Wann wird ein Politiker zur historischen Gestalt? Wann ist ihm der Platz in den Geschichtsbüchern sicher? Ist es mit Helmut Kohl schon so weit, der am 16. Juni 2017 starb und den seine Weggefährten nur zu gern „Kanzler der Einheit“ nennen? Der Journalist Aljosche Kertesz versucht mit diesem Buch die Einordnung. Über 100 „Freunden, Wegbegleitern und auch einstigen Gegenspielern“ hat er seine Fragen geschickt.
Wahrscheinlich hat Aljoscha Kertesz diese an noch viel mehr Leute verschickt. Denn die Lücken fallen auf. Nicht nur die von Maike Kohl und seinen Söhnen, die um Beiträge zu bitten Kertesz lieber verzichtete. Aber dass weder Wolfgang Schäuble noch Angela Merkel, weder Rudolf Scharping noch Gerhard Schröder mit Beiträgen vertreten sind, spricht Bände. Genauso auffällig fehlen Lothar de Maizière, Günther Krause und Oskar Lafontaine.
Um nur mal in der Politik zu bleiben. Gregor Gysi und Jürgen Trittin füllen nur bedingt die Lücke derer, die ganz bestimmt nicht zur Phalanx der „Kohlianer“ gehörten, wie diese sich oft selber nannten. Und trotzdem hat man in manchen Beiträgen in diesem Buch tatsächlich das Gefühl, dass das Wirken des Bundeskanzlers Helmut Kohl im Grunde alle Zutaten hatte zu einer ganz großen Polit-Serie vom Format „House of Cards“.
Denn Kertesz hat zwar zum großen Teil tatsächlich Politiker/-innen aus CDU und CSU befragt, darunter viele Jüngere, die mit und durch Helmut Kohl zur Politik und in höchste Ämter kamen. Aber sein Frageschema eröffnete den Angefragten auch die Möglichkeit, einen Blick in ganz persönliche Begegnungen mit Kohl zu öffnen.
Die dann zwar meist nicht sehr persönlich werden, weil die meisten dann doch in der Schule den Satz von Goethe gelernt haben: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“
Kanzlerbungalow und Parteispendenaffäre
Also benennen sie dann meist die schönen Momente, wo sie im Tross von Helmut Kohl standen und einen dieser „welthistorischen“ Momente erlebten – beim Kohl-Besuch in Dresden, bei der Einheitsfeier am 3. Oktober 1990 in Berlin, bei Parteitagen und Wahlkampfauftritten.
Aber einige erzählen eben doch, wie sie die Gespräche mit Kohl im „Kanzlerbungalow“ erlebten, seine Anrufe bei den Kreisvorsitzenden, seinen Umgang mit Kritikern und Widersachern. Das sind dann Stellen, an denen man Kohl dann wirklich „bei der Arbeit“ erlebt, als Taktiker, Netzwerker, Machtpolitiker.
Es gibt zwar auch immer wieder ganz parteiliches Geschimpfe über „die Medien“, die Kohl immer so ungerecht behandelt haben. Aber es kommen auch einige Journalisten zu Wort, die durchaus differenziert über „ihre Zeit mit Kohl“ berichten, von Vertrauen erzählen und von Respekt. Und auch so entsteht ein Bild von einem Politiker, der 30 Jahre lang immer im Fokus der Berichterstattung stand.
Dass es nach seiner Wahlniederlage 1998 schnell recht still um den Vollblutpolitiker aus Oggersheim wurde (ja, auch so eine journalistische Formel, die sich aber eben gerade deshalb festgesetzt hat), hat natürlich mit der Parteispendenaffäre zu tun, die 1999 aufgedeckt wurde und in der Kohl durch seine Weigerung, die Spender zu nennen, auch seinen Ruf gewaltig lädierte.
Und längst ist über diese Spendenaffäre, die eigentlich aus lauter verschiedenen Spendenaffären im Lauf der Zeit bestand, mehr bekannt, als die im Buch Vertretenen dann wagen zu formulieren.
Ein starkes Zeichen dafür, dass es lange, lange nicht so weit ist, Helmut Kohl seinen festen Platz im Kanon historischer deutscher Persönlichkeiten zuzuweisen. Selbst ein Konrad Adenauer ist da noch längst nicht aus dem Schneider, wenn man an die 2017 und 2022 thematisierten Abhörskandale denkt, mit denen er die aussichtsreichsten Herausforderer aus der SPD bespitzeln ließ.
Wille zur Macht und Strickjackenpolitik
Was also wird sichtbar, wenn einstige Wegbegleiter, Parteifreunde, ein paar Koalitionspartner und wenige politische Gegner zu Wort kommen? Zumindest das Bild eines Politikers, wie man ihn auch in der CDU selten findet.
Eines Mannes, der durchaus ein Talent hatte zur Macht. Nicht nur auf provinzieller Ebene oder in der Bundespolitik, wo er durchaus auch robust auftreten konnte, um seinen Willen durchzusetzen. Auch auf internationaler Ebene.
Die meisten im Buch Vertretenen würdigen durchaus seine Rolle in der deutschen Vereinigung und in der europäischen Einigungspolitik, die Kohl ja auch die europäische Ehrenbürgerschaft eingetragen hat. Zu Recht, stellt man fest. Denn man merkt auch, wie sehnsüchtig sich auch seine einstigen Mitstreiter aus CDU, CSU und FDP danach gesehnt haben, dass es mit einer Bundeskanzlerin Angela Merkel eine ebenso überzeugte Europäerin im Bundeskanzleramt gegeben hätte.
Da ist die durchaus immer wieder auftretende Frage interessant, ob man zu einer derartigen Motivation, an einem gemeinsamen Europa zu arbeiten, tatsächlich die Kriegserfahrung brauchte, die Helmut Kohl noch hatte. Dem auch sehr bewusst war, dass man gerade all den Nationen gegenüber, die Deutschland mit einigem Recht immer misstrauisch betrachtet haben, Vertrauen aufbauen muss.
Da bekommt man einen kleinen Einblick in Kohls „Strickjackenpolitik“, mit der er nicht nur Vertrauen aufbaute, sondern regelrecht persönliche Freundschaften etwa mit Mitterrand, Gorbatschow, George Bush. Aber auch die kleineren Länder ringsum waren ihm nie zu klein – weder die Niederlande noch Österreich, Ungarn oder Polen. Der Mauerfall 1989 erwischte ihn ja mitten in einer lange geplanten Polenreise.
Und es stimmt schon: All das hat man nach seinem Abgang schmerzlich vermisst. Als wäre auf einmal die historische Dimension aus der deutschen Politik völlig verschwunden und bei den Nachfolgern würde die ganze internationale Politik nur als Pflichtprogramm betrachtet, bei dem man zu den Konferenzen reist, fürs Foto posiert und ansonsten einfach laufen lässt, was da so läuft. „Fahren auf Sicht“ nennt man das.
Wer die eigene Geschichte nicht kennt …
Und selbst politische Gegner attestieren Kohl, dass er immer auch das Historische mitdachte. Und deshalb wohl auch im Dezember 1989 als einer der Ersten begriff, dass tatsächlich die deutsche Einheit auf der Tagesordnung stand und höchste Zeit für intensivierte „Strickjackenpolitik“ war.
Natürlich haben gerade CDU-Politiker Zweifel, ob es SPD und Grüne geschafft hätten, damals ähnliche Resultate zu erzielen. Denn anders als Kohl hatte ja sein Herausforderer Oskar Lafontaine keine Netzwerke aufgebaut, die er jetzt für die entscheidenden Gespräche nutzen konnte.
Man merkt schon, dass Politik ganz und gar nicht dröge abläuft, wie es einem nur zu oft erzählt wird. Und auch nicht so blutleer. Denn die heftigen Attacken, die auch mit Helmut Kohl in den 1980er und 1990er Jahren gefahren wurden, hatten ja auch immer die Kehrseite, dass Kohl als Persönlichkeit sichtbar war.
Er verbarg sich nicht hinter inhaltsleeren Floskeln, sondern redete manchmal auch so, wie es ihm gerade kam. Futter für die Presse einerseits, andererseits auch ein kleiner Blick in die Welt eines Politikers, für den das Reden das wichtigste Werkzeug war. So löste er Konflikte, bevor sie öffentlich wurden, band Kritiker ein, baute sich Mehrheiten.
Wenn Neoliberalismus „soziale Marktwirtschaft“ heißt
Dass seine Kanzlerschaft auch Schattenseiten hatte, wird nicht nur mit der Parteispendenaffäre thematisiert. Es klingt auch kurz bei den Verwerfungen der Deutschen Einheit an, als sich das Versprechen von den „blühenden Landschaften“ im Osten einfach nicht einstellen wollte.
Dass diese Verwerfungen aber direkt in Kohls Verständnis von Wirtschaft und Staat begründet waren, wird spätestens im Beitrag von Roland Berger klar, dem Mann, der mit seiner Beratungsagentur jahrzehntelang den größten Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik hatte.
Danach gefragt, was er an Kohl besonders schätze, sagt er tatsächlich: „Aber auch gleich, als er Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wurde, hat er einen Wiederbelebungsprozess der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland auf den Weg gebracht: mehr Freiheit, weniger Bürokratie und Staatseinfluss und eine Steuerreform mit seinem Finanzminister Gerhard Stoltenberg. Staatseinfluss gab es – trotz seines Vorgängers Helmut Schmidt, der selbst ein sozialer Marktwirtschaftler unter den Sozialdemokraten war – zu viel.“
Nur hat das, was Berger hier „soziale Marktwirtschaft“ nennt, damit eigentlich nichts zu tun. Einige Beiträge im Buch nennen es beim richtigen Namen: Neoliberalismus. Und mancher geht auch so weit, Kohls neoliberale Reformen als weitergehend zu beschreiben als die von Margaret Thatcher in England.
Da hätten vielleicht ein paar mehr ostdeutsche Stimmen im Buch gutgetan. Denn dass die Einheit für den Osten so eine Rumpeltour wurde, hat auch mit dieser neoliberalen Denkweise zu tun (die unter Gerhard Schröder übrigens munter weiterging, Stichwort: Hartz IV). Und die ganzen Spendenaffären hatten ja auch noch einen anderen Grund, als nur die Herstellung schwarzer Wahlkampfkassen für die CDU.
Sie erzählen von der zuweilen beklemmenden Nähe der großen deutschen Konzerne zur Bundesregierung. Etwas, was ja auch dazu geführt hat, dass sich die Treuhandpolitik im Zusehen radikalisierte und praktisch alles an Industrie im Osten schnellstmöglichst verkauft und abgewickelt wurde, was westdeutschen Konzernen hätte Konkurrenz machen können.
Auch der Aspekt taucht auf, sodass man durchaus ein sehr facettenreiches Bild von Helmut Kohl bekommt. Auch wenn die netten Beiträge von einstigen CDU- und CSU-Wegbegleitern deutlich überwiegen. Die Beiträge der vertretenen Journalisten entschädigen ein wenig, weil sie das Bild deutlich differenzieren.
Die sächsische Burgmentalität
Und man lernt auch noch etwas über die Misere der sächsischen CDU, die mit dem Landtags- und Bundestagsabgeordneten Arnold Vaatz prominent vertreten ist.
Doch sein Beitrag fällt völlig aus dem Rahmen, wenn er dann in Bezug auf die heutige Medienlandschaft schreibt: „Heute ist klar, dass wir ein jedem Wettbewerb entzogenes öffentlich-rechtliches Medienmonstrum haben, das von einer erdrückenden Mehrheit aus links- und grünaffinen Journalisten dominiert wird, die keinerlei Meinungsabweichung von den Grundüberzeugungen der Linken und Grünen mehr duldet und aus dem Land nach und nach ein Heim für Schwererziehbare macht.“
Ist der Mann überhaupt noch in der CDU oder hat er inzwischen gewechselt? Sein Medienkonsum muss zumindest ein sehr seltsamer sein, wenn er die DDR tatsächlich „in Gestalt der neuen Bundesrepublik Deutschland“ auferstehen sieht. Das sind ganz rechte Argumentationsmuster, die aber auch ahnen lassen, dass eben auch sächsische CDU-Mitglieder mit kritischer Berichterstattung partout nicht umgehen können.
Was jetzt nichts mit Helmut Kohl zu tun hat, der zwar ein gutes Empfinden dafür hatte, dass es einen einzigartigen Moment für die Deutsche Einheit gab. Aber der Journalist Ludwig Greven attestiert ihm auch: „Für die Befindlichkeiten der Bürger in den ‚neuen Ländern‘ fehlte ihm der Sensus. Damit hat er den Boden bereitet für DDR-Ostalgie, Misstrauen in die gesamtdeutsche Demokratie und einen gefährlichen Rechtsschwenk im Osten.“
Politiker sind auch Menschen, sagt man sich schon ziemlich schnell beim Lesen. Sie irren sich, sie explodieren auch mal (man denke nur an den Eierwurf in Halle), sie sind gekränkt, auch mal unbarmherzig, wenn es um Macht geht, sie möchten manchmal einen Platz in den Geschichtsbüchern und manchmal auch einfach geliebt werden. Und der Umgang mit Kohl nach dem Auffliegen der Parteispendenaffäre hat zumindest einige sehr kalte Seiten.
Die Kunst, über den Tellerrand zu blicken
Aber gerade deshalb lohnt sich in der Politik immer der Blick auf den Menschen, seine Motive und seine Beharrlichkeit. Und Beharrlichkeit kann man Kohl nicht abstreiten. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, hat er dafür auch geackert.
Und natürlich hat er Fehler gemacht und Grenzen überschritten. Aber der CSU-Politiker Thomas Goppel benennt auch etwas, was in der heutigen Berichterstattung zur Ukraine oft völlig vergessen wird: „Ohne Helmut Schmidt hätten wir den Sowjets schon in den Siebzigern an unseren Grenzen Gelegenheit gegeben, damals noch den Kalten Krieg um eine Front zu erweitern, die uns in Deutschland anstelle der Ukraine bedrängt gesehen hätte, weil die alten Blöcke an unserer deutschen Trennlinie aufeinandertrafen.“
Das blieb nämlich so bis 1990. Und an anderer Stelle im Buch wird zu Recht gefragt, ob es die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands und die Auflösung des Ostblocks 1990 überhaupt gegeben hätte, wenn nicht Gorbatschow in Moskau regiert hätte. Der Unionspolitiker Klaus Brähmig bringt es auf den Punkt: „Man stelle sich nur einmal vor, Wladimir Putin wäre Präsident gewesen und nicht Michail Gorbatschow oder Boris Jelzin.“
Man merkt schon, dass die großen Linien der Politik nicht einfach abreißen und Politiker gut beraten sind, die Geschichte zu kennen. Und Kohl wird von vielen der hier zu Wort kommenden Augenzeugen attestiert, dass er die Geschichte kannte und deshalb auch wusste, wie wichtig die europäische Integration für alle Europäer und für Deutschland besonders war und ist.
Die Frage, was noch von Helmut Kohl bleibt, kann natürlich so ein Buch nicht beantworten. Dazu ist es zu früh. Und man merkt ja, wie frisch bei vielen Beteiligten noch immer die Wunden sind – nicht nur bei denen, die sie im Buch benennen.
Das Schweigen der Nichtvertretenen ist viel zu auffällig. Da hängen noch jede Menge loser Fäden in der Luft und Generationen von Historikern werden sich noch fetzen, bis man Helmut Kohl wirklich angemessen eingeordnet hat.
Ob es freilich gleich Karl der Große und Bismarck sein müssen, steht auf einem anderen Blatt Papier. Denn bekanntlich ändern sich Größenwahrnehmungen deutlich, je mehr man sich vom Objekt der Betrachtung entfernt.
Aljoscha Kertesz Helmut Kohl. Was bleibt? Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2022, 16 Euro.
Keine Kommentare bisher
Danke auch für diese Buchvorstellung. Ich habe schon manchen Tipp an dieser Stelle beherzigt und mir das vorgestellte Buch gekauft – insofern danke Herr Julke, dass Sie sich neben den vielen anderen Artikeln die Zeit nehmen, noch einige Bücher zu lesen und sie hier vorzustellen.
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> Das sind ganz rechte Argumentationsmuster, die aber auch ahnen lassen, dass eben auch sächsische CDU-Mitglieder mit kritischer Berichterstattung partout nicht umgehen können.
Tatsächlich teilt der Herr Vaatz ordentlich aus an der Stelle und übertreibt es meiner Meinung nach auch in Teilen seiner Aussage. Die Tendenz, die er benennt, ist mir aber ziemlich nachvollziehbar. Aus einem ZEIT-Interview mit Patricia Schlesinger, ARD-Intendantin, vom 7.4.2022:
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“Schlesinger: Es stimmt einfach nicht, dass überall über Gefühle geredet würde. Was wir aber sehen: Es suchen sich bestimmte Leute bestimmte Jobs. Junge Leute aus dem bürgerlichen Spektrum sagen eher: Ich will mit dem, was ich tue, bitte schön ordentliches Geld verdienen. Unser Beruf zieht eher Idealisten an, die mit ihrer Arbeit die Welt verändern möchten, was nicht falsch ist. Aber wir müssen auf Ausgewogenheit achten. Der Journalismus, in dem keine großen Gehälter mehr winken, ist leider gerade für sogenannte Bürgerliche kein hyperattraktiver Job mehr. ”
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Damit fand ich, war (abseits von “die Merkel diktiert den Journalisten was sie sagen dürfen”) ganz gut und kurz erklärt, welche Art Mensch häufig in den Redaktionen sitzt und uns mit welcher Art Botschaften beschallt.