Es ist eines der faszinierendsten Themen, über die Philosophen seit 2.500 Jahren nachdenken: Wie begreifen wir eigentlich die Welt? Was denkt da in uns? Wie wird die Welt in uns zu Bewusstsein? Und daraus folgend: Was ist eigentlich Intelligenz? Ein Thema, das den Leipziger Gottfried Böhme seit Jahren umtreibt. Erst recht, seit ein paar Narren im Silicon Valley daran arbeiten, den Menschen abzuschaffen.
Aktuell mit relativ viel Erfolg, weil sich Milliarden Menschen tatsächlich einreden lassen, ihre ganzen technischen Segnungen würden alles besser können, was der ach so unvollkommene Mensch sonst nur mit Hängen und Würgen zustande bekommt. Und der Mensch müsste sowieso von allem entlastet werden, weil das sein tief gehegter Wunsch sei: vom Autofahren, Staubsaugen, Einkaufen, Wäschewaschen und Denken sowieso.
Und eigentlich sei er eh überflüssig und könnte durch den Geist aus der Flasche, der den Menschen als „Künstliche Intelligenz“ eingeredet wird, überall ersetzt werden. Weil: Die KI könne ja alles besser, mache keine Fehler und würde sowieso in ein paar Jahren zu Bewusstsein erwachen und den Menschen gänzlich überflüssig machen.
Und das Erschreckende ist: Die Leute, die das erzählen, glauben sogar daran und finden das sogar gut. Und das gläubige Volk nimmt das hin, als wäre das ein Naturgesetz.
Nur: Einbildung ist zwar auch irgendwie eine Bildung, aber eine ziemlich bekloppte.
Das Newtonsche Zeitverständnis
Falsches Denken führt zu falschen Ergebnissen. Und wer nicht mal verstanden hat, worüber er redet, der erzählt schlicht nur technisch angemalten Blödsinn. Was die Technikverliebten gar nicht mehr zu merken scheinen.
Da muss dann schon einer von der Seite kommen, so ein Leipziger Lehrer, der schon mit seinen Schülern in der Schule darüber nachgedacht hat, wie Bewusstsein eigentlich entsteht. Er kommt tatsächlich von der philosophischen Seite, auch wenn er mit den Physikern ganz mächtig hadert, insbesondere mit Isaac Newton, der vor 300 Jahren praktisch die gleichmäßig fließende Zeit zur physikalischen Konstante gemacht hat und damit unser Zeitverständnis bis heute prägt.
Auch wenn dann durch Quantenphysik und Relativitätstheorie diese so schöne greifbare Zeitvorstellung deutlich relativiert wurde.
Was aber nicht heißt, dass die meisten Normalsterblichen trotzdem über Zeit so denken, wie es Newton tat und seither der größte Teil der Wissenschaft. Und die Philosophie eigentlich auch, auch wenn die größten Philosophen durchaus gemerkt haben, dass diese schön einfache und jederzeit messbare Lösung für den Faktor Zeit ein Problem mit sich bringt, das mathematisch nicht zu lösen ist: Wie entsteht dann eigentlich unsere Vorstellung von der Welt im Kopf?
Denn das ahnten ja schon Platon und Aristoteles, Augustinus machte sich Gedanken darüber und Descartes mit seinem „Cogito ergo sum“ landete zwar einen schönen Elfmeter mitten in einer Zeit, in der er selbst lange schon daran gezweifelt hatte, dass der Mensch überhaupt erkenntnisfähig sein könnte.
Ist der Mensch erkenntnisfähig?
Übrigens eine schöne Diskussion, die Gottfried Böhme ausspart, obwohl sie gerade im 17. Jahrhundert für philosophische Verdammungsschlachten gesorgt hatte, denn die Phalanx, gegen die Decartes hier mit einem Akt der Selbstbekräftigung auftrat, war ja eine geradezu fundamentalische, die den Menschen geradezu für unfähig erklären wollte, selbst zu Erkenntnissen zu kommen und alles Bewusstsein zur göttlichen Eingebung erklären wollte.
Womit Descartes ja einen der wesentlichen Pflöcke für die beginnende Aufklärung einschlug, der zwingend mit dazu gehört, wenn über die modernen Naturwissenschaften seit Newton gesprochen wird. Denn natürlich ist das die Grundlage aller modernen Forschung: Das sowohl philosophisch wie auch naturwissenschaftlich begründete Selbstverständnis, dass der Mensch zur Erkenntnis fähig ist.
Nur hat auch Descartes eine Frage tatsächlich noch nicht geklärt: Wie entsteht eigentlich Erkenntnis? Wie kommt sie in unseren Kopf?
Denn das lässt sich mit den physikalischen Zeitmodellen nicht erklären. Sie kennen keine Zeit des Verharrens. Die Dinge geschehen, eins nach dem anderen. Was gerade geschieht, ist schon im nächsten Moment Vergangenheit und damit nicht mehr existent. Würde wir die Welt so wahrnehmen, würde alles an uns vorüberrauschen – und wir würden nichts erkennen und nichts begreifen.
Hat Zeit nur eine Dimension?
Bei Edmund Husserl findet Gottfried Böhme einen Ansatz, der vielleicht erklären könnte, wie es geht. Husserl hat sich – wie nicht allzu viele andere Philosophen – Gedanken darüber gemacht, wie unser Denken beschaffen sein muss, wenn es nicht den unverrückbaren Regeln des Monochronismus unterlegen sein soll.
Wobei der Begriff Monochronismus aus einer ganz anderen Sparte stammt und nicht aus der Physik. Das Problem, steckt auch eher nicht in der Physik, die mit der Newtonschen Zeit-Definition sehr gut arbeiten kann. Es ist ja kein Glaubensartikel. Zumindest nicht in der Physik.
Bei anderen Leute schon, die nicht wirklich verstanden haben, dass dahinter auch das Denken in Prozessen steckt. Unsere ganze Zeit scheint vollgestopft mit Prozessen und Prozessoren. Das Wort Prozess gehört zu den am häufigsten gebrauchten Vokabeln, wenn es um technologische Entwicklungen geht und den Traum, den Böhme am Ende in Stücke reißt.
Denn genau hier scheitert das, was die Techno-Gurus als KI zu verkaufen versuchen, obwohl dahinter lediglich Prozesse stecken, gigantisch beschleunigte Rechenoperationen, die für einige Leute augenscheinlich so etwas wie Intelligenz simulieren. Und zwar so gut, dass sie glauben, man müsste die Rechenoperationen nur noch weiter beschleunigen, dann würde der Computer quasi von ganz allein zu Bewusstsein erwachen.
In der Vorstellung dieser Leute besteht Denken einfach nur aus wahnsinnig schnell durchgeführten Rechenoperationen. Und sie vergessen, dass es Menschen waren, die diese Rechenoperationen programmiert haben und damit auch festgelegt haben, welche Operationen die Rechenmaschine in welcher Reihenfolge auszuführen hat.
Der fast vergessene Alan Turing
Aber das ist bestenfalls eine Imitation menschlicher Denkvorgänge. Weshalb Alan Turing seinen berühmten Test ja auch „imitation test“ genannt hat. Was heutige Computer-Prediger augenscheinlich völlig vergessen haben.
Und auch wenn die Narren in Techno immer wieder behaupten, die Entwicklung einer KI stünde kurz bevor, scheitern sie an ihren Grundbedingungen: Schritt für Schritt ablaufende Rechenprozesse haben nichts, aber auch gar nichts mit Bewusstsein und dem Vermögen von Selbsterkenntnis zu tun.
Sie können dort auch nicht hingelangen, weil für sie das perfekte Nacheinander aller Rechenschritte Grundbedingung des Funktionierens ist. Die Maschine kann diese Rechenoperationen nicht verlassen. Und wenn sie sie verlässt, weiß jeder, was dann passiert: Dann stürzt das Programm ab. Der Computer ist im Eimer.
Was natürlich nicht erklärt, wie dieses wundersame Ding in die Welt kam, das wir als Bewusstsein und Erkenntnisfähigkeit erleben. Und mit Edmund Husserl ist sich Gottfried Böhme sicher, dass es dazu eine zweite Dimension der Zeit braucht. Eine Dimension, die es ermöglicht, dass Ereignisse nachhallen in unserem Kopf – wenn auch nur für Sekundenbruchteile – weiterhallen, während das eigentliche Ereignis schon vergangen ist. Sodass Dinge in unserer Wahrnehmung eine zeitliche Ausdehnung bekommen.
Böhme hadert auch mit etlichen Gehirnforschern, die teilweise ja wirklich mit sehr mechanistischen Vorstellungen daran gehen, die Wahrnehmungsprozesse in unserem Gehirn zu erklären. Und die dabei auch viel zu oft viel zu weit gehen. Man denke nur an einige medienwirksame Behauptungen, sie könnten menschliche Gedanken lesen, gar steuern oder Menschen beim Denken zusehen.
Der falsche Traum vom Gedankenlesen
Aber in Wahrheit sind sie da nicht viel weiter als Platon mit seinem Höhlengleichnis. Und sie sind auch längst an den Grenzen der heutigen technischen Möglichkeiten angelangt, Denkvorgänge bildlich darzustellen oder gar zu messen. Mit Hirnscans kann man ja tatsächlich heute schon sehen, in welchen Arealen des Gehirns gerade die Aktivität steigt, wenn bestimmte emotionale Vorgänge stattfinden. Aber mehr als leuchtende Wolken elektrischer Entladungen bekommt man nicht zu sehen, Gedanken schon gar nicht. Und auch nicht das, was der Proband wirklich gerade denkt, sieht und fühlt.
Denn dass wir uns selbst und den Augenblick immer ganz empfinden, weiß jeder. Und wer sich auch nur für ein Weilchen darauf einlässt, der nimmt auch wahr, wie viele Dinge wir immer gleichzeitig empfinden und wahrnehmen.
Und zwar immer in einer zeitlichen Dimension. Das „Jetzt“ ist immer von einer bestimmten zeitlichen Ausdehnung. In der dann immer eine Menge Dinge passieren. Weshalb übrigens die meisten Verben, die wir haben, Verben der Bewegung sind, Verben, die beschreiben, wie Dinge passieren.
Natürlich muss man sich beim Denken keine Gedanken darüber machen, wie das funktioniert. Aber wenn man das dreiste Wort „Künstliche Intelligenz“ in den Mund nimmt, sollte man sich wirklich Gedanken darüber machen. Denn natürlich ist es bis heute ein ungelöstes Rätsel, wie und wann das in der Evolution passiert ist, dass die ersten Lebewesen begannen, Informationen nicht nur zu „verarbeiten“, sondern wahrzunehmen – wahrscheinlich anfangs sehr rudimentär.
Böhme geht auf einige sehr spannende Experimente mit Pflanzen ein, die augenscheinlich auch so eine Fähigkeit besitzen, sich Dinge zu merken und darauf zu reagieren. Auch wenn kein Mensch weiß, wie das funktioniert.
Wie entsteht Erkennen im Kopf?
Und mit dem menschlichen Geist ist das ja um etliche Nummern verschärft. Gerade Philosophen treibt das nun seit Platon um: Wie kommt die Erkenntnis in unseren Kopf? Wie werden wir zu einem wahrnehmenden Ich? Und damit zu Wesen, die nicht nur sich selbst, sondern auch die ganze Welt drumherum wahrnehmen und erkennen können?
Und das schloss ja schon für Platon die Frage mit ein: Sehen wir wirklich, was wir zu sehen glauben? Oder sind wir nur in der Lage, die Schatten an der Höhlenwand zu erkennen?
Eine Sichtweise, die moderne Hirnforschung ja bestätigt: In unserem Gehirn entsteht ein Bild von der Welt, aber es ist kein 100-prozentiges Abbild der Wirklichkeit. Wobei die Hirnforschung schon ein ganzes Stück weiter ist als die Leute, die Böhme so gern kritisch aufgreift. Auch wenn sie wahrscheinlich noch immer ganz am Anfang steht. Was nun einmal ihr Grundproblem ist: Wie kann man das Bewusstwerden begreifen mit einem Bewusstsein, das sich so erst einmal selbst begreifen will? Wie entsteht es?
Gerade die Forschung mit Kleinstkindern hat da ja schon einige schöne Erkenntnisse gebracht, wie diese kleinen, noch ungeprägten Gehirne, lernen, die Welt in Mustern wahrzunehmen. Es sind lange, faszinierende Lernvorgänge, die da ablaufen, wenn das Neugeborene zum ersten Mal die Welt erblickt – und zwar wahrscheinlich anfangs als ein reines Chaos aus Licht und Lärm und Gefühlen. Erst lernend formt das junge Gehirn Strukturen, beginnt sich zu orientieren und Muster zu entwickeln, mit denen es sich in dieser Welt orientieren kann.
Was dabei aber in diesem kleinen Gehirn wirklich passiert, welche Synapsen da bei welchem Ton, welcher Farbe, welchem Bild feuern und welche ganz konkreten Muster dabei im Gehirn entstehen, das kann heute kein einziges noch so genaues elektronisches Gerät darstellen. Immerhin geht es um 100 Milliarden Nervenzellen, die ungemein dicht miteinander vernetzt sind.
Unser Gehirn ist kein Computer
Was genau da beim Denken passiert, kann kein Forscher sagen. Auch wenn gerade die Computer-Freaks glauben, unser Gehirn würde wie ein Rechner funktionieren.
Gerade das aber scheint nicht der Fall zu sein. Denn ganz offensichtlich passiert alles immer gleichzeitig, werden mit der Wahrnehmung dessen, was gerade geschieht, auch immer gleich Gefühle und Assoziationen wachgerufen und korrespondiert das Wahrgenommene permanent mit Erinnerungen, die als Muster irgendwo in unserem Gehirn „gespeichert“ sind. Wobei wir noch nicht einmal wissen, wie unser Gehirn Dinge „speichert“.
Böhme meint zwar, dass diese „zweite Dimension der Zeit“ nicht in unserem Gehirn existiert. Aber wo sollte sie sonst zu finden sein? Oder sich bilden. Denn da Böhme gern auf die mathematischen Grundlagen der Dimensionen eingeht, ist eigentlich folgerichtig, dass Dimension hier auch nichts real Existierendes beschreibt, sondern selbst nur der Versuch einer Beschreibung ist, was mit der Wahrnehmung der Welt (und der physikalischen Zeit) in unserem Kopf passiert.
Dass ein erwachendes Bewusstsein diese Fähigkeit braucht, die Außenwelt in ihrem permanenten Verfließen überhaupt als fließend wahrzunehmen, liegt auf der Hand.
Das ist ein Faszinosum, das religiöse Menschen genauso fasziniert wie wissenschaftlich denkende. Was ja jahrtausendelang den Glauben an eine Seele befeuerte, weil es natürlich kaum begreiflich ist, wie dieses Denkende und die Welt Anschauende in unseren Kopf gekommen sein könnte.
Bewusstsein entsteht nicht aus Rechenoperationen
Wobei hier natürlich noch jede Menge Arbeit auf die Gehirnforscher wartet. Aber eines ist sicher, und dessen ist auch Böhme sich sicher: dass die Computerprogrammierer in ihrem Allmachtswahn völlig danebenliegen und scheitern werden, weil sie einfach nicht verstehen, wie Bewusstsein tatsächlich zustande kommt. Jedenfalls nicht mit Rechenoperationen, die hintereinander ablaufen.
Wobei sich Böhme zumindest sicher ist, was für ein Unheil die Technokraten aus dem Silicon Valley anrichten, denn mit ihren cleveren Algorithmen pfuschen sie ja schon ungehemmt in den Köpfen der Menschen herum, lesen die Sehnsüchte, Vorlieben und Gewohnheiten der Nutzer aus und spielen ihnen dann die Konsumprodukte, Botschaften und Nachrichten direkt aufs Endgerät, mit denen Gefühle, Konsumverhalten und Nachrichtenkonsum beeinflusst werden.
Das sieht dann oft so aus, als wären die Geräte dann „smart“ oder gar „intelligent“, auch wenn sie letztlich nur genau die Programmschritte absolvieren, die ihnen einprogrammiert wurden. Es sind nicht Programme, die die Menschen manipulieren, sondern Programmierer, die Programme geschrieben haben, die Menschen manipulieren sollen.
Es sind immer Menschen, die dahinterstecken. Auch die Botschaft darf man aus Böhmes Buch mitnehmen, auch wenn man vielleicht nicht viel anfangen kann mit dem philosophischen Versuch, unser Bewusstsein mit einer zweiten Zeit-Dimension zu erklären.
Auch wenn man sehr gut versteht, warum Böhme gerade hier einen Ansatz sieht, denn erst ein Wesen, das die vergehenden Dinge der Welt über den winzigen Moment des Wahrnehmens hinaus wahrnehmen und betrachten kann, hat ja überhaupt erst die Möglichkeiten, die Welt in ihrem permanenten Werden und Vergehen zu beobachten.
Gottfried Böhme Die zweite Dimension der Zeit, Die Graue Edition, Zug / Schweiz 2022, 27 Euro.
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Man muss sich von den Werbeversprechen aus Silicon Valley und den Visionen des chinesischen Tech-Sektors nicht kirre machen lassen. Informatikern wird im Studium anhand eines vereinfachten Modells des Gehirns erklärt, was KI sei. Das hinterfragen sie oft nicht, sie fragen auch nicht unbedingt die Neurologen. Also erzählen sie manchmal ein bisschen Quatsch. Um das einschätzen zu können braucht es m.E. aber weniger Husserl und Co. Hilfreicher wäre, einerseits den gegenwärtigen Stand der Hirnforschung zur Kenntnis zu nehmen (und hier hoffe ich auf gute Wissenschaftskommunikation), andererseits sich zu informieren, was KI (nicht) kann und an welchen Stellen Bürger einer Demokratie in puncto KI-Einsatz tatsächlich besonders aufmerksam werden sollten. Empfehlenswert ist z.B. das auch für Laien gut verständliche Buch der Sozioinformatikerin Katharina Zweig: Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl.