Die kleine Stadt Zuckrowka sucht man auf polnischen Landkarten natรผrlich vergeblich. Auch wenn sie irgendwo dort liegen kรถnnte, wo auch Dominika Sลowiks Geburtsstadt Jaworzno liegt, irgendwo im Sรผden Polens. Und natรผrlich dort, wo die Fantasie der Vรถlker immer ihr Zuhause hat. Denn natรผrlich leben die Menschen immer in zwei Welten: einer nรผchternen auf Erden und einer voller Wunder und Mรคrchen in ihrer kollektiven Erinnerung.
Und begabte Autor/-innen lassen diese Orte aus der anderen Wirklichkeit lebendig werden, komprimieren sie und bรผndeln darin, was Menschen so trรคumen, glauben, denken รผber ihr Leben und die weltweite Bedeutung ihres kleinen Nestes in der Provinz. Und dann werden diese Nester weltberรผhmt โ so wie Clochemerle aus Maurice Chevaliers gleichnamigem Roman, Unterleuten aus dem Erfolgsroman von Juli Zeh oder das kleine italienische Stรคdtchen Boscaccio aus den Don-Camillo-Geschichten von Giovannino Guareschi.
So ein Ort ist auch Zuckrowka, wo die 1988 geborene Dominika Sลowik ihren 2019 auf polnisch erschienenen Roman handeln lรคsst. Ein ziemlich eigensinniger Pfarrer kommt auch drin vor โ aber das Format von Don Camillo hat er nicht. Und auch die Genossin Saretzka, Groรmutter der Erzรคhlerin, hat mit dem moskauhรถrigen Peppone nicht viel zu tun. Immerhin sind wir in Polen und die Karriere der Groรmutter ist lรคngst vorbei, als die kleine Saretzka aufwรคchst in einem Nest, in dem nichts wirklich das zu sein scheint, was man auf den ersten Blick sieht.
Woraus besteht unsere Erinnerung?
Oder was das Kind wahrnimmt. Auch diese Dimension gehรถrt dazu. Denn was erzรคhlen eigentlich die Erwachsenen den Kindern? Wie entsteht ihr Bild von der Welt, wenn auch die Erzรคhlungen der Alten voller Gerรผchte und Wunderglauben sind? Wie war das damals, als der Ort vor den Hochwassern der Mahr geschรผtzt wurde? Wie war das mit der weinenden Madonna des Kriegsrechts?
Drei Wunder werden aufgezรคhlt, aber es geht auch ansonsten mysteriรถs und wundersam zu in Zuckrowka, einem Ort, der seine Geschichte vรถllig vergessen zu haben scheint und sich regelrecht neu erfindet, wofรผr dann auch das eigenartige Heimatmuseum steht, in dem die Mutter der kleinen Saretzka arbeitet bis zu dem Tag, an dem es aufgelรถst wird. Und ihre kluge Mutter ist nicht die einzige, die eine wissenschaftliche Arbeit darรผber geschrieben hat, wie sich ein kleines polnisches Stรคdtchen seine eigene Lokalgeschichte neu erfunden hat.
Es geht die ganze Zeit ums Erzรคhlen. Und ums Hinterfragen der Geschichten, von denen die Erzรคhlerin lange Zeit glaubte, dass sie stimmen und genau so passiert sind. Aber sie erzรคhlt das Ganze in der Rรผckschau. Es ist genug Zeit vergangen, all das fรผr belastbar Geglaubte zu hinterfragen, in Archiven zu kramen und die Augenzeugen zu fragen โ auch die Jugendfreunde, die 2005 dabei waren, als alles auf einmal zu kulminieren schien.
Selbst das war noch eine scheinbar fantastische Zeit, mit einer wilden Fruchtbarkeit in den Kleingรคrten und den riesigen Honigbienen des alten Makowski, dessen Bรคndigungsversuche der Bienenvรถlker das Kind immer fasziniiert haben. Aber in seiner Abgerissenheit wirkt der Mann auch so, als kรถnnte er auch in jedem beliebigen sรคchsischen Nest vorkommen und die Nachbarn einschรผchtern.
Nur, dass die Sachsen vielleicht nicht ganz so fantasievoll sind. Leichtglรคubig schon. Auch davon erzรคhlt ja die Geschichte: Wie leicht eine Stadtgesellschaft bereit ist, auch die wildesten Gerรผchte zu glauben, wenn nur genug Leute felsenfest behaupten, die unheimlichen Vorgรคnge selbst gesehen zu haben. Oder aus โzuverlรคssiger Quelleโ erfahren zu haben. Was interessiert die nรผchterne Wirklichkeit, wenn man hinter allem ein Geheimnis vermuten kann, gar รผbernatรผrliche Krรคfte und Wunder?
Die phantastischen Trรคume der Provinz
Ist der Wunderglaube nicht gar der Ersatz dafรผr, wenn gerade eine Gesellschaft krachend endete, in der die โfรผhrenden Kรถpfeโ meinten, die Dinge in der Hand zu haben und wissenschaftlich zu bewerkstelligen?
Aber dafรผr steht nicht einmal Groรmutter Saretzka, die einst tatsรคchlich eine wichtige Rolle als Parteifunktionรคrin im Ort gespielt haben muss. Jedenfalls war sie es, die dem Ort die berรผhmte Porzellanfabrik bescherte, die hunderten Bewohnern der kleinen Stadt Arbeit brachte โ und die nach 1989 baldigst geschlossen und abgewickelt wurde. So anders sind ja die Schicksale polnischer Kleinstรคdte von denen in Ostdeutschland nicht. Und so dรผrfte so manchem Leser hierzulande vieles sehr vertraut vorkommen, was hinter all den groรen und kleinen Wundern sichtbar wird. Bis hin zu den Schicksalen der kleinen Saretzka und ihrer Jugendfreunde, die es schon bald in alle Winde zerstreuen wรผrde.
Denn wie man kleine Stรคdte rettet, die im modernen globalen Furioso keine Rolle spielen, das haben auch die Polen noch nicht herausgefunden. Nur dass man die sehr spezielle ostdeutsche Lethargie in diese Geschichte vermisst. Mal vom lethargischen Vater der kleinen Saretzka abgesehen. Denn die Helden und Heldinnen, die in Sลowiks Erzรคhlung immer wieder auftauchen, sind geradezu Genies in Improvisation, erzรคhlen zwar gern Mรผnchhausen-Geschichten darรผber, wie erfolgreich sie sind.
Aber sie warten nicht darauf, dass irgendjemand kommt und sie rettet, sondern versuchen trotz allem, irgendwie doch wieder festen Boden unter die Fรผรe zu bekommen. Manche zielstrebig wie die Mutter der kleinen Saretzka, viele aber trickreich wie der Kabler, Mischa, der schon als Schรผler Drogen vertickt, oder auch Dygnar, der Vorsitzende, der schon vor dem Ende des Kommunismus wusste, wie man seine Schรคfchen ins Trockene bringt, und der auch danach wusste, wie man mit den richtigen Beziehungen auch zu guten Geschรคften kommt.
Wie vertrauenswรผrdig sind Erinnerungen?
Dass seine Tochter schlafwandelt, scheint der ganzen Sache einen leicht esoterischen Zug zu geben. Aber selbst da hat die Erzรคhlerin nach all den Jahren so ihre Zweifel. Was stimmt eigentlich tatsรคchlich an ihren Erinnerungen an ihre Kindheit in Zuckrowka? Welche Erinnerungen sind real und welche sind fantastische รbertreibungen oder Fehlinterpretationen? Denn schon in den turbulenten Monaten des Jahres 2005, die schlieรlich mit mehreren Todesfรคllen enden, war das Misstrauen der Erzรคhlerin geweckt, versuchte sie herauszubekommen, was denn nun stimmte an all den Vorgรคngen um das kleine Stadtmuseum und den Selbstmord des alten Direktors. Warum benahm sich der alte Makowski so seltsam und was hat er in seiner abgewrackten Hรผtte versteckt?
Ein Schlรผssel im Honigglas spielt hier eine Rolle, der dann zwar nie benutzt wird. Aber das Jahr endet nicht nur damit, dass die Bienenstรถcke zerstรถrt werden und die Polizei den alten Dygnar verhaftet. Es endet auch die mรคrchenhafte Fruchtbarkeit im Tal der Wunder.
Als wรคre auch die Zeit der fantasievollen Geschichten abrupt zu Ende gegangen und nichts mehr รผbrig als die Aufgabe, herauszufinden, was wirklich hinter all den seltsamen Ereignissen steckte, die Sลowiks Erzรคhlerin ja voller Faszination erzรคhlt, immer neue Spannungsmomente aufbauend, gekonnt spielend mit der Tatsache, dass ihre Erzรคhlerin geradezu von einer ungreifbaren Situation in die nรคchste gerรคt. Eigentlich genau das, was jedem lebendigen Menschen immerzu passiert. Nur dass sich die Meisten darรผber nicht mehr wundern, sondern so tun, als wรคre ihnen das egal und als wรคre sowieso alles Wesentliche schon gesagt und erlebt.
Die meisten Leute sind eigentlich schon tot, bevor sie Kinder bekommen. Laufen herum wie Gespenster, reden jeden Blรถdsinn nach, zerreiรen sich die Mรคuler, wie Sลowik so schรถn schreibt. Sie sind aber, wenn wirklich was passiert, heillos รผberfordert und reagieren wie ein gebรคndigter Bienenschwarm am Krรผckstock von Makowski, bei dem auch am Ende nicht so recht klar ist, ob in dem versifften Bademantel nicht ein einst mรคchtiger Funktionรคr steckt, der sich hier eine gut getarnte Existenz aufgebaut hat.
Die Macht der Gerรผchte
Aber stimmt dieses Bild nicht auch fรผr die Bewohner von Zuckrowka, die jedem Gerรผcht auf den Leim gehen, nur zu gern an eine weinende Madonna glauben und sich nachts nicht mehr aus dem Haus trauen, weil sie die nachtwandelnde Magda fรผr eine Werwรถlfin halten?
Menschen, mit denen man alles Mรถgliche anstellen kann, wenn man ihnen nur die richtige Geschichte vor die Nase setzt und ihrer Fantasie Futter gibt. Denn es steckt ja auch die kleine Frage drin: Wie entsteht Macht? Eine Frage, die das Leben und die Funtionรคrslaufbahn von Groรmutter Saretzka ja exemplarisch vorfรผhrt, einer Frau, die sehr schnell sieht, wie weich und formbar ihre Mitmenschen sind und wie gern sie sich fรผhren lassen.
Nur dass sie nicht verhindern kann, dass ihre eigene Tochter den gescheiterten Studenten Marek heiratet, dem die Groรmutter dann auch noch einen Job als Buchhalter in der Stadtverwaltung besorgen muss. Es ist der Vater der kleinen Saretzka, dessen Abdriften in Esoterik und Wahrsagerei die Tochter miterlebt, aber auch seine Wunderglรคubigkeit und seine Besessenheit davon, in der Welt lauter Zeichen des Untergangs zu sehen, die er akribisch in seinen Kladden festhรคlt. Da mischt sich dann die Verhรคngung des Kriegsrechts in Polen mit den Wundererzรคhlungen um die Madonna, dem Beitritt Polens zur Nato und dem Wirbelsturm Katrina, der New Orleans verwรผstete.
Dass aber selbst seine Esoterik nur Maskerade ist, kriegt die Tochter auch erst weit nach seinem Tod mit. Das ganze letzte Kapitel widmet Dominika Sลowik der Entwirrung der Fรคden. Als wollte sie ihre Leser/-innen partout nicht mit dem klebrigen Gefรผhl entlassen, dass einiges von dem, was die Kindheit ihrer Erzรคhlerin so wundersam gemacht hat, tatsรคchlich mit Zeichen und Wundern zu tun hatte. Und eben nicht mit den ganz gewรถhnlichen Schwรคchen, Tricksereien und Gaunereien der Menschen, die sie in ihrer Geschichte auftreten lรคsst.
Wenn Gerรผchte blรผhen
Denn dass eine Menge Leute ihr Tun und Treiben nur zu gern hinter wilden Mรคrchen verstecken, das ist eben auch nicht nur polnisch. Nur dass die Polen wahrscheinlich dabei mehr Fantasie und Freude am Erzรคhlen beweisen, als die Bewohner sรคchsischer Provinzen, die meist auch gar nicht wissen wollen, wie Macht funktioniert. Nรคmlich รผber Geschichten, die die Mehrheit glaubt und nicht hinterfragt. Was natรผrlich das Hinterfragen so schwer macht, wie es die Erzรคhlerin erlebt. Denn wer von den Mรคrchen profitiert, der verrรคt nichts, was in diesem Fall auch die Freunde Hans und Mischa betrifft.
Den Leuten, die vorm Dorfladen ihre Bierchen trinken, bleiben nur die Gerรผchte, die fรผr bare Mรผnzen genommen werden und sich immer mehr aufblรคhen, geradezu atmosphรคrisch werden, sodass im ganzen Buch permanent auch die faszinierende Gewalt des Wetters eine Rolle spielt โ von Zeichen am Himmel รผber brรผtende Hitze bis zu finsteren Regennรคchten, in denen der Gesang der Schlafwandlerin รผber den Dรคchern zu hรถren ist.
Dass dann das, was tatsรคchlich geschah, in handfesten Akten steckt, die entweder am Haus des reichen Dygbar verbrannt werden oder von Groรmutter Saretzka im Garten vergraben wurden, erinnert durchaus auch an mรคrchenhafte Zeiten im deutschen Osten der Nachโwendeโzeit, als Lebenslegenden aufeinander prallten. Nur dass in diesem Fall auch der umtriebige Priester ein Problem hat, das von einem unerwarteten Erpresser ausgenutzt wurde. Mit tรถdlichen Folgen fรผr einen emsigen Reporter.
Die Wunder der Erinnerung
Aber all das weiร die Erzรคhlerin ja noch nicht, als die Dinge passieren. Mehr als Ahnungen hat sie nicht und das Meiste fรผgt sich erst in der Rรผckschau zusammen. Die auch ein Abschied ist. Denn damit endet tatsรคchlich das wundersame Zuckrowka ihrer Kindheit. Das Stรคdtchen hat keine Geheimnisse mehr. Die Dinge sind an ihren Ort gerรผckt, die faszinierenden Geschichten haben sich in der Realitรคt aufgelรถst.
Zumindest beinah. Denn was bleibt, ist natรผrlich die Verstรถrung der Erwachsenen, die die alten Wunder ihrer Kindheit dekonstruieren kann โ aber sich selbst nicht aus der Geschichte entfernen kann. Denn auch die falsch erfahrenen Geschichten prรคgen uns, formen und verbinden uns mit der Vergangenheit. Selbst dann, wenn die Anderen, die dabei waren, sich vรถllig anders erinnern.
So wie an den Tag, als die beiden Mรคdchen von einem schwitzenden Zauberer zersรคgt wurden. Dem Tag, an dem mรถglicherweise alles begann. Aber auch das kann ja ein Irrtum sein, wie die Erzรคhlerin am Ende feststellt. โHatten die รrzte recht gehabt und Magda Dygnar hatte wirklich die ganze Zeit nur so getan, als ob? Hatte sie uns von Anfang an an der Nase herumgefรผhrt? Nein, das kann einfach nicht sein.โ
Wer hat also die Fรคden in der Hand? Und wann beginnen Geschichten? Wenn andere den ersten Stein bewegen oder wenn wir zufรคllig hineingeraten und nicht merken, dass wir gar nicht die Hauptdarsteller sind?
Trรผgerische Erinnerungen
Fรผr die Erzรคhlerin ist am Ende โendlich alles an seinem Ortโ. Das ist dann wahrscheinlich die grรถรte Fiktion in der Geschichte, auch wenn man ihre Mรผhsal teilt, wie sie die traumhaften Verwirrungen der Vergangenheit sortiert und in die richtige Ordnung zu bringen versucht. Etwas, was wir ja alle tun, auch wenn wir dabei wissen, dass noch jede Menge Erinnerungen รผbrig bleiben, die nirgendwo richtig hineinpassen. So geht es eigentlich auch Dominika Sลowik, die hier auf รผber 400 Seiten mit einer Gewissheit spielt, die sich die meisten Menschen nur einbilden: der Gewissheit, sie wรผrden sich richtig an alles erinnern und kรถnnten sich deshalb auf ihre Erinnerungen verlassen.
Aber das trรผgt sogar bei ganzen Nationen. Ganz zu schweigen von den Bewohnern all der Provinzen, die lieber an Wunder und Mรคrchen glauben als an die Tricks und Machenschaften der Leute, die sie atemlos dafรผr bewundern, wie sie zu Reichtum und Einfluss kommen. Natรผrlich durch wundersame Krรคfte, was denn sonst?
Aber dieses Zuckrowka kommt einem in vielen Belangen so vertraut vor, dass man fast geneigt wรคre, das Vorbild irgendwo in der sรคchsischen Provinz zu suchen. Das winddurchwehte Gewerbegebiet wird man dort genauso finden wie das heruntergewirtschaftete Fabrikgebรคude, das einst mit frรถhlichem Hรคndeschlag an einen Retter und Investor verkauft wurde. Was bleibt also noch, wenn die Zukunft schon Vergangenheit ist? Natรผrlich: ordentlich mรคrchenhafte Geschichten รผber eine Zeit, als noch Wunder passierten und die Jugendclique sich auf dem Berg noch zum Rauchen traf.
Dominika Sลowik โTal der Wunderโ, Katapult Verlag, Greifswald 2022, 26 Euro.
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