Als Bernd-Lutz Lange im Herbst 2021 sein jüngstes Buch veröffentlichte, konnte auch er nicht ahnen, dass ein vom russischen Imperialismus besoffener Natschalnik im Februar 2022 das Nachbarland Ukraine mit einem Vernichtungskrieg überziehen würde. Ein Krieg, der auch Langes „Freie Spitzen“ mit anderen Augen lesen lässt.
Es ist ein Buch, wie es nur ein Kabarettist schreiben kann. Was nichts gegen Sammler von Witzen sagt, die sich emsig um diesen Zündstoff aus Volkes Mund bemühen. Ihre Mühsal ist wichtig. Denn Witze erzählen natürlich von all dem, was in offiziellen Medien nicht steht. Erst recht, wenn diese Medien zensiert sind und an der Spitze Leute regieren, die alles dafür tun, die Regierten dumm und blind zu halten.
Und genau da wird der Witz politisch. „Die lauteste Propaganda, die gängigste Phrase, die raffinierteste Lüge: ein treffender Witz, und sie werden lächerlich gemacht, das Schlimmste, was ihnen passieren kann“, zitiert Bernd-Lutz Lange im Vorwort den Kabarettisten Werner Finck.
Falsche Gewänder
Das funktioniert auch dann, wenn einem das Lachen im Hals steckenbleibt. Und so geht es einem bei vielen der Witze, die Lange im gesamten Ostblock gesammelt hat. Sein Buch ist freilich mehr als eine Rundreise durch all die Länder, die bis 1989 zum Einflussbereich Moskaus gehörten – die UdSSR selbst nicht ausgenommen, der Lange sogar das längste Kapitel widmet.
Denn von hier ging das aus, was es als „Kommunismus“ auch in die Witze geschafft hat. Oder als Illusion desselben, denn wenn Wladimir Putin etwas geschafft hat mit seinem brachialen Krieg gegen die Ukraine (und vorher schon mit den Kriegen gegen Georgien und Tschetschenien), dann ist es die komplette Entlarvung dessen, was 70 Jahre lang als Kommunismus oder Sozialismus bezeichnet wurde, was aber letztlich nie etwas anderes war als ein in falsche Gewänder gewickelter russischer Imperialismus.
Der sich früh auch schon gegen die Ukraine und Polen richtete, später mit Panzern in Ungarn und die Tschechoslowakei einrollte. Was sich in Schauprozessen austobte gegen alle möglichen „Feinde“ des jeweils regierenden „Großen Führers“, der den Staat wie in Geiselhaft hielt und Machtstrukturen etablierte, wie sie heute in Russland wieder in aller Nacktheit zu besichtigen sind. (Hier eine Kolumne von Christian Stöcker im „Spiegel“, die das mal etwas genauer zusammenfasst.)
Die Macht in so einem Staat liegt weder beim Volk noch bei der Partei, die sich regelmäßig zu Schauveranstaltungen trifft, um den Anschein einer Demokratie zu erwecken, sondern bei den mächtigen Männern im Staatsapparat, genauer: dem Sicherheitsapparat – den Silowiki. Männer, die das Machtdenken verinnerlicht haben und den Staat genau so benutzen: als Machtinstrument zur Beherrschung des Volkes. Und die auch von einem besonderen Typus sind, was in Langes Buch erstaunlicherweise an mehreren Stellen diskutiert wird.
Humorlose Macht
Denn an die Macht strebt immer ein ganz besonderer Typus Mann. In der Demokratie übrigens genauso wie in einer waschechten Diktatur: machtbewusst, rücksichtslos, herrschsüchtig, manipulativ. Nicht zu vergessen: gnadenlos humorlos. Doch während demokratische Wahlen es ihnen erschweren, an die Steuerruder der Macht zu kommen (es aber leider nie völlig verhindern können), sind autokratische Systeme das Biotop, in dem sie sich ganz zwangsläufig sammeln.
Es erstaunt schon, dass sich die ganze moderne Diktaturenforschung nie wirklich mit den Strukturen der Macht beschäftigt hat, sondern fast immer auf dem völlig falschen, dem moralischen Gebiet geblieben sind. Als ginge es dabei um „gute“ Demokratie gegen „böse“ Diktatur, und nicht um die Frage, wie man von Macht besessene Männer davon abhalten kann, an die Macht zu kommen und die Gesellschaft in Geiselhaft zu nehmen.
Männer, denen jegliche Empathie abhandengekommen ist, die hart geworden sind. „Zum Glück wurde nur ein kleiner Teil der Menschen in der DDR von Stalins Willen hart, aber wer an solche Leute geraten ist, der konnte alle Hoffnungen fahren lassen …“, schreibt Lange im Kapitel DDR.
Dass sich die Völker des Ostblocks 45 Jahre lang praktisch in Geiselhaft befanden, wird immer klarer, je weiter man sich mit Lange durch die Witze der Völker des Ostens arbeitet. Durch all diese bitterernsten Witze über Mangelwirtschaft und russische Reparationsforderungen, Funktionärsdünkel und eine wie eine Religion zelebrierte „Weltanschauung“, der das Wort „wissenschaftlich“ angepappt wurde, die man aber lieber nicht ernst nahm, sonst drohten einem Gefängnis, Sibirien oder auch Erschießung.
Gefährliche Parteilinien
Und auch wenn viele spätere DDR-Witze geradezu niedlich wirken, verbergen sie dennoch nicht den bitteren Ernst, der dahintersteckte. Und da Lange seine Rundreise mit der Sowjetunion beginnt, startet er natürlich auch mit den bittersten und illusionslosesten Witzen. Denn wenn die Wirklichkeit all den großen Elogen auf die Früchte des Kommunismus radikal widerspricht, bleibt nur noch der Witz, um der beklemmenden Situation wenigstens für den Moment das Niederdrückende zu nehmen.
Erst recht dann, wenn die Situation nicht schizophrener sein kann, wie die vielen Genosse-Popow-Witze zeigen. Denn auch die Genossen waren vor dem willkürlichen Zugriff der Mächtigen nie sicher, wenn sie nicht rechtzeitig mitbekamen, was gerade „Parteilinie“ war.
Was übrigens auch zum verblüffenden Schweigen der kompletten SED-Nomenklatura 1989 beitrug, die ja gerade deshalb sprachunfähig geworden war, weil sie „gelernt“ hatte, dass die Linie von heute schon morgen ein Verbrechen sein konnte, weil der „Große Führer“ mal wieder aus einer Laune heraus den Kurs gewechselt hatte.
Und eigenen Meinungen leistete man sich in den Bruder- und Schwesterparteien lieber nicht. Das führte in der Regel zu Ausschluss, Absturz und Verbannung. Oder nach Bautzen.
Weshalb es ein offenes und klares Sprechen schlichtweg in der Öffentlichkeit nicht mehr gab. Witze erzählte man lieber nur dort, wo man unter Gleichgesinnten war und unliebsame Zuhörer nicht zu erwarten waren. Und natürlich hat Lange recht, wenn er betont, dass auch der politische Witz und das Kabarett ihren Teil dazu beitrugen, das Ende der DDR herbeizuführen.
Denn beides war subversiv, das Kabarett freilich mit behördlicher Genehmigung. Denn bevor die Programme auf die Bühne durften, mussten sie durch die „Abnahme“ durch die Obrigkeit, die im Saal dann den Daumen hob oder auch senkte. Natürlich ein klarer Akt von Zensur, der so nicht genannt wurde.
Geübtes Zwiesprech
Denn Diktaturen leben auch davon, dass sie alles, was sie tun, hinter Worten verstecken. So, wie Putin den von ihm angezettelten Krieg als „Militärische Spezial-Operation“ vernebuliert. Wie Propaganda funktioniert, hat er ja gelernt.
Das gehört zum Standardrepertoire der „Sicherheitsorgane“, der Geheimdienste sowieso: manipulieren, zensieren, Falschinformationen verbreiten, Gegner diskreditieren, „Widerstand zersetzen“ und Menschen zu Marionetten machen, indem man sie dazu bringt, die Propaganda auch noch zu verinnerlichen und als Meinungsfreiheit zu verstehen.
Die Parallelen sind unübersehbar. Und so liegt Lange wohl mit einer Hoffnung falsch: dass mit dem Ende der Sowjetunion auch ein riesiges Reservoir des politischen Witzes versiegte. Denn es sind nun einmal Diktaturen, in denen der politische Witz besonders gedeiht, mit dem in der Regel, die Schwächsten und Wehrlosesten ihre Ohnmacht wenigstens im pointierten Wort überwinden.
Aber die Russen haben es leider nicht geschafft, ihre alten Parasiten loszuwerden. Und es ist damit zu rechnen, dass es auch heute wieder solche Witze gibt wie unter Stalin, Chrustschow und Breshnew, nur dass es wohl derzeit niemanden gibt, der hinfahren und sie einsammeln könnte.
Der verborgene Stalin
Und auch das ist wie damals in Zeiten eines „real existierenden“ Sozialismus, der es einfach nicht schaffte, die Versorgungslage zu stabilisieren und den Verfall der Städte aufzuhalten – was eben nicht nur ein Phänomen in der DDR war, sondern den Polen, Tschechen und Ungarn genauso vertraut.
Nur dass die Ungarn am Ende selbst begannen, den Deckel vom Topf zu nehmen und etwas mehr Freiheit ins Land zu lassen, sodass Ungarn schon lange vor 1989 das beliebteste Reiseziel der DDR-Bürger war.
Aber wenn es darum ging, das Versagen in der so zentralen ökonomischen Frage zu verschleiern, wusste jede Führung in jedem Land, wie es geht: „Deshalb glaubte sie, man müsse nur die ‚Werbung‘ für das System verbessern. Dafür gab es Agitation und Propaganda, und diese beiden Hohlkörper verschlimmerten dann die Bestandsaufnahme und forderten erst recht den Witz des Volkes heraus.“
Zu den Witzen gehört freilich auch das Schweigen, das, was man selbst zu Hause und vor den Kindern nicht sagen konnte. Lange deutet es bei seinen Kindheitserinnerungen aus der Stalin-Zeit zumindest an. Und es stimmt schon, dass der Sozialismus made in GDR in den 1970er und 1980er Jahren zahmer wirkte, nicht so brutal und „hart“ wie in den frühen Jahren der DDR.
Den Stalinismus hatte man drei Jahre nach Stalins Tod zwar klammheimlich abgeräumt, aber tot war er auch in der DDR nie. Er lebte auch dort in den „Sicherheitsorganen“ fort. Und das „Sputnik“-Verbot 1988 machte endgültig klar, dass die führenden Funktionäre der SED ihren Stalin nie wirklich entsorgt oder überwunden hatten.
Manipulierte Wirklichkeiten
Und das hatte nicht nur mit dem Pakt zu tun, den Stalin mit Hitler schloss. Sondern auch mit der Funktionsweise des stalinschen Staates, die dem Osten Deutschlands 1945 übergeholfen und eingebläut wurde. „Stalin lebte immer in Angst vor dem Volk“, stellt Lange fest. Weshalb er auch nie eins der von der Sowjetarmee besetzten Länder bereiste, auch nicht die DDR. „Vielleicht hatte er in jenen Ländern noch mehr Angst vor einem Attentat als zu Hause in Moskau.“
Und nicht nur Stalin hatte eine Mauer um sich errichtet, die ihn für das Volk unangreifbar machte. So lebten auch die anderen Funktionäre in den von Moskau kontrollierten „Volksdemokratien“. Mit dem Ergebnis, dass sie von der Realität des Lebens der Menschen nichts mehr mitbekamen. Etwas, was in vielen Ulbricht-Witzen reflektiert wird.
Witze sind eben nicht nur kleine Formen des Widerstands, der Aufmüpfigkeit und Unbotmäßigkeit – sie enthalten auch jene Wahrheit über real existierende Staatsgebilde, die die staatliche Propaganda am liebsten wegretuschieren und für nicht existent erklären möchte.
Und da lag George Orwell mit seiner utopischen Gesellschaftsbeschreibung in „1984“ eben nicht daneben. Was dort geschildert wird, gehörte von Anfang an zur stalinschen Manipulation der Wirklichkeit – vom Zwiesprech bis hin zum kompletten Ausradieren von in „Ungnade“ gefallenen Genossen.
Und selbst wer in die Bestrafungsmühlen des Apparates geraten war, hielt lieber die Klappe über das, was er dort erlebt hatte. Denn Justizwillkür gehört zum Kernbestand so einer Diktatur. Genauso wie ihre Behauptung, der neue (sozialistische) Mensch müsste erst geschaffen werden. Gesellschaften, die so denken, werden geradezu zwangsläufig zur Dystopie und zur Diktatur. Und die darin lebenden Menschen werden zur Verfügungsmasse, die dann auch kaltblütig in Kriegen verheizt wird.
Der Sieg des Witzes über die Humorlosen
Nur funktionierte das alles am Ende nicht mehr. Die Parteifunktionäre verstanden ihr eigenes Volk nicht mehr, lebten in den Blasen ihrer eigenen Propaganda, und das Volk machte sich längst auf die Socken in den Westen, geistig allemal. Wobei Lange zu Recht daran erinnert, dass der gesamte Ostblock über Jahrzehnte einen Braindrain erlebte: Kritische, gut qualifizierte Menschen wanderten in den Westen ab, wenn sie die Gelegenheit dazu fanden.
Und nach jeder Verfolgungswelle waren es mehr. Von der Vertreibung der Juden durch immer neue antisemitische Aktionen der Parteiführer ganz zu schweigen. Wobei ja gerade die jüdischen Witze mit ihrem doppelten Boden meist das Beste und Schärfste sind, was Lange finden konnte.
Gerade weil er das historische Grundgerüst mitliefert, in dem all die gesammelten Witze ihren Platz finden, zeichnet Bernd-Lutz Lange eine Geschichte des Ostens nach, wie sie so noch nirgendwo aufgeschrieben wurde. Bislang dominieren meist die westlichen Deutungen für den „Zusammenbruch des Ostblocks“, der in Wirklichkeit immer eine Selbstermächtigung der Völker war und ein Sieg der Völker über ihre eigenen Peiniger.
Was auch tiefe Wunden hinterlassen hat. Das wird meist auch vergessen. In Witzen ist es noch bewahrt, sofern die Witze bewahrt wurden. In China muss es sie noch geben, sonst hätte der Staat dort die beliebteste Witze-App nicht abgeschaltet. In Russland wird es sie auch noch geben, bitter und böse.
Wer etwas älter ist, wird sich mit vielen der zitierten Witze zurückversetzt fühlen in eine Zeit, in der diese Witze auch so etwas wie kleine Hilfen in einem grauen Tagesbrei waren, ein Fünkchen Hoffnung, dass man über die scheinbar unveränderliche Zustände doch noch lachen konnte.
Aber auch Erinnerung daran, wie viel man sich verbal lieber verkniff und nicht öffentlich sagte. Das Lachen bleibt einem durchaus oft genug im Halse stecken, weil man damals eben doch über Zustände lachte, die eigentlich nicht auszuhalten waren und einem die Luft zum Atmen nahmen.
Bernd-Lutz Lange Freie Spitzen, Aufbau Verlag, Berlin 2021, 20 Euro.
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