Natürlich erschrickt man beim ersten Hinschauen. Ein Buch, das den Zeitraum 1900 bis 1918 zum Inhalt hat und mit „Flammen“ betitelt ist? Da geht es doch wieder um Krieg, oder? Am Ende ja. Aber tatsächlich zeichnet Volker Hagedorn jenes andere Europa, das mit den Kriegserklärungen von 1914 in Klump geschossen wurde. Und es ist nicht „Die Welt von Gestern“, wie sie Stefan Zweig einmal nennen sollte.

Auch wenn der junge Stefan Zweig am Rand von Hagedorns faszinierender Reise durch die musikalische Revolution, die um 1900 stattfand, am Rande auftaucht. Denn in Wien hat er ja diese Musikrevolution selbst miterlebt.

Und zwar nicht als Teil der alten Welt, die auf den guten Plätzen vorn im Konzertsaal saß und nicht verstehen wollte, was da vor ihren Augen stattfand, als Mahler, Schönberg, Schreker, Strauss, Berg und Elgar mit der alten Beschaulichkeit in der Wiener Musikwelt aufräumten.

So geballt hat man das noch bei keinem Autor gelesen. Wohl auch deshalb, weil das nicht einmal die Musikwissenschaftler für so bemerkenswert hielten. Sie denken selten politisch und sehen deshalb nicht, wie selbst die Musik von den Kräften erzählt, die in einer Gesellschaft toben, die zwischen Nationalismus und Weltoffenheit, Moderne und Rückwärtsgewandtheit, kreativem Austausch und militärischen Eskalationsstrategien zerrissen ist.

Denn das waren die Gesellschaften Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts alle. Ein modernes, mutiges und experimentierfreudiges Zeitalter war möglich. Aber dann zogen die alten Kriegsminister mit grimmiger Miene in den Krieg. In ihren Krieg muss man sagen.

Aber das hat ja schon Christopher Clark in seinem Buch „Die Schlafwandler“ (2012) alles beschrieben.

Es brodelt in den Musikstädten Europas

Volker Hagedorns Welt aber ist die Musik. Er ist nicht nur selbst Musiker (Barockbratscher) und hat bis 1996 als Feuilletonredakteur bei der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ und als Musikredakteur bei der LVZ gearbeitet.

Er hat auch eine faszinierende Begabung dafür, Geschichten zu erzählen und miteinander zu verknüpfen, sodass am Ende tatsächlich eine europäische Musikerzählung draus wird, wenn er einfach nur versucht zu erzählen, was einige der bis heute berühmten Komponisten und Komponistinnen der europäischen Musikavantgarde damals eigentlich so trieben.

Jahr für Jahr. Schicksal um Schicksal, Szene um Szene, so farbenreich, als wäre der Autor als Journalist dabeigewesen und hätte alles emsig mitstenografiert – die Kleidung, die Gespräche, das Wetter, die Stimmung.

Es knistert von Anfang an. Es kommt auch zu den erwartbaren Skandalen, wenn entweder musikalische Rivalitäten auf offener Bühne ausbrechen oder wenn ein Publikum sich mit elementarer Gewalt gegen Unerhörtes und Ungewohntes wehrt.

Nur einen kleinen Moment lang denkt man, da müsste doch eigentlich auch die große, weltbekannte Musikstadt Leipzig auftauchen. Aber das tut sie nicht (bzw. ganz kurz am Rande), obwohl es auch hier die entsprechenden Skandale und Demissionen gab.

Aber die Wahrheit ist auch: In dieser Zeit war Leipzig nicht der Ort, wo sich die neue Musik Bahn brach. Diese Orte hießen tatsächlich eher Wien, Paris, London, Berlin und sogar Moskau. Nicht einmal Prag.

Mit Debussy fing alles an

Und Hagedorn musste sich nicht einmal Zwang antun, all diese Berühmtheiten einander begegnen zu lassen. Denn ihre Begegnungen und Beziehungen sind belegt. Sie nahmen einander alle wahr, reagierten aufeinander, hatten ihre Dissonanzen und Resonanzen.

Und indem Hagedorn teils bis in das oft nicht einfache Privatleben seiner Helden hineinleuchtet, wird eine ganze Welt sichtbar und hörbar, wie sie die Leser/-innen so jedenfalls in der Literatur noch nicht gefunden haben.

Auch wenn es leichte Berührungen zu einer anderen Parallelwelt gibt, die ihre eigene Parallelerzählung verdient hätte – die avantgardistische Literatur dieser Zeit, benannt mit Autoren wie Mallarmé, Krauss oder Majakowski. Es wetterleuchtete an Europas Horizonten.

Doch was genau nahmen all die Komponisten hier eigentlich auf, wofür waren sie eigentlich die Seismographen? Besonders jener Claude Debussy, der am Ende zur zentralen Figur wird und dessen Briefe Hagedorn angeregt haben, sich den großen Komponist/-innen dieser Jahre einmal auf ganz biografische Weise zu nähern.

Anfangs noch auf der Sache nach einer weiblichen Gegenspielerin für den Franzosen, die er dann tatsächlich in der Engländerin Ethel Smyth fand, selbst überrascht, dass sich auch diese beiden begegnet sind. Was der Geschichte dann auch noch eine starke emanzipatorische Note gibt, denn Ethel Smyth (die ja am Leipziger Konservatorium studiert hatte) wurde genau in dieser Zeit eine zentrale Figur der englischen Frauenbewegung, die sich – nachdem die englische Regierung mit Gewalt reagiert hatte – zunehmend radikalisierte.

Aber Hagedorn erzählt keine Karrieregeschichten. Er will gar keine Heldenepen oder gar Geschichten von Stars und von Ruhm. Auch wenn die Besprechungen in den Zeitungen der Hauptstädte immer wieder eine Rolle spielen, weil sie zeigen, wie kompetent oder voreingenommen auch das musikalische Feuilleton reagieren konnte.

Ehedramen und Todesfälle

Ihm sind die persönlichen Schicksale viel wichtiger, die Leiden und Nöte, die ja einige dieser Berühmten auch auszustehen hatten – so wie Mahler, der am Zerbrechen seiner Ehe mit Alma am Ende selbst zerbricht. (Ja, genau jener Alma Mahler, die uns jüngst in der Geschichte um Walter Gropius begegnete, den sie auch just in dem Moment verließ, als er um den Erfolg seiner Bauhaus-Idee kämpfte.)

Und auch Arnold Schönberg hat seinen Ehe-Kummer, ausgelöst durch den jungen Maler Richard Gerstl, der durchaus zu einem berühmten Vertreter der österreichischen Avantgarde-Malerei hätte werden können – hätte er sich nicht nach der Affäre mit Schönbergs Frau Mathilde das Leben genommen.

Nicht der einzige Todesfall, der die Leser durchaus berühren kann, weil dahinter Geschichten aufscheinen, die Stoff für richtige Romane und Filme bieten würden. Nur ist das alles tatsächlich passiert. Einige der vielversprechenden jungen Leute, die in der Handlung auftauchen, werden im Ersten Weltkrieg ihr Leben lassen.

Einige werden diesen Krieg überleben – so wie Paul Hindemith, dessen Ruhm erst nach diesem Krieg zu leuchten begann. Manche Musiker werden in jenem irren Sommer 1914 zu glühenden Nationalisten, andere bereuen das Kriegsgeschrei schon im nächsten Moment wieder.

Andere werden heimatlos. Und es legt sich etwas auch über die Welt der Musik, das es bis dahin nicht gab, wenn man vom Geschrei konservativer und nationalistischer Blätter absieht: Aus Musikern, die bis dahin den Wettbewerb mit Kollegen aus anderen Nationen tatsächlich als einen Ansporn zur Suche nach neuen, gültigen Kompositionsformen empfanden, sehen aufeinander auf einmal wie Vertreter verfeindeter Staaten.

Denn genau dazu macht der entfesselte Nationalismus Menschen. Kriegspropaganda sowieso. Auf einmal dürfen die Kompositionen der „Feinde“ nur noch heimlich gespielt werden, so wie Hindemith mit einem Quartett für den Regimentskommandeur Walter Graf von Kielmansegg ein Stück von Debussy einstudiert.

Wenn Krieg alle andere Nachrichten verdrängt

Wobei der Krieg tatsächlich nur die letzten Kapitel überschattet. Auch die Nachrichten aus Bosnien und Serbien tauchen erst spät und eher beiläufig auf. Zuvor beschäftigt der Krieg auf dem Balkan die Gemüter und es taucht eine ähnliche Angst auf, wie wir sie heute auch wieder kennen. Und auch die Nachrichten ähneln sich, die Sturheit der Kriegsführer, an ihren unverschämten Zielen festzuhalten, die Entfesselung der Gewalt von bisher ungekanntem Ausmaß.

Montenegro wird bombardiert, „die Nervosität zwischen Russland und Österreich-Ungarn wächst wieder“. Als hätte man so etwas nicht gerade wieder gelesen. Nur dass heute die Meldungen aus dem Krieg die ausführlichen Premierenbesprechungen nicht mehr von der Seite verdrängen, denn diese ausführlichen Besprechungen gibt es schon lange nicht mehr.

Aber der Vorgang wirkt vertraut: Wie sich das mediale Säbelrasseln über alle anderen Themen und Nachrichten schiebt und sie verdrängt, und zwar so gründlich, dass wir heute die Zeit vor 1914 kaum noch anders betrachten können als eine Zeit des Wettrüstens, der Herstellung eines Pulverfasses, an das dann nur noch ein Trottel die Lunte legen musste.

Wobei ja Clark deutlich gemacht hat, dass es den einen Schuldigen hier nicht gibt, auch wenn sich kleinkarierte Historiker bis heute darüber streiten, ob man Deutschland oder Wilhelm Zwo diesen Schwarzen Peter zuschieben muss und wer eigentlich angefangen hat.

Aber diesen Krieg haben viele Köche gekocht und vorbereitet. Sie haben sich der militärischen Logik untergeordnet, die immer eine Logik der Eskalation ist. Die hohe Kunst des Rückzuges beherrschen – wie Hans Magnus Enzensberger so schön beschrieb – nur ganz wenige, echte politische Talente. Denen dann in der Regel Schwachköpfe und Narren folgen, die in einem Geschichtsbild leben, das von Blut nur so trieft. Unfähig, innezuhalten.

Ein durchkomponierter Musikroman

So gesehen dringt die Welt des militärischen Gedröhns erst ganz sachte und dann immer dissonanter in die Erzählstränge ein, mit denen Hagedorn diesen Roman des musikalischen Europas zur Jahrhundertwende webt. Oder wohl auch komponiert. Denn dass er auch die Gabe hat, die abstraktesten Musikstücke bildhaft nachzuerzählen, beweist er bei einigen der bis heute berühmten Kompositionen, wenn er ihre Entstehung oder auch ihre Erstaufführung beschreibt.

Stets mit Blick auf die handelnden Personen, sodass man erst einmal wieder merkt, dass Geschichte auch dann passiert, wenn sie nicht in den Bulletins ratloser Regierungen steht. Der Schauplatz kann ein Konzertsaal in Paris genauso sein wie eine Nobelgeschäftsstraße in London (in der dann die Ladenscheiben splittern) oder der letzte Mittelmeerurlaub eines Komponisten, der schon ahnt, dass er bald sterben muss.

Sodass Debussys früher Tod auch ein wenig für diese faszinierende Musikwelt steht, die mit dem Kriegsausbruch 1914 rabiat zum Schweigen gebracht wurde. Man wundert sich dann nicht mehr über die Vielzahl der bis heute berühmten Namen, die einem beim Lesen begegnen.

Es ist eine regelrechte tour de force durch knappe zwei Jahrzehnte, in denen eine vielfältige europäische Musik aufblühte, wie es sie in dieser Vielfalt geballt vorher und nachher nicht gab. Und dabei hat Hagedorn noch nicht mal alle Berühmtheiten mit aufgenommen. Und auch nicht alle Schauplätze. Es hätte seinen Roman der modernen Musik völlig gesprengt.

Schon mit dem, was er in acht rasant erzählte Kapitel gepackt hat, entsteht ein musikalisches Panorama dieser Zeit, in der bis zuletzt noch völlig andere Alternativen steckten, als dann tatsächlich zur blutigen Entfaltung kamen.

Um Zweigs Buchtitel „Die Welt von gestern“ abzuwandeln: Im Sommer 1914 ging auch die „Welt von Morgen“ in Flammen auf, zertrampelt von Leuten, die „die Welt von Gestern“ mit Flammenwerfern und Kanonen bewahren wollten und damit den Grundstein für Konflikte legten, die Europa bis heute zerreißen.

Das brodelnde Musikleben der Vorkriegszeit

Während das Europa, das sich in diesen ersten Jahren des 20. Jahrhunderts musikalisch zu entfalten begann, für Jahrzehnte ins Abseits gedrängt wurde. So, wie auch die englische Suffragettenbewegung dem nationalen Taumel weichen musste.

Den Titel „Flammen“ hat Hagedorn übrigens Franz Schrekers Bühnenwerk aus dem Jahr 1902 entliehen. Es hat also wirklich nichts mit dem später ausbrechenden Weltkrieg zu tun, erzählt aber eine Menge über diesen ganz zentralen Ort der avantgardistischen Musik, der Wien um 1900 war.

Und damit auch über jenes Europa „kreativer Eruptionen und Durchbrüche“, das Volker Hagedorn hier dicht und tempogeladen erzählt. Denn immerzu passiert etwas, rennen empörte Dichter Treppen hinauf, sucht ein verzweifelter Komponist in der Nacht nach seiner geflüchteten Frau, muss ein anderer Komponist, obwohl er Bahnfahrten hasst, ins ferne Moskau, um ein paar Kröten zu verdienen, toben ganze Konzertsäle und kommt es zu polizeilich festgehaltenen Schlägereien.

Es rumorte tatsächlich. Und natürlich erkennt man in diesem Toben und Pfeifen in den Konzerthallen und Opernhäusern auch die Widersprüche der Zeit, eine zunehmende Aggressivität und Unerbittlichkeit, die sich auch im Streit um die Musik austoben konnte.

Und trotzdem sind das Schlachten, die nichts mit dem angeordneten Morden auf den Schlachtfeldern zu tun hatten, das dann ein paar teilweise tatsächlich senile alte Herren auslösen sollten. Leute, denen Musik, moderne zumal, herzlichst gleichgültig war. Und ein modernes, kreatives Europa friedlicher Musiker sowieso.

Wie erleben wir diese Musik?

Und dabei hat auch Hagedorn sein Buch lange vor Ausbruch des Putinschen Krieges geschrieben, hat die zwei ruhigen Corona-Jahre nutzen können zum Recherchieren und Schreiben. Und zum Musikanhören. Das Material, das er für diesen großen Roman eines verschwundenen Musikzeitalters benutzt hat, hat er im Anhang noch einmal aufgelistet. Man kann sich also immer dann, wenn er wieder eines der vielen musikalischen Ereignisse erzählt, die damals für Furore sorgten, problemlos die passende Musik dazu auflegen.

Und vielleicht wird es für manchen ein Schlüssel für die Musik sein, wenn er liest, wie Hagedorn die Entstehung der jeweiligen Komposition schildert. Und zwar ohne musikwissenschaftliches Gedöns, sondern so lebendig, wie wohl auch Debussys Tochter Chochou die Musik empfunden haben mag. Auch sie eine von den vielen viel zu früh Gestorbenen.

Ein bisschen Bitterkeit und Trauer bleibt natürlich zurück. Eine Trauer, die dann wieder jener Trauer ähneln darf, die Stefan Zweig in „Die Welt von Gestern“ anklingen lässt.

Volker Hagedorn Flammen, Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, 32 Euro.

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