Ob Dietrich Bonhoeffer am Ende selbst bereut hat, dass er die Botschaft des Neuen Testaments so radikal friedlich ausgelegt hat, wie es in seiner 1937 veröffentlichten „Nachfolge“ zu lesen ist? Immerhin wusste er da doch schon längst um die Brutalität des Hitler-Regimes, das auch die Friedlichen im Land drangsalierte, verfolgte und am Ende auch umbrachte.
Widersprüche (nicht nur) unserer Zeit
Gerade Bonhoeffers Zeilen zu „Selig sind die Friedfertigen“ lesen sich mit den Grauen des Ukraine-Krieges im Hintergrund geradezu seltsam. Wo ist in dieser Welt eigentlich Platz für so eine radikale Friedfertigkeit, wenn man sich gegen die Kriege der Autokraten nicht mit allen Mitteln verteidigt?
Das Problem steckt durchaus in der Bibel. Und in unseren Köpfen. Dazu muss man sich nur die ganze völlig eskalierte Diskussion der letzten Tage vor Augen führen, wer da nun eigentlich in den vergangenen 20 oder 30 Jahren gegenüber Russland und Putin etwas falsch gemacht habe und damit an den Pranger gehöre.
Die Leute, die das meist lautstark fordern, waren zuvor meist diejenigen, die gerade das Gegenteil gefordert haben. Und letztlich erzählt auch das Neue Testament von diesen Widersprüchen. Jeder kann darin den Jesus finden, der ihm verständlicher und näher ist.
Radikale Friedfertigkeit
Man denke nur an die beiden jüngsten Interpretationen von Georg Magirius und Fabian Vogt. Beide finden beim aufmerksamen Lesen der Bibel einen ganz anderen Jesus als den strengen und ziemlich unerbittlichen, den Dietrich Bonhoeffer fand, als er für den Finkenwalder Vikarskurs Vorträge über die Bergpredigt hielt, aus denen dann dieses Buch hervorging, das den Gläubigen eine Handreichung für die Fastenzeit geben soll. Eine Handreichung, die ihnen diesen Jesus, seine Botschaft und auch seine Strenge nahe bringen sollen.
Eine Strenge, die für Bonhoeffer auch eine Radikalität des christlichen Lebens bedeutet. Keine Auslegungen, kein Ausweichen, kein Nicht-Gehorchen, wenn der Jesus der Bibel die Menschen aufruft, ihm nachzufolgen. Und zwar gleich. Nicht erst noch Geschäfte zu Ende bringen, Väter beerdigen und was sonst noch so zu tun ist, bevor man sich ganz dem Prediger anschließt.
Wobei die Seminare in Finkenwalde die versammelten Vikare fasziniert haben müssen, so wie Bonhoeffers Unbedingtheit ebenfalls. Denn natürlich war so etwas trotzdem ein geradezu oppositioneller Ort in einem Land, in dem ein aufgeblasener Führer ständig von göttlicher Führung, Vorsehung und Berufung schwafelte und ein Großteil der deutschen Pastoren das Hitlertum auch noch von der Kanzel predigte. Was dann mit der Botschaft des Neuen Testaments tatsächlich nichts mehr zu tun hatte.
Und was natürlich auch erklärt, wie radikal Bonhoeffer die Sache mit den Friedfertigen auslegte: „Die Jünger Jesu halten Frieden, indem sie lieber selbst leiden, als dass sie einem anderen Leid tun, sie bewahren Gemeinschaft, wo der andere sie bricht, sie verzichten auf Selbstbehauptung und halten dem Hass und Unrecht stille.“
Wo sind die Grenzen der Friedfertigkeit?
Keine Frage, dass sich nicht nur die deutsche Regierung gegenüber dem autokratischen Russland in den letzten Jahren genau so verhalten hat. Auch wenn man eigentlich mit Michail Gorbatschow und Willy Brandt gelernt hatte, dass man den Frieden tatsächlich wahrt, wenn man miteinander redet und handelt und lieber nicht droht und aufrüstet.
Aber zur Wahrheit gehört eben auch, dass Hitler nicht durch die Friedfertigen besiegt wurde, sondern durch Länder, die bereit waren, das Böse mit Waffengewalt zu bekämpfen.
War Bonhoeffers Botschaft also die falsche? War sie wohl eher nicht. Denn natürlich lesen sich seine Sätze auch völlig anders, wenn man sich vergegenwärtigt, dass von den meisten deutschen Kanzeln damals völlig andere – nämlich kriegerische und hasserfüllte – Töne zu hören waren. Und dass diese vom Krieg besoffene Deutsche Kirche nichts so sehr verunglimpfte wie Pazifisten und Gewaltverweigerer.
Da klingt es dann auf einmal wie ein Affront, wenn Bonhoeffer schreibt: „So sind sie Stifter göttlichen Friedens mitten in einer Welt des Hasses und Krieges. Nirgends aber wird ihr Frieden größer sein als dort, wo sie den Bösen in Frieden begegnen und vor ihnen zum Leiden bereit sind.“
Das war sowohl ein Affront gegen die auf einmal säbelrasselnde Kirche mit ihren kriegslüsternen Pastoren. Und einer gegen die herrschenden Nationalsozialisten sowieso. Weshalb die Seminare in Finkenwalde sehr bald wieder ein Ende fanden und Bonhoeffer, bevor ihn die Nazis verhaften, auch schon Predigtverbot bekam. Denn genau in diese Radikalität war auch die Botschaft des Friedens auf einmal zutiefst subversiv, denn sie stellte den gewalttätigen Kern des NS-Reiches vollkommen infrage. Und nicht nur den.
Wer ist eigentlich mein Nächster?
Denn die Denkweise, aus der sich autokratische Regime speisen, ist ja vorher schon da. Sie giert immer nach der Macht, denn sie ist zu Kompromissen und Frieden nicht fähig. Sie lebt von Gefühlen des Zorns, der Verachtung und dem Willen zur Vernichtung. Man schaue sich nur um in den völlig entfesselten Debatten in einigen a-sozialen Netzwerken.
Und genau dagegen predigte ja Jesus auch an. Bonhoeffer beschäftigt sich sehr ausgiebig mit dessen Ausspruch „Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig …“ Denn genau hier geht es um die Frage, worum es eigentlich geht, wenn einer seinen Nächsten lieben soll.
„Jeder Zorn richtet sich gegen das Leben der Anderen, er gönnt ihm das Leben nicht, er trachtet nach seiner Vernichtung“, schreibt Bonhoeffer. Der sehr wohl wusste, dass alles Verzeihen und Vergeben nur Schein ist, Maskerade, wenn wir den Zorn nicht loslassen können, wenn wir immer noch etwas gutgemacht haben wollen, anderen etwas neiden, nicht loslassen können von unseren Verärgerungen und dem Gefühl, zu kurz gekommen zu sein.
Natürlich klingt das wirklich radikal, denn das heißt ja im realen Leben, wirklich alles herzugeben bereit zu sein, auf nichts ein Recht haben zu wollen, bereitwillig in Armut zu leben. Oder gar in Zwiespalt zu geraten wie der reiche Jüngling, der alles tut, wie es in den Geboten geschrieben steht. Aber den radikalen Schritt, den Jesus ihm ans Herz legt, all seine Güter zu verkaufen, den Erlös den Armen zu schenken und dann in Armut mit Jesus und den Jüngern zu ziehen, den kann er nicht gehen.
Geplagt von den Gütern der Welt
Aus Bonhoeffers Perspektive versagt der Jüngling hier, ist nicht bereit, Jesus bedingungslos nachzufolgen. Aber tatsächlich beschreiben gerade diese Gleichnisse das Dilemma, in dem Menschen immer leben. Jemand muss die Äcker bestellen, damit die Jünger dann auch Brot bekommen, wenn sie um welches bitten. Die Vögel im Himmel mögen sich nähren, ohne sich dafür schinden zu müssen.
Aber gerade die Konsequenz, mit der Bonhoeffer den Sinn der Jesus-Sprüche analysiert, macht – je weiter man sich in diese Fastentage hineinliest – umso deutlicher, dass eigentlich die ganze Zeit vom Zwiespalt unserer Gefühle die Rede ist. Und dass man, wenn man wirklich nach friedlichen Geboten leben möchte, überhaupt erst einmal klaren Auges sehen muss, wie wir leben und wirtschaften. Und wie uns die Güter der Welt immerfort ablenken und beschäftigt halten, sodass für die Liebe zum Nächsten (und uns selbst) eigentlich kein Freiraum bleibt.
Was klar wird, wenn Bonhoeffer genau diesen Passus mit den „Vögeln im Himmel“ interpretiert, die nicht säen und nicht ernten. Und sich so auch nicht sorgen, wie Jesus meint. Der augenscheinlich ein ziemlich schlechter Vogelbeobachter war. Aber das ist auch egal, genauso wie die Lilien im Felde und das Gras auf dem Felde.
Es sind Gleichnisse. Aber es geht um uns. Und da sieht Bonhoeffer eben auch schon da, was heute ebenso viele Menschen in Panik versetzt, wenn auch nur das Wort „Verzicht“ in den Raum geworfen wird: „Die Güter spiegeln dem menschlichen Herzen vor, ihm Sicherheit und Sorglosigkeit zu geben; aber in Wahrheit verursachen sie gerade erst die Sorge. Das Herz, das sich an die Güter hängt, empfängt mit ihnen die erstickende Last der Sorge. Die Sorge schafft die Schätze, und die Schätze schaffen wieder die Sorge. Wir wollen unser Leben durch Güter sichern, wir wollen durch Sorge sorglos werden; aber in Wahrheit erweist sich das Gegenteil.“
Das maßlose Besitzenmüssen
Man ahnt schon, was für gepfefferte Reden Bonhoeffer heutzutage halten würde. Und zwar deutlich heftigere als Franz Alt, denn dass es diese „Sorge“ um Besitz und Gut ist, die die Menschen geradezu blind einem falschen Wohlstandsdenken nachrennen lässt, dessen Maßlosigkeit unsere Lebensgrundlagen zerstört, das war Bonhoeffer schon 1937 klar.
Und wahrscheinlich auch diesem Jesus, auch wenn zu dessen Zeit derartige Besessenheit vom Besitzen noch nicht zur Gefährdung unserer Lebensgrundlagen wurde. Dass es Menschen freilich damals auch schon herzlos agieren ließ, das war offenkundig. Und dass sie deshalb eben auch nicht friedfertig waren, sprang diesem Burschen ins Auge.
Eigentlich macht auch Bonhoeffer mit seinen Interpretationen deutlich, dass es – bei aller Radikalität – erst einmal darum geht, die Radikalität dessen, was dieser Jesus ansprach, überhaupt zu verstehen. Denn wenn wir nicht mal wissen, wer eigentlich unser Nächster ist, werden wir auch nie danach handeln.
Und auch nie gelassen werden, unser Leben so annehmen, wie es uns geschenkt ist. Was dann bei Bonhoeffer natürlich gerade in der thematisierten Karwoche zu einem „sein Kreuz auf sich nehmen“ wird. Was für ihn auch mit der falschen Sorge zu tun hat, mit der wir uns alle zum Narren halten lassen.
Denn es stimmt ja – jeder Werbeblock haut es uns mit schrillen Tönen um die Ohren, dass wir uns nicht genug um das Morgen sorgen, nie die richtige Versicherung haben, nicht den richtigen Bausparvertrag, nicht die richtige Rentenvorsorge. Unser ganzes Denken ist vollgestopft mit falschen und verlogenen Sorgen um das Morgen.
„Wir können gar nicht sorgen“, schreibt Bonhoeffer. „Der nächste Tag, die nächste Stunde ist uns gänzlich entnommen. Es ist sinnlos, so zu tun, als könnten wir überhaupt sorgen.“
Was dann Bonhoeffer zu dem Satz bringt: „Wir können ja an den Zuständen der Welt nichts ändern.“ Das könne nur Gott.
Was wären wir ohne unsere Sorgen?
Aber gerade, weil es Bonhoeffer so radikal interpretiert, merkt man: Auch in dieser Radikalität ist es nicht wirklich lebbar. Natürlich können wir an den Zuständen in der Welt etwas ändern. Zum Guten und zum Schlechten hin. Und wir sorgen uns trotzdem, weil wir gar nicht anders können.
Aber die wunde Stelle, die Bonhoeffer hier berührt, ist unsere verstopfte Zukunft, die wir mit lauter Ängsten und Sorgen zugepackt haben, all den Quälgeistern, von denen wir denken, wir brauchen sie unbedingt, obwohl sie unser Leben nur belasten und uns die Zuversicht nehmen auf das, was morgen kommt. Es wird ja nicht nur Plage sein, auch wenn Jesus meint, jeder Tag habe seine Plage.
Hat er nicht.
Aber gerade deshalb fordern einen Bonhoeffers Gedanken über Fasten- und Osterzeit heraus. Weil er die Forderungen seines Jesus radikal zu Ende denkt und auch ihre Unerbittlichkeit zeigt. Wohl wissend, dass die meisten Menschen nicht einfach alles stehen und liegen lassen können, um einem begnadeten Prediger nachzufolgen. Die „Armen und Elenden“ spricht Bonhoeffer ja sogar an, für die ein Spruch wie „Sorget nicht für den anderen Morgen“ wie Hohn klingen dürfte.
Aber was ändert sich wirklich, wenn wir aufhören, uns ständig um das Morgen zu sorgen?
Die Folge wäre ja, wir lebten mehr im Heute und hätten auch mehr Zeit und Aufmerksamkeit füreinander und auch für uns selbst. Wir wären weniger außer uns und würden wohl auch weniger panisch Schätze anhäufen, deren Anhäufen uns im Laufrad rennen lässt wie die Hamster.
Ein Zwiespalt, der zu uns gehört
Es ist schon erstaunlich, wie man diese Bonhoefferschen Texte von 1937 mit heutigen Augen lesen kann, wahrscheinlich genauso herausgefordert von ihrer Radikalität, wie es die Vikare 1935 in Finkenwalde waren. Denn tatsächlich legen sie offen, in welcher Widersprüchlichkeit wir alle leben – und dass wir alle jeden Tag für uns die Entscheidung treffen, ob wir wirklich friedfertig sein möchten und aufmerksam für uns und unsere Nächsten. Oder völlig außer uns, voller Zorn und Angst vor dem Morgen.
Und wie wir uns verhalten in der Welt, wenn die radikale Friedfertigkeit die Mächtigen zwar ärgert, aber nicht bremst in ihrem Tun.
Man kann die ganzen Antworten, die Jesus gibt und die Dietrich Bonhoeffer nur radikal interpretiert, auch als etwas Anderes lesen: als eine Abgabe von Verantwortung zurück an den Fragenden. Denn das hat dieser Jesus nur zu gern und immer wieder getan: Den Fragenden ihre Fragen zurückgegeben. Denk selber nach. Die Lösung liegt in deinem Kopf.
Das Neue Testament also als Aufforderung zur eigenen Verantwortung lesen? Das wäre spannend. Hatte der reiche Jüngling ein schlechtes Gewissen, als er Jesus so radikal nicht folgen wollte? Oder war er nur traurig darüber, dass es im Leben der meisten Menschen keine eindeutigen Antworten gibt, sondern immer nur bedingte, die uns aus unseren Umständen nicht lösen, uns aber täglich mit der durchaus herausfordernden Frage konfrontieren, welche Handlungsweise jetzt die richtige ist, die menschlichste? Denn manchmal muss man auch kämpfen für seine Nächsten. Und meistens wissen wir das nämlich sehr genau, wer unsere Nächsten sind.
Ein kleiner Abspann erzählt dann noch die Entstehungsumstände der in „Nachfolge“ veröffentlichten Texte im Predigerseminar in Finkenwalde – bebildert mit Fotos in dieser Zeit, die Bonhoeffer und die versammelten Vikare zeigen.
Dietrich Bonhoeffer Der Fastenbegleiter – Nachfolge, St. Benno Verlag, Leipzig 2022, 14,95 Euro.
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