühmann verblüffte es bis zum Schluss, dass die deutschen Filmemacher die Vorlagen aus Hoffmanns Erzählungen nicht nutzten.
Waren diese doch quasi schon wie Film-Exposés angelegt. Aber vielleicht lag es genau daran. Und natürlich am Misstrauen der Nachkriegsgeneration in jeden Mythos. Was im Kapitel zu „Der Nibelunge Not“ zumindest anklingt. Denn kein anderer deutscher Epen-Stoff war im Nazi-Reich so missbraucht worden wie der Stoff des Nibelungen-Liedes. Was nicht drin war, wurde hineininterpretiert und umgedeutet (so wie der Hauptmann in „König Ödipus“ den alten Dramen-Stoff umdeutet, wohl wissend, dass es in Sophokles’ Drama überhaupt nicht um Rasse oder edles Blut geht).
Und mit den Essays zu Fühmanns Filmentwurf zu „Der Nibelunge Not“ kann man ein Stück weit nachvollziehen, wie Fühmann den Epenstoff aus dem 12. Jahrhundert demontiert, neu deutet und in der Geschichte die Staatsraison sichtbar macht, nach der fast alle Beteiligten handeln – außer Siegfried, der ja selbst schon in dieser Epen-Zeit ein Archetypus war, ein Nachhall der alten germanischen Göttersagen. Ein wilder und naiver Held, der so handelt, wie man in den alten Mythen handelte, und damit eigentlich zum Störelement wurde, der das labile Gleichgewicht der Macht gefährdete.
Wäre Fühmann auch noch ein humoristischer Schriftsteller gewesen, hätte er seinen Filmentwurf auch nennen können: „Siegfried muss weg.“
Hat er aber nicht. Wohl wissend, dass selbst diese Konstellation des scheinbar moderneren mittelalterlichen Feudalwesens im Konflikt mit dem ungebändigten Helden der Vorzeit genauso auch in der Gegenwart zu erleben ist. Menschen sind nun einmal so. Und gerade da, wo sie glauben, aus eigener Genialität zu handeln, wiederholen sie tatsächlich nur uralte Rollenmuster, die sie irgendwann gelernt haben, oft nicht einmal mehr wissend, wo und von wem.
Die Nibelungen im DDR-Kino?
Und dann handeln sie ebenso blind drauflos. Und wenn man sich das dann als großes DEFA-Filmepos vorstellt, taucht natürlich sofort die Frage auf: Wie hätte so ein Film in der DDR gewirkt? Was für Diskussionen wären da entstanden? Und in welchen Erklärungszwängen wäre auf einmal die vergreiste Parteiführung gelandet? Denn was in der DDR veröffentlicht wurde, wurde immer interpretiert auf das „real Existierende“ hin.
Und Fühmann wusste das. Deswegen beschäftigte er sich ja mit diesen Stoffen. Auch weil ihn die Frage umtrieb, wieviel die alten Stoffe eigentlich über die eigene – nicht sagbare – Gegenwart verrieten.
Und genauso erging es ihm ja mit seiner Adaption des „Simpicius Simplicissimus“, der auch deshalb schon einen doppelten Boden hatte, weil im Jahr 1963, als Fühmann mit der Arbeit am Stoff begann, alle erwachsenen Bewohner der DDR ihre noch immer wache Erinnerungen an den Krieg, Zerstörung, Tod und Leid hatten. Der Dreißigjährige Krieg, den Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen seinen Simplicissimus erzählen lässt, assoziiert zwangsläufig den Zweiten Weltkrieg.
Und natürlich die Fühmannsche Ur-Frage, wie man in so verrückten Zeitläufen eigentlich seine Menschlichkeit bewahren kann. Oder so etwas wie Sinn im Leben – übrigens eine Frage, die auch die Filmleute selbst verwirrte: Mit dem Ende kamen auch sie nicht so richtig klar, war es doch im Land der Arbeiter und Bauern geradezu selbstverständlich, dass solche Geschichten mit einem positiven Ende auszuklingen hatten, einem bisschen Hoffnung oder gar einem schönen Fingerzeig darauf, dass es in Zukunft ein Paradies geben würde, von dem die Bauern und Soldaten im Dreißigjährigen Krieg nur träumen konnten.
Der Nicht-Held Simplicissimus
Zu schaffen macht auch Fühmann schon, dass die Geschichte des Simplicissimus nicht stringent erzählt wird, dass man keinen reifenden Charakter sieht und auch keinen Menschen, der etwas lernt aus seinen Erfahrungen. Der Simpel am Ende ist kein Gereinigter, zur Erkenntnis Gekommener. Im Gegenteil: Seine Kriegserlebnisse hat er ja genauso wie flotte Kamellen erzählt, wie das viele „Landser“ nach dem Zweiten Weltkrieg auch taten. So muss man sich dem Grauen nicht stellen und auch nicht der eigenen Verantwortung. Schuld waren immer nur „die da oben“.
Auch und gerade deshalb wurde der Simplicissimus zu einem sehr deutschen Buch. Und ist es geblieben bis heute. Und der Fühmann-Entwurf wurde nicht abgedreht. Auch nicht 1972, als die DEFA das Projekt wieder aufgriff. Bis zu seinem Tod arbeitete Fühmann an dem Stoff. Und man ahnt nur, wie wuchtig so ein Film gewirkt hätte, wäre er in der DDR tatsächlich in die Kinos gekommen. Und welche Diskussionen er ausgelöst hätte. Diskussionen, die auch am Selbstverständnis der älteren Generation genagt hätten.
Und natürlich an den Mythen des Nazi-Reiches, die ja bis heute virulent sind. Es gibt keine mythenfreien Gesellschaften. Doch die von der Propaganda zurechtgebogenen Mythen unterscheiden sich in vielen Dimensionen von den Urmythen, die jedes Volk mit sich herumträgt.
Und das war immer Fühmanns Stärke: Die Vieldeutigkeit der Mythen zu verstehen und die Zwiespältigkeit aller ihrer Helden, die eben nicht die so sauber in Gute und Böse geteilten Helden der heutigen Platt-Mythen sind, sondern verzwickte Helden. Lodernd in ihrer Naivität (wie eben Siegfried) und gleichzeitig blind für die Folgen des eigenen Handelns. Was sich auch im Nibelungenlied nicht nur auf Siegfried beschränkt.
Heldenhaft an der Spitze der Geschichte
Aber auch für eine Verfilmung von „Der Nibelunge Not“ gilt wohl dasselbe: Sie wäre in DDR-Kinos nicht von Assoziationen zur Gegenwart frei gewesen. Und so mancher Kinobesucher hätte sich gefragt, wen Fühmann mit diesem Siegfried gemeint haben könnte. Und wen mit Gunter, Hagen und Etzel?
Denn eines wäre den Kinobesuchern jedenfalls klar geworden: Auch die DDR war kein Land, in dem die Akteure frei von den Zwängen und Verhängnissen der Geschichte handelten. So abgeklärt und „wissenschaftlich“ sie sich gaben. Auch hier wirkten uralte Archetypen in neuer (oder grauer) Verkleidung.
Und auf einmal fragt man sich dann natürlich auch: Ist das heute anders? Oder ist die DDR nur eine weitere Schicht im deutschen Mythos mit Helden und Narren und uralten Rollen? Und wieviele Narren der Gegenwart spielen uralte Archetypen nach, nichtsahnend, völlig überzeugt, an der Spitze der Geschichte zu spazieren, obwohl sie in rostigen alten Rüstungen stecken?
Denn auch das bleibt als Gefühl nach dem Lesen dieses Buches: Dass Fühmanns Beschäftigung mit den alten Mythen unvollendet geblieben ist. Zwangsläufig. Aber ihre Brisanz hat sie nicht verloren. Denn Menschen neigen nun einmal dazu, die alten Rollen zu wiederholen, völlig überzeugt davon, selber ganz bestimmt kein Siegfried oder Ödipus zu sein.
Paul Alfred Kleinert (Hrsg.): „Filmwelten Franz Fühmanns“, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2022, 18 Euro.
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