Am heutigen 1. Juni eröffnet in Aschersleben eine besondere Ausstellung: „Neo Rauch. Der Bestand. Druckgrafik seit 1988“. Aschersleben? Da kann man sich doch einfach mit dem 9-Euro-Ticket in den Zug setzen und hinfahren. Man wird nicht nur die Grafikstiftung Neo Rauch entdecken, sondern auch die Stadt, in der Neo Rauch seine Kindheit verbrachte. Und sich natürlich auch fragen: Sieht man das eigentlich in seinen Bildern?
Im Gespräch mit dem Autor Wolfram Büscher spricht Neo Rauch genau darüber. Im Januar 2022 haben sich beide aufgemacht zum Spaziergang durch Neo Rauchs Kindheitswelten in Aschersleben rund um das ehemalige Kaliwerk.
Eine Landschaft, die sich auch nach 50 Jahren kaum verändert zu haben scheint und noch immer ein Raum zu sein scheint, in dem sich die Stadt in die undefinierte Welt des Außerhalb verliert.
Wahrscheinlich braucht es wirklich einen Autor, der aus der Sicht des Schreibenden weiß, wie feinfühlig man umgehen muss mit diesen Randwelten, in denen unsere Kindheiten und Träume sich verlieren.
Und in denen man tatsächlich drei still dastehenden Männern vor einer alten Werkhalle begegnen kann, wie völlig aus der Zeit gefallen, ungreifbar, was sie dort wirklich machen. Vielleicht sind es männliche Spielwelten, in denen sie sich aufhalten. Ganz zwecklos, ohne Ziel. Und auf einmal ist man mittendrin in Neo Rauchs Bilderwelten.
Wann findet ein Künstler seine eigene (Bild-)Sprache?
Auch in diesem opulenten Katalog kann man sie finden, der zur Ausstellung erscheint und gleichzeitig ein Geburtstagsgeschenk zum zehnjährigen Bestehen der Grafikstiftung Neo Rauch ist, gegründet in Rauchs Kindheitsstadt. Ein Konvolut von 64 Druckgrafiken war der Auftakt für die Sammlung, die den Leipziger Maler auch von einer Seite zeigt, die man von ihm eher nicht so kennt.
Doch das Handwerk des Druckens hat er bei seinem Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst ebenso gelernt wie die Malerei. Und er hat sich darin auch früh schon ausprobiert. Auch in jener Phase, die er lange Zeit nicht mehr so recht seinem Werk zählen wollte.
Denn wie kaum ein anderer Künstler war Neo Rauch sich bewusst, dass er viele Jahre brauchte, um sich selbst und seine Sprache als Künstler zu finden. Dabei setzte er in der Regel das Jahr 1993 als Beginn seines eigentlichen Werkes an, das mittlerweile eine weltweite Kunstgemeinde kennt.
Man erkennt ein Neo-Rauch-Bild auf den ersten Blick, braucht gar nicht lange, um einzutauchen in diese halb traumhaften Welten, in denen es geradezu wimmelt von Figuren, die völlig fixiert sind auf das, was sie gerade tun. Und zumeist ist es Seltsames, was sie verrichten. Als hätte Neo Rauch seine Träume in die Realität herübergezogen.
Aber eine Realität, die immer so wirkt, als changiere sie zwischen den Zeitaltern. Und dass er die Zeit der deutschen Spätromantik besonders mag, hat er ja schon mehrfach geäußert. Was so fremd ja nicht wirklich ist. Es geht vielen Menschen so, dass sie sich eigentlich seelisch mit ganz anderen Zeitaltern zutiefst verbunden fühlen, mit dem Geist dieser Zeit, ihrer Literatur, Musik und Mode. Und auch mit ihren Ängsten.
Der Mut zum Bild
Das ist ja in Neo Rauchs Bilderwelten offenkundig, dass darin auch die Sehnsucht nach einer heileren Welt steckt, einer, die noch nicht so vom Machbarkeitswahn einer entfesselten Industriegesellschaft zerwühlt und geschunden ist. Einer freilich auch, in der dieses Denken gerade Fuß fasste.
Ein Denken, das selbst seine Albträume beinhaltete und mit seiner geradezu phantasielosen Vorstellung vom Machbaren die Erde in einen traumlosen Ort verwandelte. Sehnsucht und Verlust verschmelzen in den Bildern Neo Rauchs.
Und so klar wie kaum ein andere Künstler spürte er, dass er um 1993 herum tatsächlich zu seiner eigenen Sprache fand. Einer Sprache, die auch den Mut zum Bildhaften (wieder) fand, nachdem auch die Leipziger Malschule eine Zeit lang in der Krise schien, weil ab 1990 unbarmherzig der westliche Kunstmarkt die Regie übernahm und zahlreiche gestandene Künstler aus Leipzig auf einmal ihre Bilder nicht mehr verkaufen konnten.
Der Erfolg der Neuen Leipziger Schule ist aufs Engste mit Neo Rauch, den Ausstellungen in der Galerie Eigen+Art in der Zentralstraße und der beharrlichen Arbeit von Judy Lybke verbunden, der auch fest daran glaubte, dass Neo Rauch einmal ein zugkräftiger Name werden würde.
Was aber auch direkt damit zusammenhing, dass der Kunstmarkt – gegen alle Positionen der großen Kunstkritik – die bildhafte Malerei wieder goutierte.
Der verstörende Osten
Wobei es ja bei Neo Rauch nicht nur ums Bildhafte geht. Denn für Verstörungen sorgt er ja bis heute – gerade beim hohen Feuilleton, das seine Verachtung für alles, was aus dem Osten kommt, auch gern hinter Mäkelei und Zurechtweisung versteckt. Und das bis heute kein Sensorium dafür entwickelt hat, warum die wahrnehmbaren Kunst- und Literaturpositionen aus dem Osten so derb und misstrauisch sind.
Als wären die – ja zwischen den Zeilen noch immer so verachteten – Ostdeutschen nicht dankbar genug, nicht gefällig genug und nicht opportunistisch genug, den hohen Richtern zu liefern, was sie in ihren Elfenbeintürmen erwarten.
Als hätten sie keine Manieren, Stallgeruch sowieso nicht.
Und so ist es durchaus ein verunsicherndes Abenteuer, auch die Grafiken anzuschauen, die Neo Rauch seit 1988 geschaffen hat, ab 1993 immer deutlicher der Bildsprache nahe kommend, die man auch in seinen Gemälden findet. Eine Bildsprache, die zwischen Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit changiert, in der es seltsame (Alb-)Traumwesen gibt, Männer in der Kleidung des Biedermeiers, in Pelzen, in Fliegermontur, mit Eselsohren.
Und das immer in Welten, die direkt an die zerrütteten Industrielandschaften und Stadtrandlagen ostdeutscher Städte erinnern. Das muss nicht Aschersleben sein. Das findet man auch in Leipzig, einer Stadt, in der man nur zu leicht vergisst, dass das Gefühl der zur Stille geronnenen Vergeblichkeit schon kurz hinter der Stadtgrenze beginnt.
Verödete Fabriksiedlungen, still in der Landschaft stehende Kalihalden, Orte, in denen Menschen, die dort auftauchen, fremd wirken, wie verloren, als wäre alles Tun hier nur noch vergeblich, egal, welche seltsame Beschäftigung sie sich aussuchen.
Die Abgründe des 21. Jahrhunderts
Natürlich sind das Interpretationen. Dazu laden Rauchs Bilder ja geradezu ein. Auch seine Grafiken, die er seit zehn Jahren sogar sehr gezielt herstellt, da er der Grafikstiftung zugesagt hat, von jeder Druckgrafik immer auch ein Exemplar nach Aschersleben zu schicken, damit die Grafiksammlung vollständig bleibt. Sodass der Katalog jetzt tatsächlich eine Komplettübersicht von Rauchs druckgrafischem Werk bietet.
Eine Übersicht über sein malerisches Werk bis 2012 findet man zum Beispiel in dem von Hans Werner Holzwarth bei Taschen herausgegebenen Buch „Neo Rauch“. Damals sprachen wir hier von den „Abgründen des 21. Jahrhunderts“. Und es erstaunt schon, dass auch und gerade das abgehobene Feuilleton diese Abgründe zumeist lieber negiert und den Kollegen aus der Soziologie und der Psychologie überlässt (wenn es die noch gibt).
Dabei ist gerade die Neue Leipziger Schule beispielhaft dafür, was entstehen kann, wenn Künstler/-innen doch wieder auf das horchen, was in ihnen selbst klingt und anklingt – und nicht „völlig losgelöst“ einfach nur das produzieren, was auf dem internationalen Kunstmarkt vielleicht gefragt sein könnte.
Dann tauchen nämlich die Sorgen und Ängste der Zeit auf, werden zum Bild, werfen Fragen auf und sind schwer zu verorten. Denn dann geht es immer darum, wie sich der Künstler selbst in der Welt fühlt. Und dann hört diese Welt schlichtweg auf, klar und eindeutig, lieb und nett zu sein.
Zeitfragmente
Dann sieht man mit ihnen die eigenen, oft nur diffusen, manchmal auch sehr verunsichernden Gefühle, die einen mit diesem Leben und dieser Welt verbinden. Dann geht es um die eigene Verortung – auch in der Zeit. Denn es wäre eine Lüge, wenn jemand behaupten würde, er lebte im Jetzt.
Da kann man sich zwar aufhalten. Gottfried Böhme hat es ja in seinem Essay „Die zweite Dimension der Zeit“ versucht zu erfassen, wie unser Erleben des Jetzt erst aus der historischen Dimension unseres Welterfassens entsteht. Und dazu gehört auch die komplette Dimension unseres Lebens – samt Kindheit und Jugend und den gleich gebliebenen / völlig veränderten Orten unserer Kindheit.
Und es gehören auch all die Zeitfragmente dazu, die wir uns – über Bilder, Literatur, Musik – angeeignet haben, in denen Vertrautes bewahrt ist und vieles von dem, was uns in der Welt verwurzelt sein lässt, wie es Neo Rauch nennt. Davon kommen wir nicht los, auch wenn viele so tun, als wären sie Menschen ohne Vergangenheit und ohne Schatten.
Womit wir bei einem Autor wären, der in Rauchs Werk scheinbar permanent gegenwärtig ist, den er aber bis jetzt zumindest noch nie bei Namen genannt hat: Adelbert von Chamisso mit seinem Kunstmärchen „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“, die im fernen Jahr 1814 schon genau die Fremdheit zum Thema hatte, die man in Neo Rauchs Bildern wiederfindet.
Und all jenen, die in Ostdeutschland groß wurden, dürfte selbst dieser Satz von Chamisso recht vertraut vorkommen: „Die Weltereignisse im Jahre 1813, an denen ich nicht tätigen Anteil nehmen durfte – ich hatte ja kein Vaterland mehr oder noch kein Vaterland –, zerrissen mich wiederholt vielfältig, ohne mich von meiner Bahn abzulenken.“
Ent-Wurzelt
So ging es ihnen nämlich auch 1990. Und während die Unaufmerksamen dadurch zu enthemmten Patrioten und Nationalisten wurden, empfanden die Sensibleren eine allgegenwärtige Trauer. Verbunden mit einer Verstörung, die man als Störung durchaus wahrnehmen sollte, weil sie so vieles erklärt, was scheinbar unerklärlich ist.
Und natürlich hat es mit ähnlichen Phänomenen der Ent-Wurzelung zu tun, der Entleerung zuvor als lebendig erlebter Landschaften, mit Verlusten und dem Stutzen über all das, was seltsame Menschen in diesen verlassenen Landschaften nun taten.
Obskure Dinge, wie man auch in Neo Rauchs Grafiken sehen kann, die in diesem Katalog in zeitlicher Abfolge abgedruckt sind, ergänzt nicht nur um das sehr erhellende Winter-Gespräch zwischen Wolfgang Büscher und Neo Rauch, ein Werkstattgespräch von Doris Apell-Kölmel mit Neo Rauch und einen Essay von Brett Littman: „Neo Rauch: Archivierte Innenwelten“.
Grafikstiftung Neo Rauch Neo Rauch. Der Bestand. E. A. Seemann Verlag, Leipzig 2022, 42 Euro.
Ausstellungseröffnung in Aschersleben
Am Mittwoch, 1. Juni, eröffnet in der Grafikstiftung Neo Rauch in Aschersleben die Ausstellung „Neo Rauch. Der Bestand. Druckgrafik seit 1988“, die anlässlich des 10. Jubiläums der Stiftung erstmals das gesamte druckgrafische Œuvre des Leipziger Künstlers zugänglich macht.
Ab 13 Uhr öffnet die Ausstellung in der Wilhelmstr. 21–23 für die interessierte Öffentlichkeit, um 16 Uhr findet die offizielle Eröffnung statt, auf der Wolfgang Büscher spricht.
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