Gibt es überhaupt noch Poesiealben? Oder sind sie mit Aufkommen des Internets ausgestorben? Wie so vieles aus dem Zeitalter des Papiers, das eben nicht nur geduldig ist, sondern auch haltbar. Künftigen Generationen wird vieles fehlen, auch die Überraschung im Nachlass der Großeltern. Und was so simpel scheint wie Großmutters Poesiealbum, wird, wenn man es auf einmal aufschlägt, eine Tür in die Vergangenheit. Und zu einem weltberühmten Mädchen.

Die Überraschung verbarg sich im Poesiealbum von Eva Goldberg, die 1929 in Görlitz geboren wurde, im heute polnischen Teil – Zgorzelec. Weshalb dieses Buch parallel auch auf Polnisch erscheint. Ein in mehrfacher Hinsicht grenzüberschreitendes Buch.

Denn natürlich ist Evas Geschichte eine Fluchtgeschichte. Sie war gerade einmal neun Jahre alt, als ihr Vater in der Pogromnacht 1938 von den Nationalsozialisten verhaftet und wochenlang grundlos ins Gefängnis gesperrt wurde, wo er schwer an einer Lungenentzündung erkrankte.

Flucht im letzten Moment

Es war Evas Mutter Helene, die in dieser Zeit alle Hebel in Bewegung setzte und die Flucht der Familie organisierte – von Görlitz erst nach Berlin, von dort nach Amsterdam und dann über den Kanal nach London und von dort mit dem Schiff in die USA. So überlebten sie – gerade so den Nazis entkommen. Eva starb 1997. Doch ihre Reise bleibt.

Eine Reise, die auch schon vor der Pogromnacht der Nazis absehbar war. Schon vorher hatten die Goldbergs versucht, irgendwie aus dem Land zu kommen, das jüdischen Menschen jede Lebensgrundlage entzog, ihnen ihr Hab und Gut und ihre Wohnung nahm und sie dann auch noch zu Millionen ermordete.

Der erste Eintrag in Evas Poesiealbum stammt von ihrem Vater Max aus dem April 1938. Und Lauren Leiderman erkannte schon bald, als sie das Büchlein in die Hände bekam, was für eine Geschichte es erzählte. Und welche Geschichten zu erzählen wären.

Denn jeder einzelne Eintrag trägt ja den Namen eines Menschen, dessen Schicksal in alten Registern und Adressbüchern zu erkunden ist. Die Arbeit hat sich Lauren Leiderman gemacht.

Und was so entsteht, sind dann eben nicht nur die reproduzierten Seiten des Poesiealbums, da und dort sogar mit den Schwarz-Weiß-Fotografien der Menschen, die sich hier eingetragen haben, sondern auch die Erzählung jener kleinen Beziehungswelt, in der Eva Goldberg lebte.

Angefangen mit den letzten Monaten in Görlitz, als Eva nicht nur ihre Familie etwas in ihr Poesiealbum schreiben ließ, sondern auch ihre Freundinnen, die Lieblingslehrer und die Nachbarn.

Und schon die Einträge von Helene und Elfie Löffler erzählen eine Geschichte, die man so vielleicht nicht erwartet hätte. Sie waren die Nachbarn der Goldbergs in der Courbièrestraßé 10, der heutigen Kosciuszki 10, wo heute auch drei Stolpersteine an die Goldbergs erinnern.

In der Pogromnacht griffen die Löfflers ein, als die Wohnung der Goldbergs verwüstet werden sollte. Und Elfie taucht im Buch gleich noch einmal auf, denn als sie von Leidermans Recherche erfuhr, meldete sich die hochbetagte Dame bei der Autorin.

Sie hatte nicht gewusst, was aus ihrer Kindheitsfreundin nach der Flucht geworden war und konnte nun Puzzle-Stücke beitragen, mit denen Leiderman die Zeit bis 1938 detailreicher erzählen konnte.

Die Stationen einer Flucht

Das Poesiealbum selbst erzählt dann ganz beiläufig die Flucht der Goldbergs nach – erst nach Berlin, wahrscheinlich zu Else Hauff und Tante Sofie Ehrlich in Wilmersdorf, denn beide trugen sich im Januar 1939 in Evas Poesiealbum ein, bevor die Goldbergs nach Amsterdam weiterreisten – zu Tante Henni, einer Schwester von Evas Mutter.

Dorthin waren sie schon in den Jahren davor öfter gefahren. Und Eva hatte dort Freundinnen, die sie nun wiedertraf und mit denen sie nun ihre letzten Tage auf dem europäischen Festland verbrachte. Und – das war ja die kleine Sensation – eine dieser Freundinnen war Anne Frank, die sich unterm 29. Januar 1939 in Evas Poesiealbum eintrug. Sie waren gleichaltrig.

Die nächsten Einträge stammen schon vom Oktober 1939 aus Brighton und London. Brighton hört sich wie Urlaub an. Aber hierhin war zumindest Eva kurzzeitig deportiert, nachdem die britische Regierung kurz nach der Kriegserklärung an Deutschland die Evakuierungspläne für Kinder, Lehrkräfte und Betreuungspersonen in Kraft setzte.

Sodass es vor allem Mädchen sind, mit denen Eva gemeinsam aus dem bedrohten London evakuiert worden war, die sich nun in ihr Album eintrugen, bevor sie wieder nach London zurückkehren konnte und die Familie im Oktober 1939 mit der S.S. Washington in die USA übersetzen konnte, wo sich dann Evas ganzes restliches Leben abspielte, das Lauren Leiderman natürlich auch kurz skizziert.

Ein kleines Stück Görlitzer Geschichte

Sie und ihre Eltern haben überlebt. Einige ihrer Kindheitsfreundinnen und -freunde hat es in alle Welt verschlagen – nach Brasilien etwa, Norwegen, aber vor allem nach Israel. So wird das Poesiealbum zu einer kleinen Lebensgeschichte, berührend auch, weil es Lauren Leiderman gelungen ist, auch die Schicksale einiger der Menschen nachzuzeichnen, denen Eva Goldberg auf dieser Reise, die ja eine Flucht war, begegnete.

Und natürlich lesen sich die Gedichtzeilen ganz anders mit unserem heutigen Wissen. Auch wenn man spürt, wie bewusst es den kleinen und großen Menschen war, die sich im Album eintrugen, dass der Eintrag immer auch schon ein Abschied war und dass völlig unabsehbar war, ob die Reise der Goldbergs gut enden und sie es noch im letzten Moment schaffen würden, sich dem Zugriff der Nazis zu entziehen.

Und für die Görlitzer beidseits der Neiße ist es ein Stück wiedergefundene eigene Geschichte. Sie können auf Evas Spuren unterwegs sein, das Grab von Evas früh verstorbenem Bruder Rudolf besuchen und das Kaufhaus Totschek in der Görlitzer Steinstraße bewundern, wo Evas Vater Max als Einkaufsleiter tätig war.

Das Buch ist wie ein kleiner Appell an das Gewissen: Nie wieder die Bitte um den Eintrag in ein Poesiealbum abzulehnen, egal, ob einem ein gescheiter Vers einfällt oder nicht. Das Wichtigste ist, dass man es tun, mit Namen und Datum und allen guten Wünschen für die Besitzer/-innen des Buches.

Vielleicht kommt das ja wieder, wenn alle gemerkt haben, wie vergesslich, unübersichtlich und oberflächlich das Internet tatsächlich ist. Und wie viel Erinnerungen in so einem Album stecken, wenn man später wieder drin blättert – auch dann, wenn man nicht um die halbe Welt fliehen musste, um gnadenlosen Häschern zu entkommen.

Lauren Leiderman Das Poesiealbum von Eva Goldberg Hentrich & Hentrich, Leipzig 2022, 19,90 Euro.

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