Es ist eine verflixte Geschichte, auch eine tragische, die Carl-Christian Elze in seinem Romandebรผt erzรคhlt. Und es ist nicht die Geschichte, die der Klappentext verspricht โ die Geschichte eines โfast erwachsenen Kindesโ und seines Wunsches โein anderer zu seinโ. Klar, den Wunsch haben viele, wenn sie 17 sind. Aber eigentlich steckt eine andere Frage dahinter.
Schein und Sein des spieรigen Kleinbรผrgertums
Eine, die sich tatsรคchlich viele nicht beantworten. Es ist die Frage โWer bin ich?โ, die zwangslรคufig auch die Frage โWer mรถchte ich sein?โ einschlieรt.
Aber da frage mal wer mit 17 und finde jemanden, der einem das sagen kann. Schon gar in so einer Familie, in der der โHeldโ der Geschichte aufwรคchst, Mutter, Gerd und Sohnemann. So eine richtige kleinbรผrgerliche Familie mit Garagenstolz und schรถnem Schein. Aber ganz offensichtlich unfรคhig, miteinander zu sprechen.
Denn scheinbar ist es nur Freudenberg selbst, dieser Sohn, der โnur gezwungenermaรen mit der Umweltโ spricht. Aber was man von den Kontaktanbahnungen seiner Mutter und seines Vaters, der in dem Moment, als er vom Sohn nur noch mit Gerd angesprochen werden mรถchte, nur noch fremder wird, erfahren kann, ist geradezu grenzwertig.
Sprachlosigkeit in schรถnem Familienidyll
Obwohl: wahrscheinlich ist es auch sehr verbreitet. Familien, in denen schon frรผhzeitig etwas grรผndlich schiefgelaufen ist, als hรคtten sie alle nur ein mรผhsam aufrechterhaltenes Selbstbewusstsein, eine Fassade, die gegenรผber der Mitwelt aufrechterhalten werden muss. Was im letzten Teil des Buches eine zentrale Rolle spielt, als Gerd alles deichselt, damit die Nachbarn im Dorf, von denen er โ wenn die Wahrheit ans Tageslicht kรคme โ geradezu die existenzielle Vernichtung erwartet, ja nicht erfahren, was Freudenberg tatsรคchlich getan hat. Oder auch nicht. Denn was wirklich passiert ist, will auch er nicht wissen.
Haben Kinder รผberhaupt die Chance, erwachsen zu werden, wenn es nicht mal ihre Eltern sind? Wenn am Abendbrottisch verkrampftes Schweigen herrscht, weil keiner sich traut, auch nur das Allernotwendigste zu sagen?
Es ist eine vertrackte Geschichte, weil sie mit Freudenberg einen jungen Mann in den Mittelpunkt stellt, der รผberhaupt nicht davon trรคumt, ein anderer zu sein. Dass er dann in die Klamotten eines verunglรผckten polnischen Jugendlichen schlรผpft, passiert ihm eher, als dass er damit irgendeinen Plan verbindet. Er stolpert hinein in die Geschichte, merkt schon beim ersten Davonlaufen, dass er jetzt wohl etwas fรผrchterlich Falsches getan hat โ und kann nicht mehr zurรผck.
Kรถnnte er natรผrlich trotzdem. Aber genau das hat er nicht gelernt. Denn zu einem Ich wird man ja ernst, wenn man anfรคngt, sich das Recht zu nehmen, ein Ich zu sein. Sich also zu zeigen und auszuhalten, dass auch die eigenen Eltern damit nicht glรผcklich sind. Wobei das oft trรผgt. Denn dieses familiรคre Schweigen, das man in Elzes Schilderungen atmosphรคrisch erleben kann, erzรคhlt von drei Menschen an einem Tisch, die sich allesamt nicht trauen, aus der Deckung zu kommen.
Schรถnes Familienleben.
Aber wahrscheinlich in vielen Familien der Normalzustand eines schรถnen Scheins, in dem das, was die Nachbarn schwatzen kรถnnten, immer viel wichtiger ist als das, was einen selbst bewegt, durchglรผht und umtreibt. Weshalb so viele (wahrscheinlich nicht nur deutsche) Provinzen so piefig, verklemmt, verlogen und stockkonservativ sind. Locker schon gar nicht. Nirgendwo ist der Druck, eine erwartete Rolle zu spielen, grรถรer.
Ein Leben ohne Inhalt
Selbst bei dem, was man so an jugendlichen Ausbruchsversuchen kennt. Nur hat dieser Freudenberg, dessen Vorname praktisch erst ganz am Ende wie beilรคufig fรคllt, keine Freunde, kein eigenes Leben jenseits seines langweiligen Kinderzimmers und der Sprachlosigkeit im Umgang mit den Eltern. Er ist nicht einmal er selbst, scheint sich auch selbst bis fast zum Schluss als Freudenberg zu denken, ein Schauspieler in einer fremden Rolle โ von Anfang an.
Wer so durchs Leben geht, wird natรผrlich zum Spielball, gerรคt in Ereignisse, die er nicht beherrscht. In peinliche Situationen sowieso, weil so ein Leben durch Peinlichkeiten strukturiert wird. Denn darin ist alles, was einen den Blicken Anderer aussetzt โ also nackt dastehen lรคsst โ peinlich. Fรผr manchen heiรt das: ein Leben lang Rollenspiel, der Versuch, eine Maske auszufรผllen, in der man sich immerzu unpassend, zu klein, falsch vorkommt. Als maรte man sich etwas an, was einem nicht zusteht.
Denn eigentlich geht es ja in diesem verflixten 17. Jahr darum, sich selbst zu finden. Und das aus sich zu machen, was in einem steckt. Das ist kein leichter Prozess. Das wissen ja alle, die es durchgestanden haben โ samt den heftigen Konflikten mit Eltern, die sich โmaรlos enttรคuschtโ zeigten.
Aber Freudenbergs Eltern kรถnnen ja nicht einmal diese Enttรคuschung zeigen, sie รผberspielen sie. Das Aufrechterhalten der Fassade ist wichtiger, auch wenn gerade Freudenbergs Mutter am Ende Gefรผhle offenbart. Nicht nur die einer heftigen Trauer um den fรผr tot gehaltenen Sohn, sondern auch der Wut und der Verbitterung. Denn dass dieser Heimgekehrte nicht mal erzรคhlen kann, warum ihm das passiert ist, das รผberfordert endgรผltig ihre Krรคfte.
Leben wie ein Avatar
Es geht nicht nur um diesen jungen Mann, der auch am Ende nicht herauskommt aus seiner Sprachlosigkeit. Die eben nicht nur fehlende Fรคhigkeit zum Kommunizieren ist, sondern auch โ das erzรคhlen dann die letzten Szenen aus der Metallfabrik โ unfรคhig ist, sich selbst zu schรผtzen. Als spielte er gar keine Rolle in dieser Welt, als wรคre da eine nicht zu รผberwindende Distanz zwischen dem, was er mit den Sinnen aufnimmt, und dem, was dann als Botschaft im Kรถrper ankommt. Als wรคre er nur ein Avatar, so wie in dem Spiel, das er auf der Seebrรผcke an der Ostsee spielt, wo er seinen virtuellen Rennfahrer Mal um Mal verunglรผcken lรคsst, wรคhrend das virtuelle Publikum jubelt.
Eine Szene, die man nicht รผberlesen kann, weil sie die Geschichte, die Elze erzรคhlt, mit der Wirklichkeit unserer Zeit verbindet, in der immer mehr (junge) Menschen abtauchen in virtuelle Welten, dort ihre โAbenteuerโ erleben und ihre Vorstellungen entwickeln von Resonanz, wรคhrend sie in der realen Welt immer schlechter kommunizieren und ihre Gefรผhle zum Ausruck bringen kรถnnen. Und sich manchmal auch genauso benehmen, als hรคtten sie einen ganzen Vorrat von Leben, die sie โverballernโ kรถnnen.
Als wรคre es die Mรผhe nicht wert, sich um das eigene รberleben zu sorgen.
Das Ergebnis: Ein Leben, in dem andere die Regeln bestimmen. Solche wie Gerd, der die Dinge am liebsten allein โregeltโ. Weil er weiร, wie man โalles richtigโ macht und daraus auch ganz unรผbersehbar seine gewรคhlte Gerd-Rolle spielt. Letztlich emotional deutlich auf Distanz โ zu Frau und Sohn. Und damit eigentlich ein Fremder. So, wie wahrscheinlich viele Kinder ihre Vรคter erlebt haben, auch wenn dieser Typus wie aus dem letzten Jahrhundert zu stammen scheint: stolz darauf, das Regelwerk eines kleinen, geordneten Lebens zu beherrschen.
Undurchdringliche Vaterrollen
Vatertypen, an denen Kinder schon deshalb scheitern mรผssen, weil sie mit dem Menschen dahinter nicht in Berรผhrung kommen kรถnnen. Nur mit dem locker-flockigen Burschen zu tun bekommen, der selbst dann, wenn alle Erwartungen unter seinen Hรคnden zerbrรถselt sind, so tut, als wรคre alles bestens und er hรคtte die Dinge im Griff.
Und da bekommt dieser Freudenberg durch seine Passivitรคt geradezu die Chance in die Hand, das Leben einmal selbst in die Hand zu nehmen โ und er kann sie nicht nutzen. Er ist vรถllig davon รผberfordert. Pustekuchen vom Traum, โein anderer zu seinโ. Da helfen auch die Klamotten des Anderen nichts, wenn man selbst noch nichts ist.
Denn um ein Anderer zu werden, mรผsste man ja selbst erst einmal sein. Was nicht leicht ist, wenn man nie aus den (unausgesprochenen) Erwartungen der Eltern herauskommt, die einen enormen Druck aufbauen kรถnnen, wenn es darum geht, โwas aus dem Jungen einmal werden sollโ. Ein Druck, der umso grรถรer wird, je mehr er im Unausgesprochenen und Vorwurfsvollen bleibt.
Andere Kinder rebellieren dann wirklich und lassen es ordentlich krachen.
Aber nicht einmal das schafft Freudenberg. Denn was man dann mit der Zeit verinnerlicht, wenn man aus dieser Null-Rolle nicht herausfindet, ist eine permanente Scham, das Gefรผhl, nicht genรผgen zu kรถnnen und sich mit allem, was man sagt oder tut, zu entblรถรen. Ja nicht erwischt werden, wird dann zur Lebenshaltung. Obwohl es keine Haltung ist. Denn sie kehrt natรผrlich alle Macht aus dem Leben, schreibt anderen eine Handlungsfรคhigkeit zu, die man selbst nicht fertigbringt. Oder sich nicht zutraut.
Die Retterin, die keine war
Da taucht dann zwar kurz auch eine aufmerksame Maja auf, mit der der so ungeplant in eine andere Rolle Gerutschte dann auch noch so etwas wie ein Liebesabenteuer erlebt. Aber natรผrlich ist es so wie in so vielen sehr deutschen Liebesgeschichten: Die Prinzessinnen kรถnnen die sprachlosen Prinzen nicht retten. Und lassen sie ziemlich schnell allein mit ihrem Weltschmerz, der eigentlich auch nur eine gedankenschwere Nichtanwesenheit ist.
Steckt das wirklich alles in diesem Buch? Vielleicht. Wahrscheinlich wird es jeder Leser mit andere Augen lesen. Mancher wird die kleine, wortarme Welt wiedererkennen, in der so mancher irgendwie erwachsen werden muss. Mancher wird sich auch nur kopfschรผttelnd durcharbeiten, weil dieser Freudenberg so unรผbersehbar viele Situationen verpeilt, in denen er einfach nur beherzt handeln kรถnnte โ nur die tief sitzende Scham hรคlt ihn auch vor den menschlichsten Reaktionen zurรผck.
Und irgendwie ist auch das dumme Gefรผhl immer gegenwรคrtig, dass das ein ziemlich stรถrrisches Abbild eines guten Teils unserer Gesellschaft ist โ mitsamt ihrer Verkleidung, der mรผhsam behaupteten Fassade, die Dinge im Griff zu haben, und der geradezu zum Dogma gewordenen Angst davor, auch nur einmal die Kontrolle รผber die Dinge zu verlieren. Es ist eine Welt, in der man nicht gelassen sein kann. Genau so, im wรถrtlichen Sinn. Immerzu muss eine ziemlich schablonenhafte Erwartung erfรผllt werden.
Eine Gesellschaft, die so stolz darauf ist, alles unter Kontrolle zu haben. Obwohl das die grรถรte, wirkmรคchtigste aller Fiktionen ist.
Nicht-Held im eigenen Leben
Dieser Freudenberg findet eigentlich nie aus der Rolle des Beobachters heraus, als schaue er sich selbst zu bei dem, was ihm da alles passiert. Und das einzige Gefรผhl, das er dann tatsรคchlich als eigenes wahrnimmt, ist die Scham.
Und wรคre da nicht die Vermutung, dass es vielen jungen Menschen so geht, mรผsste man eigentlich verzweifeln an diesem Burschen, dessen fehlende Souverรคnitรคt endgรผltig klar wird, als ihn Gerd letztlich wie beilรคufig mit Maik anspricht, was einen als Leser letztlich nur daran erinnert, dass dieser Nicht-Held eigentlich nicht vorhanden ist in seiner eigenen Geschichte.
Aber was wird aus Menschen, die ihr eigenes Leben nicht im wahrsten Wortsinne erleben?
Eine durchaus berechtigte Frage, die auch mit der Frage nach dem zu tun hat, woraus unsere Freiheit eigentlich besteht. Elze weiร das schon. Denn sein Nicht-Held fรผhlt sich ganz am Ende, nachdem ihn die vรถllige Dunkelheit รผberwรคltigt hat, zum ersten Mal im Leben frei.
Carl-Christian Elze โFreudenbergโ, Edition AZUR, Dresden, Berlin 2022, 20 Euro.
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