Das Nest könnte sich fast überall in Deutschland befinden, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwo im Osten liegt, recht groß ist. In gewisser Weise ist es auch recht typisch, eins von diesen kleinen Städtchen, in denen kleine Jazzkonzerte eher nur sporadisch stattfinden. Und wenn sie aus sind, sucht ein angereister Klarinettist wie Tom Peter lange nach einer Kneipe, die überhaupt noch offen hat und einlädt. Nicht ahnend, was an diesem Abend hier noch eskaliert.
Wobei: Eskalationen passieren nicht einfach so. Sie sind das Ergebnis falschen Denkens. Eines Denkens, das auch in etlichen Bauteilen der deutschen Politik steckt, gerade in der Regionalpolitik. Politik ist zu einem enormen Anteil pure Emotion, Bauchgefühl, Meinung und Laune.
So wird sie ja auch medial inszeniert, auch wenn die Medien, die das so inszenieren, meist nicht mal ahnen, was sie damit anrichten. Schlammschlachten enden nun einmal zwangsläufig im Schlamm. Und sie werden nach den Regeln derer gespielt, die das Geschäft mit Kraftmeierei, Lügen und Angstmachen am besten beherrschen.
Angstmachen als politischer Stil
Genau das führt Jan Bratenstein in seinem Roman aus der tiefsten deutschen Provinz ganz exemplarisch vor. Es ist wie eine Experimentalanordnung, wenn er den feinfühligen Tom Peter ausgerechnet in der einzigen Kneipe im Ort landen lässt, in der zwei alte Hippies ihren Traum von einer Oase der Unabhängigkeit verwirklicht haben – dem „Café Exquisit“.
Ein Ort, der eigentlich keine Widerständigkeit ausstrahlt, obwohl in dem Nest seit Jahren eine Type wie Berndt Konradt Bürgermeister ist, dem die Probleme des Städtchens eigentlich völlig egal sind. Eigentlich ist er nur im Amt, weil er die Vorurteile einer gewissen Wählermehrheit bedient, die sich hier sichtlich schon seit Jahren in lauter rassistischen und nationalistischen Ressentiments vergraben hat.
Das, was halt übrig bleibt, wenn man eigentlich selbst keine Vorstellung von einem anderen Leben hat, sich lieber wegduckt, wie man das früher mal gelernt hat. Und sich lieber nicht einmischt in die Stadtpolitik, in der Berndt Konradt, wenn er seinen Willen nicht bekommt, auch gern mal auf ein paar Typen zurückgreift, die dann in aller Stille dafür sorgen, dass die Dinge in seinem Sinne laufen.
Da geht sein direkter Draht dann zu Bernd Schulzensen, Sportlehrer von Beruf, aber längst auch der Kopf der gewaltbereiten Truppe, die er nur zusammentrommeln muss, wenn er – zum Beispiel in dieser Nacht – das Café Exquisit belagern möchte.
Ein Typ, dem das Angstmachen längst in Fleisch und Blut übergegangen ist. Man merkt schon, dass es bei all diesem Gequengel um die Rechtsradikalen im Land immer nur um Macht geht. Und zwar eine Macht, die mit Demokratie und Respekt nichts zu tun hat.
Eine Macht, die nicht akzeptieren will, dass andere Menschen anders sind, und die deshalb auch immer dabei ist, wenn Aufnahmeeinrichtungen von Flüchtlingen abgefackelt werden, alternative Jugendklubs angegriffen, linke Politikerinnern bepöbelt usw.
Falsche Autoritäten
Es ist eine Macht, die nichts neben sich dulden möchte und ganze Regionen in Angst taucht. Dass es um Einschüchterung und Angst geht, wissen die bunt zusammengewürfelten Gäste des „Exquisit“ nur zu genau.
Sie kennen Konradt, sie kennen Schulzensen, sie kennen auch Heiko Schuhknecht, den muskelbepackten Torwart der Fußballmannschaft, der auf Schulzensen hört wie auf einen Ersatzvater. Auch damit hat es zu tun: Autorität. Und falscher Autorität natürlich, die immer auch Missbrauch ist.
Denn dass in Heiko auch noch ein anderer Junge steckt, das weiß auf jeden Fall Lea, die Frau von Flüssiger, der drinnen am Tresen sitzt und fast die ganze Zeit nur auf sein Bier starrt.
Auch so eine Geschichte, die Bratenstein nicht extra erfinden muss, so eine kaputte Geschichte made in Eastern Germany, eine Beziehung, die irgendwie angefressen ist oder doch infrage steht, ein arbeitslos Gewordener, der seine Ersparnisse in Bier investiert, und die Frage natürlich, was von einer alten Liebe eigentlich bleibt so am Ende, wenn scheinbar alles heillos verfahren ist.
Wahrscheinlich ein nur zu typisches Schicksal im schönen deutschen Osten. Nur sind die beiden noch nicht fertig miteinander. Denn eins haben beide nicht gelernt: dass man Menschen einfach aufgibt, wenn es kriselt oder schon gewaltig knirscht.
Für Borste und den Arschbär ist das „Exquisit“ sowieso längst so etwas wie ein zweites Zuhause. Was kein Zufall ist: Hier landen dann wohl all jene, die sich nicht duckmäusern lassen und ängstlich hinter Gardinen verkriechen, die sich nicht abfinden mit der Totenstille, die Typen wie Konradt und Schulzensen über den Ort gelegt haben im Vollgefühl ihrer Macht, Angst zu verbreiten.
Wenn die Polizei nicht kommt
Viele kleine Nester in (Ost-)Deutschland funktionieren genauso: durch Angst. Erstaunlich, dass es die Herren mit ihren Kraftposen entweder nicht begreifen. Oder doch begreifen und es deshalb genau so machen. Denn meistens funktioniert das. Die meisten Menschen sind friedliebend, scheuen Konflikte und legen sich auch nicht mit der Macht an.
Schon gar nicht, wenn der örtliche Polizeichef namens Bielefeld den direkten Draht zu Konradt hat. Es lohnt sich also nicht, die Polizei zu rufen, wenn sich eine Meute kahlköpfiger Männer in Springerstiefeln vor dem Café von Frank und Lina versammeln und Schulzensen schon mal den Drohanruf geschickt hat. Es wird keine Polizeistreife kommen.
Eher rechnen die da drinnen mit dem Schlimmsten. Auch wenn sie sich gegenseitig mit Reden Mut machen. Auch wenn die tapfere Rede manchmal nicht die Bohne mehr alkoholfrei ist, wie es etwa Enno Brotschmier so geht, dem Moderator vom Lokalradio, der sich den klaren Verstand systematisch mit Absinth weggurgelt und im Lauf des Abends auf dem Klo auch noch einer sprechenden Kakerlake begegnet.
Eigentlich sind die Rollen klar verteilt: drinnen die ganz und gar nicht Kampfgestählten, meist eher leicht übergewichtigen Leute, die in diesem Nest nicht passen wollen und können und dennoch gerade deshalb wissen, dass sie zusammengehören. Und draußen die Kahlköpfigen, die zwar sonst nichts haben im Leben, aber gerade deshalb jede Menge Spaß an Kloppereien.
Helden und Pechvögel
Bratenstein muss es gar nicht weiter ausführen, was für eine triste, leere und langweilige Welt die der ach so selbstbesoffenen Nazis ist. Eine Welt, die sie ja auch anderen aufdrücken wollen. Denn all die Menschen, die in ihr Zielkreuz geraten, verlassen ja irgendwann diese lumpigen Nester mit all ihren aufgeblasenen Bürgermeistern, die ihren Hass auf die unverständliche Welt hinter Heimatphrasen und Kraftmeierei verstecken.
Und die sich selbst vor Kameras doof stellen, wenn ihre Kumpanei mit den Schulzensens in der Stadt mal Thema wird. Was es meist nicht wird. Denn natürlich sind auch die Zeitungsredaktionen aus diesen Nestern längst verschwunden. Auch einer wie Enno steht eigentlich auf weiter Flur allein.
Eigentlich ist alles klar an diesem Abend, den Bratenstein sehr ausführlich in vielen kleinen Kapiteln erzählt, in denen er alle seine Figuren für Momente und Augenblicke zu Helden und Pechvögeln werden lässt, triumphieren und niedergehen, große Klappe haben und Bange zeigen, während sich die Sache hochschaukelt, weil Schulzensen erst mal Heiko vorschickt, der dann auch fast zum Türbrecher wird, am Ende aber recht blutig und kläglich auf einem Stuhl gefesselt sitzt.
Die Nacht endet anders, als man es noch in den Momenten denkt, als auch Tom Peters mühsam aufrechterhaltener Mut zusammenbricht und er regelrecht unter den Tresen kriecht. Doch zum Glück sind ja die Frauen da – Lina, Borste und Lea, die jede in ihrem Moment zu erstaunlicher Tatkraft auflaufen, sodass die Eingesperrten und Belagerten wieder Mut finden – und dann auch schon mal Grenzen überschreiten, die sie eigentlich nicht überschreiten wollten.
Leichte Beute
Denn genau darauf zielen ja die nationalistischen Edelprügler: Dass die Gegner eigentlich friedliebend sind und in der Regel keinen Kampfsport betreiben. In ihren Augen immer leichte Beute. In so einer Welt, in der die Kräfte scheinbar sauber verteilt sind, fühlen sich die Schulzensens groß: „Der große Antagonist war er. So viel war evident. Das hatte er immer sein wollen, jetzt stand er da, groß und übermächtig, der Befehlshaber einer kleinen, beschickerten Armee, in einer Mission, einer überfälligen Mission, die größer war als sie alle zusammen. Der Ort sollte endlich gereinigt werden.“
Später redet er sich zwar raus, es sei so nicht gemeint gewesen. Aber dass er – genau wie Konradt – das „Exquisit“ trotzdem beseitigen und die darin Verbliebenen aus der Stadt vertreiben möchte, davon lässt er nicht.
Natürlich steckt dahinter ein Machtverständnis, das in die Klamottenkiste der Geschichte gehört. Nur: Es wird gepflegt. In etlichen Provinzen der Republik kann man es genauso finden – mitsamt dem Klima des permanenten Drohens und Einschüchterns.
Am „Exquisit“ eskaliert es nur deshalb, weil Typen wie Schulzensen eine andere Art von Politikmachen nicht kennen. Es nie gelernt haben, weil ihre Lebenserfahrung nun einmal zu sein scheint, dass Menschen parieren, wenn man sie nur richtig bedroht und kleinmacht. Ihre Macht speist sich immer aus der Angst und der Unterwürfigkeit anderer.
Das erzählt Bratenstein natürlich alles viel farbiger, lustvoller. Er genießt jede einzelne Szene, in der er den Mut, die Verzagtheit, die Schönheit und die Schwächen all seiner handelnden Figuren genussvoll seziert und vorführt, ihr Scheitern an sich selbst.
Denn eigentlich sind sie allesamt keine Helden, weder der muskelbepackte Heiko, der sich am Ende durch die Kneipentür drischt, noch die cleveren Oehls-Brüder, die von sich glauben, ganz fiese Jagdhunde zu sein, erst recht nicht der aus dem Bett geholte Konradt in seinem weißen SUV, der genau das zeigt, wovor er Angst hat: den Menschen außerhalb seiner protzigen Blechkiste.
Die Ängste der Angstmacher
Denn hinter dem Angstgmachen steckt immer die Angst, was Bratenstein an einigen Stellen sehr schön illustriert und zur Szene werden lässt. Und was am Ende in einer Rede des auf einmal erstaunlich mutigen Tom Peter kulminiert, der den letztlich schon unter kräftigen Verlusten leidenden Belagerern ins Gesicht sagt, was für einer blöden Ideologie sie hinterherlatschen und wie schwachsinnig ihre kleinkarierte Sicht auf die Welt ist. Titel dieses herrlichen Kapitels, das selbst den Autor zum Einmischen bringt: „Landesgrenzen sind keine Kondome“.
Es hätte auch heißen können: „Alle Menschen sind Mischlinge“.
Oder: „Ohne Fremdgehen wäre die Menschheit nie aus den Höhlen gekommen“.
Das Wort Ficken taucht hier in all seiner Schönheit auf, denn darin steckt alles, was an der bornierten Sichtweise von Nationalisten und Chauvinisten falsch ist. Und schon immer falsch war. Man könnte es auch so interpretieren -– frei nach Freud: Das großkotzige nationale Bürgertum hat seine paranoide Angst vor dem Sex in einen rassistischen Furor verwandelt, der bei schwachen Geistern bis heute verfängt.
Schulzensen sagt es Tom Peter direkt ins Gesicht: „Und stell dir das vor, Bernd. Alle ficken. Die ganze Zeit. Es wird nur gefickt, unaufhörlich und überallhin. Über jegliche Grenze hinweg. Weil Landesgrenzen sind halt keine Kondome. Es wird sich vermischt, Bernd. Jeder ist ein Mischling. Reinrassigkeit existiert nicht.“
Mal abgesehen davon, dass selbst das den „Reinrassigen“ zu hoch sein dürfte. Am Ausgang der Geschichte ändert es jedenfalls nicht viel, weil weder Schulzensen noch Konradt Anstalten machen, sich auch nur die Bohne zu ändern. Sie werden auch am nächsten Tag so weitermachen. Auch wenn ihre ganze Schlägertruppe derweil besoffen an diversen Straßenbäumen einen Unfall gebaut hat.
Rückwärts flüchtende Weltbilder
Denn Dummheit muss sich nicht regenerieren. Sie kennt auch keine Skrupel oder all die Phantasien, die die in der Kneipe so lange Eingesperrten über Stunden geängstigt und aufgeregt haben, aber auch nach Auswegen hat suchen lassen.
Am Ende geht Bratensteins Geschichte völlig anders aus, als man es anfangs erwartet. Auch weil er sich hütet, mit starren Typen oder edlen Helden zu arbeiten. Wenn Menschen mit all ihren Schwächen und Unkontrolliertheiten in so einer Nacht agieren, dann geht nun einmal auch eine Menge schief, geraten Starke in die Bredouille und Schwache zeigen, dass sie sich von niemandem einschüchtern lassen. Auch wenn ihnen dabei zum Heulen ist.
Im Grunde ist die ganze Geschichte eine Liebeserklärung an all die unpassenden Typen, die nicht aufgeben wollen, wenn Typen wie Konradt ihre Stadt in eine Soße rechtskonservativer Selbstgefälligkeit verwandeln.
Die Beschreibung, die Bratenstein dazu gibt, dürfte auf so manchen Schnauzbartträger zutreffen, der mit dieser Art „Mehrheitspolitik“ macht: „Einen gläubigen Mann hatte er immer darstellen wollen, der Mann mit dem rückwärts flüchtenden Haaransatz und Weltbild. In einem klassischen Konradt’schen Wahlwerbespot zergniedelte er irgendein bedeutungsloses Bibelzitat und präsentierte dabei stolz seinen Schnurrbart des Volkes, der ihn in dem Jahrzehnt, in dem sein Gesellschaftsverständnis steckengeblieben war, tatsächlich zu einem nahbaren Politiker hätte machen können.“
Die braven Konradts
Da ist es vielleicht ganz gut, dass man dieses Nest nicht konkret verorten kann. Es kann sich überall befinden, auch in westdeutschen Provinzen, in denen das Steckengebliebensein im Gesellschaftsverständnis vergangener Zeiten ebenso als bürgerlicher Wertkonservatismus zelebriert wird und die Sixpack-Bepackten draußen vor der Tür doch nur „gute Jungs“ sind, die sich nur mal raufen wollen.
Und es hört ja in den Nestern nicht auf. Mancherorts macht so eine Schnurrbärtigkeit auch Landespolitik und sorgt mit eigenen Phrasen dafür, dass die Verachtung über die anderen schön weitergepflegt wird und die Konradts wie brave Leute wirken, die sich auch noch aufreiben für das Allgemeinwohl, auch wenn sie ihr „Amt über viele Jahre hinweg jeglicher Menschlichkeit“ berauben.
Aber trotzdem immer wieder gewählt werden, weil, die Schulzensens mit ihren „braven Jungs“ für die nötige Einschüchterung sorgen.
Die Geschichte endet trotzdem mit einer Menge zu flickender Wunden und vielen demolierten Autos, aber doch so, wie die meisten Geschichten im Leben enden: Wer was lernen wollte über sich und die anderen, der hat was gelernt.
Wer nicht, der wird ein unleidlicher Brocken geblieben sein. Manchmal arrangiert man sich damit, gerade dann, wenn einem Frauen wie Lea und Lina klarmachen, dass wir eben doch alle nur kleine Würstchen sind und die Einbildung, was Besonderes zu sein, wirklich nur eine Einbildung ist.
Eigentlich Grund genug für den angereisten Tom Peter, der hier die abenteuerlichste Nacht seines Lebens verbracht hat, doch noch mal wiederzukommen. Aber das tut er nicht. Manchmal ist einem solche Aufregung genug fürs ganze Leben.
Mal vom schwer arbeitenden Herz ganz zu schweigen, das so manchem Akteur in dieser Nacht stehenzubleiben droht. Manchmal lebt man mit einem großen Herzen doch viel zu kurz. Und hinterlässt ein Loch, das auch mit dem neuesten Probierbier nicht zu füllen ist.
Den Spruch, der zum Titel geworden ist, sagt übrigens der Schweigsamste aus der Runde, der im entscheidenden Moment zur unerwarteten Tat schreitet. Aber was genau passiert, muss schon jeder selber lesen. Gern kapitelweise, dann reicht das Buch für genau 99 Tage.
Jan Bratenstein Alles Arschlöcher überall Carpathia Verlag, Berlin 2022, 25 Euro.
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