Millionen Menschen verlieรen ab 1933 Deutschland, flohen vor einem mรถrderischen Regime und wussten sich dennoch oft nicht in Sicherheit, weil das Nazi-Reich dann ihre Zufluchtslรคnder รผberfiel. So ging es auch Ursel Bud, die 1933 nach Paris geflohen war. Und deren Geschichte fรผr Kathrin Massar mit dem 16. Oktober 1939 begann, als zwei Polizisten bei Ursel Bud vor Tรผr standen und sie aufforderten, mitzukommen.
Da hatte Hitler schon Polen รผberfallen. Frankreich und Groรbritannien hatten Deutschland den Krieg erklรคrt. Und auf einmal wurden all die in Frankreich lebenden Auslรคnder fรผr die Behรถrden ein Problem. Behรถrden, die auf einmal ihr Misstrauen gegen all die Menschen institutionalisierten, die zumeist mit provisorischen Papieren im Land lebten und sich โ wie Ursel Bud โ regelmรครig auf der Polizeiwache melden mussten.
Doch an diesem 16. Oktober war auch das fรผr die junge Frau vorbei. Was wie eine kurze Aussprache auf dem Revier aussah, entpuppte sich als Beginn ihrer Verschickung in eines der Lager, die extra fรผr Frauen eingerichtet worden waren, die in den Augen der Polizei verdรคchtig waren. In Ursel Buds Fall, weil sie oft in Cafรฉs und Hotels verkehrte, wo sie augenscheinlich ihre Dienste als Sekretรคrin anbot. Denn diese Ausbildung hatte sie gemacht und bis 1933 in einem Anwaltsbรผro in Berlin gearbeitet, bevor sie schon relativ frรผh den Weg ins Exil ging.
Geflรผchtet โ und doch nicht sicher
Warum โ das konnte auch die Germanistin und Musikredakteurin Kathrin Massar nicht herausfinden, denn das 79-seitige Briefkonvolut, das sie aus dem Archiv der American Guild for German Cultural Freedom auf den Tisch bekam, erzรคhlt nur von den drei Jahren, die Ursel Bud zuerst im Internierungslager Camp de Rieucros und spรคter im Hotel Bompard in Marseille zubrachte, die ganze Zeit bemรผht um Affidavits aus den USA, ohne die sie kein Visum bekommen konnte.
Und immer in รngsten, denn spรคtestens nach dem Sieg Deutschlands รผber Frankreich im Jahr 1940 war ihr Leben gefรคhrdet, forderten die Nationalsozialisten immer neue Transporte von Jรผdinnen und Juden von der kollaborierenden Vichy-Regierung. Und nur knapp entging Ursel Bud solchen Transporten. Vielleicht โ so vermutet Massar โ weil sie ihre Dienste der jรผdischen Hilfsorganisation HICEM anbot, sodass sie dort immer wieder auch Unterstรผtzung bekommen konnte, wenn es brenzlig wurde.
1942 brechen die Briefe ab
Vielleicht auch 1942 wieder, als das Internierungslager Rivesaltes die letzte Station vor der Verschleppung nach Deutschland zu werden drohte und es ihr gelang, unter falschem Namen unterzutauchen. Sodass die Briefe an die American Guild fรผr German Cultural Freedom, wo sie immer wieder um Unterstรผtzung fรผr ein amerikanisches Affidavit angefragt hatte, hier abrissen. Aus den Briefen konnte Massar das Leben der jungen Sekretรคrin in der franzรถsischen Internierung in groben Zรผgen rekonstruieren.
Stets mit Vorsicht, da die Schreiben wahrscheinlich der Zensur unterlagen und sie vieles gar nicht schreiben konnte. Sie taucht sogar in den Erinnerungen einer anderen Leidensgefรคhrtin auf, auch wenn die Puzzle-Teile nicht ganz zu passen scheinen. Hatte sie nun als Sekretรคrin der HICEM eine besondere Machtposition? Hat sie das ausgenutzt?
Oder haben wir mit der jungen Frau aus einem gutbรผrgerlichen Haushalt mit einer exzellenten Ausbildung an der hรถheren Handelsschule in Berlin jemanden vor uns, der sich nicht entmutigen und unterkriegen lieร und aus jeder noch so aussichtslosen Situation etwas herauszuholen versuchte? Worauf vieles hindeutete, sowohl ihre frรผhe Flucht aus Deutschland als auch ihre beharrlichen Versuche, mit ihrer Ausbildung als Sekretรคrin immer wieder auch einen Broterwerb zu finden.
Aus Ursel wird Vera
Und Massar belieร es ja nicht bei der Auswertung des Briefkonvoluts, sondern versuchte auch auf die Spur jener Jahre zu kommen, in denen Ursel Bud in Frankreich unter einem anderen Namen untergetaucht war und mรถglicherweise auch Kontakt zur Widerstandsbewegung Resistance hatte.
Denn ihr Schicksal endete nicht tragisch, wie das so vieler ihrer Leidensgenossinnen. Sie schaffte es, die letzten Kriegsjahre in Frankreich zu รผberstehen und nach dem Krieg tatsรคchlich ein Visum fรผr die USA zu bekommen, wo sie die Autorin dann an erstaunlich prominenter Stelle wiederentdeckte: als Vera Bud, der Chefsekretรคrin der Jewish Agency for Palestine in New York und zugleich persรถnliche Sekretรคrin von Nahum Goldmann, dem Vorsitzenden der Agency, der in Person auch Vorsitzender der Jewish Claims Conferenence war.
Der Titel des Buches ist ein Zitat aus einem ihrer vielen Briefe an die American Guild for German Cultural Freedom, geschrieben nach ihrem Wechsel aus dem Internierungslager Rieucros in das Hotel Bompard in Marseille, wo sie mit hunderten anderen Frauen auf ihr Visum wartete.
Magnus Hirschfeld und Walter Benjamin
Aber Massar hat auch noch andere Spuren von ihr gefunden, die zeigen, wie sich die Schicksale in der Emigration begegneten โ so einen Eintrag ins Gรคstebuch des ebenfalls emigrierten Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld, den sie augenscheinlich zusammen mit Freundinnen besuchte. Und Walter Benjamin, der sich ja dann auf seiner Flucht รผber die Pyramiden tragischerweise das Leben nehmen sollte, war eine Zeit lang ihr Untermieter in Paris.
An vielen Stellen vermisst man natรผrlich persรถnliche Zeugnisse von ihr. Wie war sie wirklich? Wie war die Beziehung zu ihren Eltern, die in Berlin zurรผckblieben und denen es nicht mehr gelang, das Land zu verlassen? Auch hier kann sich Kathrin Massar nur vorsichtig herantasten und ihre Fragen stellen. Denn Ursel Bud war ja gerade einmal 20 Jahre alt, als sie kurzerhand ihre Sachen packte und nach Frankreich emigrierte. War sie nur hellsichtiger als viele ihrer jรผdischen Mitbรผrger? Wollte sie gar nicht erst riskieren, in einem Nazi-Deutschland festzuhรคngen?
Man weiร es nicht. Nur selten schimmert Persรถnliches in ihren Briefen nach New York durch. Und doch ahnt man, wie sie die Zeiten in den Lagern belastet haben muss, wie sie bangte um jede Nachricht aus New York und wie enttรคuscht sie jedes Mal gewesen sein muss, wenn wieder eine Chance vor ihren Augen zerrann. Was einen stellenweise durchaus an die hartherzige Bรผrokratie unserer eigenen Zeit erinnert, die genauso ihr Misstrauen in ausgerechnet jene Menschen pflegt, die um Hilfe und Aufenthaltsgenehmigungen bitten.
Keine Fuรnote mehr
Ursel Bud hat es zumindest geschafft, in ihr Wunschland USA zu gelangen, wo sie 1968 dann, trotzdem noch recht jung, gestorben ist. Und ein Stรผck weit gelingt es Kathrin Massar, die Persรถnlichkeit zu skizzieren, die einem von dem Passbild anschaut, das fรผr den Titel ausgewรคhlt wurde.
โKein Brief ist รผberliefert, der zeigen kรถnnte, wie sie war, wenn sie einfach nur Lust hatte, etwas von sich mitzuteilenโ, resรผmiert Kathrin Massar. Erinnert dann aber auch an die Schokolade, die sie einmal dem sehr armselig in Paris lebenden Walter Benjamin ins Reisegepรคck schmuggelte. Ihre Lebenserinnerungen hat sie nie aufgeschrieben. โVielleicht war sie auch der Meinung, ihre Erfahrung sei unbedeutend, weil andere Schlimmeres erlebt hattenโ, vermutet Massar.
So gesehen ist das alte Briefkonvolut eine erstaunliche Entdeckung, die ein Menschenleben zumindest in Konturen sichtbar macht, das sonst bestenfalls in den Fuรnoten der Lebensgeschichten viel berรผhmterer Menschen kurz Erwรคhnung finden wรผrde. Und die รผberliest man oft, es sei denn, jemand fragt sich eines Tages tatsรคchlich: Wer war eigentlich diese Ursel Bud?
Jetzt wissen wir ein bisschen mehr รผber sie. Sie ist keine Fuรnote mehr.
Kathrin Massar โFast frei zu sein ist doch etwas Herrlichesโ, Hentrich & Hentrich, Leipzig 2022, 19,90 Euro.
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