Es waren Dieter Kalka mit seinem Roman „Sudička“ und Sabine Ebert mit ihrer großen Barbarossa-Romanreihe „Schwert und Krone“, die in jüngster Zeit erst wieder den Blick darauf lenkten, dass die ostdeutsche Geschichte lange Zeit eine slawische Geschichte war. Und dass wir diese Geschichte fast verdrängt haben. Hans-Christian Trepte spricht von einer regelrechten Amnesie.

Trepte ist Slawist, genauer: Polonist, und auch Gastschreiber für den Verein Vergleichende Mythologie in Leipzig. Weshalb dieser Band jetzt auch in der Reihe „Kleines Mythologisches Alphabet“ in der Edition Hamouda erscheint, quasi als Buchstabe S. S wie Slawen. Oder wie Slowo, denn die Selbstbezeichnung der Slawen hat mit dem Wort (Slowo) zu tun, dem gemeinsamen Sprechen.

Zuletzt erschien in der Reihe der Buchstabe J, der „Mythos des Judentums“. Es klingt zwar wie ein kleiner elitärer Zirkel, der sich da in Leipzig so emsig mit Mythologien beschäftigt. Leben wir denn nicht in einem aufgeklärten und rationalen Zeitalter, das ganz ohne Mythologien auskommt?

Leben wir aber leider nicht. Oder zum Glück nicht. Denn Mythologien gehören zum großen Bestand der Erzählungen, mit denen sich Menschen als größere Gruppe definieren. Sagen und Märchen gehören noch dazu, Heldenepen, Volkslieder und ähnliche meist auch schriftlich aufgezeichnete Literatur. Denn zum Sprechen gehört nun einmal immer auch die gemeinsame Erzählung, die Welt der (Götter-)Geschichten, die man teilt. Oder teilte.

Die unsichtbaren Mythen

Wobei die Sache durchaus komplizierter ist, denn Säkularisierung bedeutet nun einmal nicht, dass die Ur-Motive, die in den alten Legenden stecken, aufhören zu wirken. Bernhard Streck erzählte zwar 2013 vom „Sterbenden Heidentum“ und der Verdrängung der frühen (Welt-)Religion durch jüngere und zunehmend monotheistische Religionen.

Aber die Faszination der früheren Erzählungen verschwindet nie völlig. Auch dann nicht, wenn slawische Stämme mit Feuer und Schwert christianisiert wurden. Wobei die jüngere Forschung dabei schon viel vorsichtiger geworden ist. Denn der Wendenkreuzzug, den auch Sabine Ebert in ihren Romanen schildert, ist zwar gut belegt. Aber ihm folgte keine Ausrottung und Vertreibung der zwischen Ostsee und Elbe lebenden Slawen.

Und auch die früher erfolgte Unterwerfung der Sorben südlich der Elbe unter Gero dem Großen führte nicht zu ihrer Ausrottung. Im Gegenteil: Noch bis ins 13. Jahrhundert wurde hier sorbisch gesprochen.

Auch in Leipzig wich das Sorbische als Volkssprache erst nach und nach jenem neuen deutschen Dialekt, den man heute das Sächsische nennt. Die meisten Ortschaften tragen hier noch heute sorbische Namen. Und nicht nur im Osterland findet man haufenweise Familiennamen sorbischen Ursprungs, wie Trepte feststellt.

Hinweise freilich auf einstige slawische Heiligtümer und Kultstätten sind rar, auch wenn man bei etlichen Kirchen davon ausgehen kann, dass sie auf alten slawischen Kulturplätzen errichtet wurden.

Trepte vermutet ja sogar, dass der Ortsname Möckern auf die slawische Göttin Mokosch zurückgehen könnte, die Mutter Erde in der slawischen Mythologie. Aber es ist wohl genauso wie bei Mockau, dass man genau das nicht wird klären können. Denn genauso gut könnte die Wortwurzel auf „feuchte Erde“ zurückgehen.

Die Mythen am Beginn der Staatenbildung

Je länger sich die slawischen Stämme ihre Unabhängigkeit erhalten konnten, umso mehr hat sich auch aus ihrer Mythologie erhalten – in Ortsnamen wie Radegast oder in der Erinnerung an die einst angebeteten Götter wie Perkun und Swantewit.

Und dass die Welt der Westslawen auf heutigem deutschen Gebiet ganz und gar nicht isoliert war, ist dem Polonisten Trepte nur zu bewusst. Denn ihre Götterwelt ist nicht nur in Polen, Tschechien oder der Slowakei nachweisbar, sie findet sich auch in archäologischen Funden bis in die Ukraine und bis nach Russland.

Was dann die großen Mythen um die Staatsgründungen im Osten berührt und damit natürlich die Frage, wie eng Mythologie und Identität eines Volkes miteinander verwoben werden. Da vermengen sich dann historische Ereignisse fast unlösbar mit Legenden und Göttersagen.

Und alles flammt in modernen Diskussionen um den Ursprung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker wieder auf. Logisch, dass Trepte ganz zum Schluss auf Putins selbstherrliche Geschichtsversion eingeht, in der das großrussische Reich fortlebt und der Ukraine (und auch Weißrussland) eine eigene Existenz abgesprochen wird.

Manchmal muss man so etwas einfach betonen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie stark Mythologien zum Selbstverständnis von Staaten und Völkern gehören. Und das in all ihrer Widersprüchlichkeit. Denn natürlich beziehen sich die Selbsterzählungen der Völker oft auf völlig verschiedene Versionen der Geschichte.

Wo Chroniken und Berichte fehlen, beginnt der Streit der Historiker darüber, wie die späteren Staaten, Königsherrschaften und Identitäten der Völker tatsächlich entstanden. Etwas, was Trepte natürlich nur skizzieren kann. Aber auch damit deutet er schon an, wie facettenreich und spannend auch die Staatenwerdung in Osteuropa war, eine Staatenwerdung, die immer in einem Dazwischen stattfand.

Der vielköpfige Triglaw/Perun

Weshalb wohl auch der wichtigste Gott der Slawen – Perun oder Triglaw –  immer als vielköpfig dargestellt wurde – mal mit drei, mal mit vier Köpfen, mit Blick in alle vier Himmelsrichtungen. Denn während die Slawen aus antiker und später fränkischer Sicht ostwärts, quasi jenseits der zivilisierten Welt lebten, traten sie spätestens mit den Staatsgründungen in Polen und Böhmen in die europäische Geschichte ein.

Und zwar in die christliche europäische Geschichte, auch wenn sie einen anderen Weg der Christianisierung gingen.

Was wieder neue Widersprüche mit sich brachte, die teilweise im heutigen Paganismus fortleben, der auch im slawischen Raum seine nationalistischen Züge hat, verwoben mit höchst modernen Legenden, die das Heil der Nation in einer mythischen aufgeladenen Vorzeit ausmachen.

Aber Trepte macht eben auch deutlich, dass die Westslawen mit ihrer Religion und ihrer Sprache bis zu ihrer Unterwerfung Teil eines viel größeren slawischen Universums waren. Die polnischen und böhmischen Könige versuchten hier noch bis ins Hochmittelalter hinein, eigene Herrschaftsansprüche zu behaupten.

Und dass sich gerade in der Lausitz der letzte Rest sorbischer Kultur erhalten hat, hat nun einmal auch damit zu tun, dass die Lausitz lange Zeit unter böhmischer Herrschaft stand.

Weshalb wir sorbische Literatur und Geschichte fast nur noch mit der Lausitz verbinden und auch vielen Ostdeutschen überhaupt nicht bewusst ist, wie prägend die slawische Kultur für diese Landschaft bis ins Hochmittelalter hinein war.

Die Chronisten-Sicht der Sieger

Trepte skizziert in seinem Text, was wir heute noch über die slawische Götterwelt wissen, die Rolle der zumeist männlichen Götter (Mokosch ist die einzige weibliche Gottheit in diesem Reigen) und die Heiligtümer der Slawen, die zumindest in den Chroniken zu den Wendenkreuzzügen eine gewisse Berücksichtigung fanden – auch wenn die Chronisten lieber mit dem Jubel der Sieger von der Zerstörung dieser Heiligtümer und der Götterstatuen berichteten.

Was eben auch bedeutet, dass wir über die Westslawen das meiste nur aus den Chroniken der Sieger kennen, die natürlich ihre eigene – sehr parteiliche – Sicht auf die teilweise tatsächlich blutigen Ereignisse haben. Und auf den „Götzenkult“ der Slawen sowieso.

So gesehen ist es trotzdem erstaunlich, wie reibungslos die Assimilierung der Slawen dann zwischen Ostsee und Saale tatsächlich vonstattenging. Denn sie wurden ja nicht ausgerottet. Sie wurden lediglich die Untertanen neuer Herren, manchmal auch selbst zu deutschen Fürsten wie die Nachkommen des abodritischen Fürsten Privislaw.

Doch ihre Sprache gaben sie im Lauf der Jahrhunderte auf, ihre Mythen lebten freilich teilweise in Sagen und Legenden weiter. Man denke nur an die Sage von Vineta.

In einer kleinen Besprechung würdigt er dann auch noch Dieter Kalkas Roman „Sudička“, der dieser slawischen Vorzeit versucht, Leben einzuhauchen und den Kampf der Westslawen um ihre Selbstständigkeit in eine starke Geschichte zu packen.

Eine Geschichte, die letztlich trotzdem ein nicht unwesentlicher Teil der ostdeutschen Geschichte ist und selbst das innerdeutsche Verhältnis prägt bis heute. Worauf ja James Hawes in seinem Buch „Die kürzeste Geschichte Deutschlands“ so charmant hinwies.

Aber es ist ein Hinweis, den man ernst nehmen darf, denn manchmal sind es 1.000 Jahre alte Unterschiede bis ins Phlegma hinein, die moderne Staatsgeschichte bis heute durchziehen und manchmal unverständlich machen, wenn man diese Unterschiede einfach ignoriert.

Hans-Christian Trepte Zwischen Kap Arkona und dem Lausitzer Bergland. Westslawische Mythologie
Edition Hamouda, Leipzig 2022, 12 Euro.

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