Kinder können explodieren, regelrecht in die Luft gehen, in Schreikrämpfe aus reinster Verzweiflung geraten, und das nur, weil sie auf einmal zwischen verschiedenen Dingen, die beide toll sind, wählen sollen. Oder sich überhaupt entscheiden sollen – und dann merken, was für eine schreckliche Herausforderung das ist: sich entscheiden zu müssen.

Das ist übrigens auch der Zucker, mit dem eine entfesselte Konsumwelt Erwachsenen suggeriert, sie müssten sich gar nicht entscheiden, sondern nur zugreifen und alles in den Korb packen, was sie von rechts und links aus den Regalen anlächelt. Wir leben in einer Gesellschaft, die permanent neue Wünsche erzeugt und gleichzeitig allen Teilnehmern des Zirkusses einredet, sie könnten auch alles haben, und zwar sofort und gleichzeitig.

Was natürlich alle, die das tatsächlich glauben, zutiefst unglücklich macht – unglücklich in einem Meer von „Glücklichmachern“. Und sie wissen nicht, wie sie da wieder rauskommen. Denn dazu müsste man sich entscheiden. Und zwar für eins. Und nur für eins.

Und Eltern tun gut daran, ihren Kindern schon früh die Kraft und das Selbstbewusstsein mitzugeben, sich immer nur für eins zu entscheiden. Und das dann richtig. Und das dann auch durchziehen. Ohne noch lange zu jammern, dass man nun das andere nicht haben kann.

Genau darum geht es in diesem großen Bilderbuch von Juliane Pieper, auch wenn es richtig lustig daherkommt. Denn natürlich ist die Welt der Kinder lustig und phantasievoll. Sie lieben das Spiel mit den Möglichkeiten und Übertreibungen. Ihre Phantasiemaschine funktioniert noch tadellos.

Quallen-Eierkuchen oder Stinkesocken?

Und deshalb entstehen in ihren Köpfen ganze Welten, wenn man ihnen nur die richtigen Stichworte liefert. Waldhorntorte zum Beispiel oder Buchstabensuppe. Damit geht es nämlich los: der bunten Welt unseres Essens und der Frage: Was möchtest du essen? Quallen-Eierkuchen vielleicht oder doch lieber Stinkesocken oder Wuselwurmpasta?

Was natürlich besonders schwierig wird zu entscheiden, wenn auch noch Gummibärchen und Donuts zur Auswahl stehen. Und nicht viel leichter wird die Entscheidung, wenn es um den Urlaub geht – lieber zu Tante Frieda oder doch eher in den Dschungel oder in „ein merkwürdiges Hotel“?

Beim Aussuchen der richtigen Socken kann das Drama ja genauso munter weitergehen wie bei der Auswahl des richtigen Haustiers oder der fast unmöglichen Entscheidung, wie man sich nun die nächste Langeweile vertreiben will.

Oder will man sich doch lieber richtig schön langweilen? Entscheidungen können so schwer sein. Erst recht, wenn man ganz viele Einfälle hat und dann einfach nicht weiß, welchen man nun nehmen soll. Denn dieses Gefühl, dass man dann vielleicht den besten Einfall doch verpasst, ist ja immer mit dabei.

Und das lässt auch viele Erwachsene nicht los, die immerfort vor einem Berg von lauter faszinierenden Wahlmöglichkeiten stehen – und dann doch über das Zögern und Zaudern nicht hinauskommen. Und statt dann wenigstens das (vielleicht) Zweit- oder Drittbeste ausprobiert zu haben, bleiben sie bei der schlechtesten Entscheidung stecken – sich nämlich für gar nichts entscheiden zu können.

Wer sich nicht entscheidet, lebt nicht

Aber wer sich nicht entscheidet, erlebt nichts und entdeckt nichts. Der erfährt auch nie, was in ihm selber steckt, was man schafft und wo man vielleicht doch lieber beim nächsten Mal die Finger von lässt. Denn das steckt ja in der Idee zu diesem Buch: Dass unser Leben erst unser Leben wird, wenn wir den Mut finden, uns zu entscheiden.

Wobei ja die Entscheidungen für kleine Kinder noch nicht so weltumstürzend sind, zumindest aus der Perspektive der Großen. Aber wenn es eben nicht egal ist, was auf den Teller kommt oder wie man zu Bett gebracht wird, dann ist es trotzdem eine große Entscheidung, die die ganz großen Entscheidungen von später vorwegnimmt.

So übt man ja, sich zu trauen, einfach mal eine bestimmte Sache zu wollen. Vielleicht morgen auch wieder und übermorgen. Auch so wird man Stück um Stück ein eigenes Ich, weiß, was man will. Und die anderen merken sich das dann auch und man bekommt es immer wieder.

Zum Beispiel das Lieblingsbuch vorgelesen bekommen. Oder man wird tatsächlich verschont mit Dingen, die man einfach nur peinlich und katastrophal findet. Denn zu dem, was man will, gehört ja auch das, was man nicht will.

Entscheidungen nimmt einem keiner ab

Und wenn man das mit lauter witzigen Bildern so vor sich sieht, bekommt ja das ganze Chaos im Kopf einen Sinn. Man kann seinen Spaß haben und sich auch für die verrücktesten Dinge im Buch entscheiden. Das hat ja keine Folgen. Aber es ermutigt, auch sonst im ganz verrückten Leben anzufangen, sich etwas mutiger zu entscheiden.

Auch wenn man vorher nie weiß, wie es am Ende ausgeht. Oft ist es ja die blanke Vorstellung von dem, was vielleicht passieren könnte, die uns zögern und zaudern lässt. Obwohl es viel weniger kräftezehrend wäre, wenn wir es einfach mal ausprobieren, nachzuschauen, was dann kommt.

Und wenn man sich dann als Knirps so umschaut, wird man auch merken, dass es vielen Erwachsenen genauso geht. Wahrscheinlich weil ihnen, als sie Kind waren, keiner Mut gemacht hat, sich zu entscheiden. Und dann fühlen sie sich natürlich wie nicht abgeholt, weil ihnen das keiner abnimmt, einfach eine Entscheidung zu treffen.

Man kann nie früh genug anfangen, das zu lernen. Denn erst so lernt man sich auch kennen, denn am Ende ist man genau das, wozu man sich in seinem Leben entschieden hat. Bis auf die, die sich immer nicht getraut haben, sich zu entscheiden. Das werden dann in der Regel Trauerklöße, Jammerbolzen und Immer-sind-die-anderen-Schulds.

So kann man sein Leben natürlich auch verpassen. Das bekommt man nämlich nur, wenn man sich traut, sich für das eine oder das andere zu entscheiden.

Erstaunlich, was für ein wichtiges Buch das ist. Obwohl es so bunt und chaotisch ist.

Juliane Pieper Such aus!, Klett Buchverlag, Leipzig 2022, 15 Uhr.

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