So schnell wird etwas Geschichte, rรผckt in immer weitere Ferne. Man lebt in den hรผbschen Kulissen einer Stadt und kaum einer weiรŸ noch, wie das arme Leipzig im fernen Jahr 1990 einmal aussah, als sich am Himmelfahrtstag ein Mannheimer Gemeinderat auf den Weg machte, um sich in Leipzig als Baudezernent zu bewerben. Als er 2001 sein Skizzenbuch verรถffentlichte, war Leipzig gerettet. Und er hatte eine ganz groรŸe Aktie daran.

Denn natรผrlich wรคhlte ihn Leipzigs Ratsversammlung zum Baudezernenten. Denn die Empfehlungen des ebenso gerade gewรคhlten OBM Hinrich Lehmann-Grube hatten Gewicht. Und er hatte Niels Gormsen den Leipziger Stadtverordneten dringend ans Herz gelegt. Nicht nur wegen seiner langen erfolgreichen Zeit als Baubรผrgermeister in Mannheim.

Sondern auch, weil er in Mannheim gezeigt hatte, dass man mit historischen Stadtstrukturen sehr, sehr sensibel umgehen kann und muss. Denn sie sind die Seele der Stadt. Sie sorgen dafรผr, dass sich Menschen in der Stadt wohlfรผhlen.

Denn wรคhrend die Moderne bis heute immer noch glaubt, man kรถnne und mรผsse Stรคdte am ReiรŸbrett entwerfen und Hรคuser wie Wohnmaschinen bauen, erweist sich gerade das historisch Gewachsene, scheinbar so vรถllig Planlose, als genau das, was Stรคdte unverwechselbar macht. Und zu Attraktoren fรผr Menschen, die drin wohnen wollen oder sie einfach nur besuchen.

Ein struppiges, graues Entlein

Das war auch 2001 noch nicht wirklich in den Kรถpfen der meisten Leipziger. Denn Gormsens Zeit als Baudezernent bis 1995 war auch die Zeit der grรถรŸten Umbrรผche und Verluste. 1995 war noch nicht wirklich greifbar, ob all das, was er in seiner Amtszeit angestoรŸen hat, wirklich Frรผchte tragen wรผrde โ€“ hunderttausende Leipziger/-innen zogen weg, weil die Industrie in der Stadt fast vรถllig verschwunden war.

Und bevor die Grรผnderzeitviertel, um deren Bewahrung Gormsen kรคmpfte, tatsรคchlich flรคchendeckend saniert wurden, vergingen Jahre. Denn meist waren die Besitzverhรคltnisse nicht geklรคrt. Was auch fรผr viele reprรคsentative Bauten in der Innenstadt galt.

Aber mit dem geรผbten Blick des Architekten sah Gormsen schon an diesem sonnigen Himmelfahrtstag, was hier fรผr gebaute Schรคtze noch existierten, verschont von der Abrisswut westdeutscher Stรคdteplaner, die nach dem Zweiten Weltkrieg wenig Rรผcksicht nahmen auf die historisch gewachsenen Stadtkerne ihrer Stรคdte.

In der DDR war diese Abrisswut letztlich am fehlenden Geld gescheitert, auch wenn die wertvollen Baubestรคnde 1990 so heruntergewirtschaftet waren, dass man als Passant kaum noch daran glauben mochte, dass all das wieder mit handwerklicher Professionalitรคt zu neuer alter Schรถnheit erstehen wรผrde.

Aber Gormsen sah es. Sein Skizzenbuch erzรคhlt von dieser Geschichte und lรคsst den Betrachter mit Stadtsituationen begegnen, die fast vergessen sind. Was umso frappierender ist, da Gormsen jede skizzierte Situation auch mit Kenntnis der Geschichte all der abgebildeten Hรคuser erlรคutert. Sein Skizzenbuch ist wie ein Spaziergang durch die Stadt, fรผr deren Rettung er in seiner Amtszeit die Grundlagen legte.

Stadt des Wandels

Es ist das persรถnliche Pendant zu den groรŸen Fotobรคnden, die er gemeinsam mit dem lรคngst genauso legendรคren Fotografen Armin Kรผhne herausgegeben hat. Zuletzt 2013 der Band โ€žLeipzig โ€“ Stadt des Wandelsโ€œ. Armin Kรผhne steuerte die in ihrer Art einzigartigen Fotografien des heruntergewirtschafteten Leipziger Baubestandes von vor 1990 bei, natรผrlich alles in Schwarz/WeiรŸ.

Und dem stellte Kรผhne dann die Farbaufnahmen derselben Gebรคude nach ihrer Restaurierung gegenรผber. Schon der Vergleich zeigte, was fรผr eine rasante Verรคnderung Leipzig in den Nach-โ€žWendeโ€œ-Jahren erlebte. Und Niels Gormsen steuerte Texte bei, in denen er zeigte, wie viel ein wirklich neugieriger Architekt รผber die Bau- und Rettungsgeschichte dieser Hรคuser in Erfahrung bringen konnte.

Und das mit einem solchen Ehrgeiz auf Genauigkeit, dass auch Armin Kรผhne und der Verleger oft genug verzweifelten.

Aber gerade dadurch wurden diese Bรคnde zu Dokumenten einer Rettungsgeschichte, die einzigartig ist. Und wenn die damaligen Kรคufer vor allem deshalb staunten, weil Kรผhnes Fotos zeigten, wie sehr sich das ruppige, struppige Entlein wieder in einen stolzen Schwan verwandelt hatte, so werden die Fotos mit den Texten zusammen fรผr lange Zeit die grรผndlichste Dokumentation dieser Zeit sein.

Der Blick der Dichter in die Zeit

Aber es ging ja nicht nur dem neugierigen Architekten aus Mannheim so, der sich spรคter eine schรถne Dachwohnung in einem der sanierten Hรคuser am Dittrichring besorgte. Es ging auch den Dichtern so.

Der Leipziger Lyriker Ralph Grรผneberger hat das ja gerade erst mit seinen Prosa-Bรคnden โ€žLisa, siebzehn, alleinerzogenโ€œ und โ€žLeipziger Geschichtenโ€œ thematisiert, wie sehr auch das Lebensgefรผhl der Leipziger sich seit 1990 verรคndert hat, die Atmosphรคre und das Tempo in der Stadt, das Bรผndel der tรคglichen Sorgen und Befรผrchtungen ebenso.

Das hat er ja nicht nur in Geschichten festgehalten. Das steckt auch in den Gedichten, die er im Lauf der Zeit verรถffentlichte.

Was lag da nรคher, als solche Gedichte in die direkte Nachbarschaft zu Gormsens Skizzen zu bringen? Und auch gleich noch die Gedichte zweier westdeutscher Lyriker dazuzutun, die diese Verwandlung der Stadt an der PleiรŸe auf ihre Weise reflektierten? Manfred Klenk ja sogar fast aus derselben Perspektive wie Niels Gormsen, denn auch er kommt aus Mannheim, auch wenn er โ€“ anders als Gormsen โ€“ seinen Lebensmittelpunkt nie in die alte Buch- und Messestadt verlegte.

Aber das Staunen empfand er genauso wie Michael Augustin aus Bremen. So erinnert sich Klenk an ein schรถnes Stelldichein im โ€žWeinstockโ€œ, jenem Restaurant am Markt, das noch gar nicht existierte, als Gormsen die Nordseite des Marktplatzes im Jahr 1994 skizzierte.

Und so hintersinnig Augustin in โ€žรœber drรผberโ€œ das Brรผckenthema aufgreift, hat Niels Gormsen 1995 die โ€žSeufzerbrรผckeโ€œ gezeichnet, die die Leipziger spรถttisch viel lieber die โ€žBeamtenlaufbahnโ€œ nennen. Und wรคhrend Ralph Grรผneberger 1987 sein Gedicht โ€žSeeluft bei Leipzigโ€œ schrieb, war noch nicht einmal daran zu denken, dass die Leipziger es schaffen wรผrden, dem Tagebau Cospuden ein Ende zu setzen und bis 2000 Leipzig tatsรคchlich sein kleines Meer im Sรผden bekam.

Das Gormsen natรผrlich noch 2000 gezeichnet hat, denn dessen Anfรคnge fielen genauso in seine Amtszeit wie die Reinigung des Karl-Heine-Kanals und der Bau des Radwegs an diesem Kanal, den die Leipziger heute so benutzen, als hรคtte es ihn schon immer gegeben.

Was der Kanal freilich bis 1990 fรผr eine Kloake war, das schildert Grรผneberger in einem seiner Gedichte aus dem Leipziger Westen, wo er aufgewachsen ist.

Die Stille des Jahres 1990

Das Ergebnis: Ein stimmungsvolles Buch, das im Grunde gleich zwei Zeitreisen auf einmal anbietet โ€“ eine in den Skizzen des 2018 gestorbenen ersten Leipziger Baudezernenten nach der โ€žWendeโ€œ und eine in den Gedichten der drei Dichter, in denen auch die Montagsdemonstrationen ihren Widerhall finden.

Denn ohne diese Selbstermutigungen der Leipziger/-innen hรคtte es die Auferstehung der ruinรถsen Stadt nicht gegeben, dieses Faszinosum, das zeigt, was Menschen schaffen kรถnnen, wenn sie die Freiheit zum Handeln zurรผckerlangen.

Und natรผrlich ist es eine Wรผrdigung fรผr diesen Mannheimer, der sich auch im Ruhestand weiter um die Stadt Leipzig und die Wiederbelebung ihrer Schรถnheit bemรผhte. Etwa im Verein Neue Ufer, ohne den es das ambitionierte Programm zur Freilegung der alten Mรผhlgrรคben so nicht gegeben hรคtte.

Eine stille Wรผrdigung, denn auch die Skizzen entstanden fast alle in Ruhe und Stille, oft in Freisitzen, in denen Gormsen die Sonne genoss und die nahe gelegenen Gebรคude im Skizzenblock festhielt. Die Stille Leipzigs im Jahr 1990 verblรผffte ihn.

Viel ist davon nicht geblieben, auch wenn er in seiner Amtszeit die vielen parkenden Autos aus der City entfernen lieรŸ, etwa in der Kleinen Fleischergasse, wo man 1993 zwar schon Baugerรผste sah, aber noch keinen einzigen Freisitz.

Wer heute Stille sucht, geht ganz bestimmt nicht mehr in die Kleine Fleischergasse, fรคhrt vielleicht lieber hinaus an die Tagebauseen, die Gormsen ebenso faszinierten โ€“ genauso wie das schwere Bergbaugerรคt, das damals noch zu besichtigen war und dann gesprengt wurde, weil Leipzig den ersten Schritt tat, das ruรŸende und schwefelhaltige Kohlezeitalter zu verlassen. Wie es roch, erfรคhrt man dann in einigen der Gedichte. Gedichte wie aus einer vรถllig anderen Stadt.

Wer damals schon dabei war, hat eine berรผhrende Begegnung der ganz besonderen Art. Und wer zu jung war, der darf sich wundern oder auch staunen, wie wirksam ein einzelner Mann sein kann, wenn er im Baudezernat der Stadt einfach ein paar Weichen stellt, damit die Sache ab jetzt in die richtige Richtung geht.

Manfred Klenk Leipziger Skizzenbuch Verlag Waldkirch, Mannheim 2022, 25 Euro.

Empfohlen auf LZ

So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:

Ralf Julke รผber einen freien Fรถrderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar