Drehbücher werden recht selten veröffentlicht. Meist nur, wenn sie auch gleich noch von berühmten Regisseuren stammen wie von Ingmar Bergman, Jean Renoir oder Woody Allen. Doch in der Regel sind Drehbücher nur Arbeitsgrundlagen und werden von vielen Regisseuren auch so behandelt. Es sei denn, der Drehbuchautor ist selbst ein expressiver Geschichtenerzähler. Das prägt dann auch die Verfilmungen.
So wie bei Thomas Kirchner, der die Drehbücher für die im ZDF seit 2006 ausgestrahlten Spreewaldkrimis schrieb, in denen nicht nur der Schauplatz etwas Besonderes ist. Eigentlich etwas mehrfach Besonderes, denn der Spreewald ist bei Kirchner nicht nur Kulisse und romantische Zutat oder verpflichtender Drehort wie in vielen Abendkrimiserien aus regionalen Funkhäusern. Es ist auch ein prägnantes Stück Osten, der hier nicht nur als exotische Zutat auftaucht, sondern als Erzählstoff.
Die Heldinnen und Helden, die Kirchner entwickelt hat, sind fast alle ziemlich ramponierte Typen aus eben diesem ramponierten Osten, von dem ja 2006 wirklich noch niemand wusste, ob der tatsächlich mal wieder auf die Beine kommen würde.
Immer wieder werden die 25 Prozent Arbeitslosigkeit in der Spreewaldregion erwähnt und ihre extreme Abhängigkeit vom Tourismus, der gleichzeitig auch die Investoren anlockt, die wissen, dass man mit Hotelanlagen an idyllischen Seeufern jede Menge Kohle machen kann.
Pendelnde Leichen
Es sind die tatsächlichen Konflikte unserer Zeit, die Kirchner gestaltet. Durchaus mit einer kauzigen und bärbeißigen Beobachterfigur wie seinem Kriminalkommissar Krüger, der sich nur deshalb aus Dortmund in diese ferne Ecke im Osten hat versetzen lassen, weil er sich von seiner großen Liebe nicht lösen konnte – und auch mehrere Verfilmungen lang nicht wirklich lösen kann – der Pathologin Marlene Seefeldt, die hier ihrerseits erlebt, wie das wirkt, was im Osten ab 2000 an Einspar- und Zentralisierungsmaßnahmen griff.
Gerichtsmedizinische Institute wurden geschlossen und zusammengelegt. Auf einmal mussten nicht nur Spezialistinnen wie Seefeldt jeden Tag pendeln in die nächste größere Stadt, sondern auch die Leichen, die zur Obduktion vorgesehen waren. Und sind.
Das ist ja alles noch nicht beendet. Kirchners Drehbücher zu den ersten vier Titeln der Spreewaldkrimis lesen sich wie begleitende Erzählungen zum Abbau Ost. Wobei etliche der Heldinnen und Helden schon 15 Jahre früher „abgebaut“ wurden, ihre qualifizierte Arbeit verloren und sich seitdem von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob hangelten.
Manche werden dabei kriminell, andere nur abweisend, zynisch und verbittert. Oder richtig derb und aggressiv, wie die Bauern in einigen dieser Filme, die sich durch die Regeln zum Biosphärenreservat Spreewald in ihrer Existenz bedroht fühlen.
Während gleichzeitig selbst die neu geschaffenen Existenzen den Bach runtergehen, weil mal die Parteilinie mit der eigenen familiären Abhängigkeit kollidiert, mal der Streit um Grundstücke eskaliert und diejenigen, die ihre Lebensweise zu bewahren versuchen, mit denen aneinandergeraten, die alles zu Geld machen wollen.
Der Osten im Kleinformat
Es ist wie der Osten im Kleinen, komprimiert auf einige wenige tragende Gestalten, die in schwerste Mordfälle verwickelt werden. Manche davon Jahrzehnte zurückliegend, sodass auch die nach wie vor nicht abgegoltenen Konflikte aus jener Zeit nachwirken, in der Partei und Staatssicherheit bis ins Leben der Jugendlichen hinein agierten und Misstrauen und Verdächtigungen gesät wurden, die bis in die Gegenwart wirken. Wenn sie nicht gar die Seelen und Körper der Betroffenen zerstört haben.
Nur lässt sich Krüger davon nicht beirren. Er muss sich auch nicht gemeint fühlen, wenn wütende Spreewaldbewohner in Polizei und Justiz noch alte Seilschaften vermuten. Er geht seiner Nase nach, agiert intuitiv und geht meist davon aus, dass Menschen überall ganz ähnlich ticken und dass ihre Motive zu töten meist ziemlich banal sind.
Und auch wenn die alten und neueren Konflikte die Filmhandlung immer wieder brodeln lassen, stellt sich fast jedes Mal heraus, dass es vornehmlich so einfache Dinge sind wie Wut, Rache, Neid, gekränkte Liebe, gekränkte Eitelkeit usw., die eigentlich friedliebende Menschen zu Tätern werden lassen.
Alles sehr verdichtet, weil Kirchner nicht nur auf das Sorbische als schönes Lokalkolorit zurückgreift, sondern auch immer wieder den Konflikt thematisiert, der entsteht, wenn eine kleine Nation wie die Sorben einerseits um die Bewahrung ihrer Sprache und Kultur kämpft, diese aber gleichzeitig zur Touristen-Attraktion werden, sodass sich so manche Protagonisten wie Ausstellungsstücke in einem Vergnügungspark fühlen.
Aber gerade durch seine Rückgriffe auch auf sorbisches Erzählgut und stimmungsvolle Inszenierungen in feierlichen Trachten bekommen Kirchners Drehbücher Kolorit, verstärkt durch eindrucksvolle jahreszeitliche Landschaftsbeschreibungen, die Kirchner natürlich ins Drehbuch geschrieben hat – als freundliche Empfehlung für die Regisseure.
Diese Landschaft spielt mit. Hier ist alles eins. Und man spürt durchaus, wie unsympathisch auch dem Drehbuchautor die rücksichtslosen Investoren sind, die in diese Landschaft nicht nur eindringen, sondern sie auch ihrer Seele berauben, wenn sie alle Ufer doch wieder nur mit riesigen Hotelanlagen zupflastern.
Vertrackte Rollenspiele
Und nicht nur Krüger und Seefeldt nimmt Kirchner von einem Spreewaldkrimi in den anderen mit. Das tut er auch mit einem Arzt wie Till Desno, der gleich im ersten Spreewaldkrimi zu den höchst Verdächtigen gehört, ganz ähnlich wie später der Staatsanwalt Matthias Panasch.
Und die Fälle werden meistens noch dadurch verflixt kompliziert, weil nicht nur Krüger von seiner alten Liebe nicht wirklich loskommt. So manche Ehe geht in den vier Krimis zu Bruch, die in diesem ersten Band mit Drehbüchern von Thomas Kirchner versammelt sind.
Und es sind in der Regel die Frauen, die von ihren Angetrauten mehr Ehrlichkeit und weniger Verlogenheit verlangen. Die aber auch – wie im dritten Fall „Die Tränen der Fische“ – zeigen, dass sie die Männer, die sie lieben, durchaus anspornen können, sich zusammenzureißen und endlich die Kurve zu kriegen.
Denn viele Männer spielen natürlich oft nur eine Rolle, nicht alle so extrem wie der „Schlangenkönig“ im vierten abgedruckten Drehbuch-Krimi. Aber sowohl Panasch wie Desno als auch diverse Hotelbesitzer, Kleinunternehmer, Fährmänner und Outlaws wie Daniel Bartko in „Die Stunde der Nutria / Der Tote im Spreewald“ spielen Rollen, manche ganz bewusst, etliche auch mehr oder weniger gezwungen.
Denn gerade in der Bartko-Geschichte gestaltet Kirchner ja das eigentliche Grundthema ostdeutscher Zerrissenheit: den unbedingten Willen, irgendwie den Kopf über Wasser zu halten und den Mitmenschen vorzuspielen, dass man in der gewählten Freiheit wahnsinnig erfolgreich ist, während eigentlich jeder Versuch, wirklich Tritt zu fassen, gescheitert ist.
„Die Stunde der Nutria“ wurde 2009 erstmals ausgestrahlt. Es kann also niemand sagen, man hätte all das nicht gewusst, was sich dann in den Folgejahren im Osten so als Ressentiments und allgegenwärtige Gereiztheit entladen hat. Auch in Konflikten, die die Ostdeutschen ja oft direkt untereinander ausgetragen haben – so wie die Fährmänner aus der Genossenschaft, die Bartko schurigeln, wo sie nur können.
Es sind eben nicht die Nachrichtensendungen im deutschen Fernsehen, die erklären, warum der Unmut im Osten so brodelt und dieses Gefühl, nur „Bürger zweiter Klasse“ zu sein, dermaßen präsent ist.
Denn das hat eben auch mit Ungewissheiten zu tun, die nicht enden, Rentenbescheiden, die einem ins Gesicht sagen, dass man sich trotzdem umsonst abgestrampelt hat, mit Investoren, die für einen Appel und ein Ei aufkaufen, was vom alten Besitz noch übrig war, und der Aussicht, dass man es im Leben nicht mehr schaffen wird, sicheren Grund unter die Füße zu bekommen.
Misstraut den Fassaden
Oder einmal so formuliert: Hinter all der Aggression steckt auch jede Menge Unsicherheit und Angst. Misstraut der schönen Fassade, könnte man sagen.
Und da Krüger nicht mal schläft, wenn er die blutigen Taten aufklären will, taucht man mit ihm immer wieder direkt ein in diese Scheinwelten von scheinbar erfolgreichen Kleinunternehmern, die unter ihren Schulden zusammenbrechen, Gescheiterten, die ihre Häuser an den Fließen nur notdürftig repariert haben, Bauern, die sich verzweifelt gegen die Ausweitung des Naturschutzgebietes wehren, weil sie so schon kaum über die Runden kommen …
Hoffnung und Scheitern liegen hier dicht beieinander. Und gerade die Leute, die Krüger in mehreren Fällen der Taten überführt, erweisen sich als ziemlich kaputt, von alten Vorkommnissen belastet, schuldbewusst, voller Misstrauen.
Womit diese Spreewaldlandschaft wie zu einer Bühne wird für die deutsch-deutschen Konflikte, die sich oft genug im ganz Kleinen unter Ostdeutschen selbst entladen, weil das Vergangene noch immer wie ein Sack auf ihren Schultern liegt und die Gegenwart alle Kräfte bindet, weil sie kein ruhiges Ufer verspricht.
Da gleiten dann zwar die Kähne oft ruhig und majestätisch durch die Fließe, gern in stimmungsvollen Winter- und Herbstlandschaften. Aber es sind Landschaften wie bei Caspar David Friedrich: mit Melancholie, Ahnungen und Befürchtungen aufgeladen.
Und da die Leiche meist schon in den ersten Szenen gezeigt wird, sind die Zuschauer und Leser gleich mittendrin in der Geschichte, stellvertretend für sie natürlich Krüger, der jeden Fall anpackt wie eine Aufgabe mit lauter Unbekannten. Sein Misstrauen bekommen selbst jene zu spüren, die immer mit ihm zusammenarbeiten.
Auftakt für eine ganze Drehbuch-Reihe
Kirchner hat dem Verlag Sol et Chant die ursprünglichen Drehbücher zur Verfügung gestellt, in denen auch alle Szenen, Dialoge und Regieanweisungen enthalten sind, die in der Verfilmung selbst dann unter den Tisch fielen.
Gerade dadurch aber werden sie auch wieder rund, werden quasi zu eigenständigen Erzählungen, deren Ereignisse im Kopf der Leser/-innen einen ganz eigenen Film entstehen lassen.
Man merkt dabei durchaus, dass Kirchner daraus auch richtige Kriminalromane hätte machen können – wenn ihm denn die kürzere, vom Dialog und dem Bild getragene Erzählform des Drehbuchs nicht viel nähergelegen hätte.
Und wenn die Leser dieser ersten vier Drehbücher (neun weitere sollen noch folgen) jetzt mit sehr viel Vorsicht in den Spreewald reisen, ist das nur zu verständlich. Aber gleichzeitig ermuntert Kirchner ja dazu, den Blick zu öffnen und den Touristenkitsch von der spröden Schönheit dieses Stückchens Erde zu unterscheiden.
Und die Menschen dort vor allem nicht als Statisten schöner Marketing-Erzählungen zu sehen, in denen die Welt immer glücklich und happy ist. Es gibt keine heilen Paradiese, gerade im Osten nicht.
Wobei die Spreewaldkrimis mit ihrem starken Lokalkolorit und der Mächtigkeit der Bilder durchaus als Solitär dastehen unter den Krimiserien, die im Osten im Lauf der Zeit platziert wurden und meist über die schöne Kulissenmalerei nicht hinauskamen.
Thomas Kirchner Spreewaldkrimi Sol et Chant, Letschin 2022, 28 Euro.
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