Nietzsche lesen? Heute noch? Gehört der Bursche denn nicht komplett ins 19. Jahrhundert? In gewisser Weise schon. Doch gelesen wird er bis heute und der Alfred Kröner Verlag gibt seine Werke in neuen Auflagen heraus. Ein Verlag, der einst in Leipzig heimisch war und hier auch mit den großen Nietzsche-Werkausgaben begann.
„Sein verlegerisches Interesse an den damals noch wenig bekannten Werken Friedrich Nietzsches führte schließlich zum Zerwürfnis mit dem Vater; 1907 zog Alfred Kröner mit seinem jungen Verlag nach Leipzig, um dort ungestört die aktuellen Entwicklungen vor allem der Philosophie, Soziologie, Psychologie und Religionskritik in seinem Verlagsprogramm vorzustellen“, kann man auf der Verlagsseite des Alfred Kröner Verlages lesen. Verlagssitz in Leipzig war die Salomonstraße 16, der im 2. Weltkrieg zerstört wurde.
Aber Leipziger Buchgeschichte ist auch die Villa Cichorius in der Karl-Tauchnitz-Straße, die er 1908 kaufte und in der auch sein Schwiegersohn Wilhelm Klemm lebte, der den Verlag übernahm. Hier startete im Juni 1945 der Konvoi mit Leipziger Verlegern, die mit den Amerikanern nach Westdeutschland gingen.
Die eigene Krankheit und die der Gesellschaft
Und dabei war Leipzig auch eine der Lebenstationen Nietzsches. Hier hat er studiert – Klassische Philologie bei Friedrich Ritschl, nachdem er vorher sein Theologiestudium im Bonn kurzerhand abgebrochen hatte. Hier machten sich aber auch die gesundheitlichen Probleme bemerkbar, die ihn Zeit seines Lebens immer stärker plagen sollten.
Und auch in „Die fröhliche Wissenschaft“ sind diese Plagen schon sichtbar, stellt der Leipziger Anglist Elmar Schenkel fest, der das Nachwort zu dieser Neuauflage geschrieben hat. „Sein Werk ist ein ständiger Kommentar zum eigenen Kranksein und Gesunden und überträgt diese Prozesse immer wieder auf den gesamtkulturellen Zustand wie auf historische Krisen“, schreibt Schenkel.
Der auch auf die Begleitumstände zur Entstehung des Buches eingeht, das Nietzsche vorwiegend in Sils Maria und in Italien schrieb, wo er dann im Petersdom in Rom auch noch der 21-jährigen Lou Salomé begegnet und in einer regelrechten, aber platonischen Dreicksbeziehung landet, in der er und Paul Rée am Ende beide einen Heiratsantrag an Lou machen und beide abgewiesen werden.
„Die fröhliche Wissenschaft“ erschien dann im August 1882 im Verlag Schmeitzner in Chemnitz, der später mit antisemitischen Schriften von sich Reden machen sollte. Aber die in 1.000 Exemplaren gedruckte „Fröhliche Wissenschaft“ verkaufte sich nicht. Nur 200 Exemplare wurden bis 1886 abgesetzt. Nietzsches Ruhm sollte erst in den 1890er Jahren beginnen, befördert auch von einem Werk, das Lou Andreas-Salomé dann 1893 veröffentlichte: „Friedrich Nietzsche in seinen Werken“.
Schenkels Nachwort ist so etwas wie eine Tür, durch die man in Nietzsches Welt eintreten kann. Die im Grunde ein großer Steinbruch ist. Oder ein Antiquitätenlager. Je nachdem, mit welchen Augen und welcher Aufmerksamkeit man diese fünf Bücher liest, in denen sich schon der „Zarathustra“ ankündigt, den man ja mit derselben Irritation liest, da man ja weiß, wie sehr Nietzsche gerade im frühen 20. Jahrhundert als Apologet des Faschismus und Kriegsphilosoph missbraucht wurde.
Was er beides nicht war. Aber das genauere Lesen lohnt sich, denn auch wenn Nietzsche wortgewaltig davon erzählt, wie er oder „Wir Furchtlosen“ / „Wir Heimatlosen“ sich aus der herrschenden Moralvorstellung herausnehmen, in einen Zustand der selbstgewählten Freiheit jenseits aller Moral, verraten seine aphoristischen Texte eben genau das, dass auch ein Nietzsche nicht aus seiner Haut, seiner Erziehung und den Prägungen seiner Gesellschaft kommt.
Woher kommt die Moral?
Ãœber sein „Gott ist tot“, das in der „Fröhlichen Wissenschaft“ so markant auftaucht, ist genug geschrieben worden. Aber was wird dann aus dem Kitt, der die menschliche Gesellschaft zusammenhält: der Moral? Ist sie nichts anderes als eine „religiöse Sanktion”, ein „Aberglauben des freien Willens“? (345) „Niemand also hat bisher den Werth jener berühmtesten aller Medizinen, genannt Moral, geprüft: wozu zuallererst gehört, dass man ihn einmal – infrage stellt. Wohlan! Dies eben ist unser Werk“.
Und einen Moment lang könnte man es ihm zutrauen, wenn er das Lied der freien Geister singt, die sich um die Moral der „Heerdenmenschen“ nicht mehr kümmern. Aber selbst dieses Wort ist verräterisch. In ihm steckt das ganze Denken bürgerlicher Hybris, die es nicht aushält, nur ein gewöhnlicher Mensch unter lauter gewöhnlichen Menschen zu sein, die immerfort nach einem Bessersein giert.
Ein Status-Denken, das die bürgerliche Gesellschaft bis heute durchzieht – mitsamt der Verachtung für den Massenmenschen, die Knechte da draußen. Man ist ja was Besseres, hat begriffen, wie man emporkommt. Nur die Gewöhnlichen da unten begreifen es nie. Und auch wenn es Nietzsche eher aus der Perspektive von „wir Künstler“ versucht auszusprechen, kommt es aufs Gleiche hinaus – am Ende nämlich auf Krieg, auch wenn man Nietzsche natürlich nicht für die Kriege des 20. Jahrhunderts verantwortlich machen kann.
„… wir halten es schlechterdings nicht für wünschenswerth, dass das Reich der Gerechtigkeit und Eintracht auf Erden gegründet werde (weil es unter allen Umständen das Reich der tiefsten Vermittelmässigung und Chineserei würde), wir freuen uns an Allen, die gleich uns die Gefahr, den Krieg, das Abenteuer lieben …“ (377)
Wenn alle was Besseres sein wollen …
Natürlich kommt man dahin, wenn man den Ursprung der Moral nicht wirklich erkundet. Nietzsche verspricht es nämlich nur. Und geht dann wortgewaltig drüber weg, schüttet das Kind mit dem Bade aus, könnte man sagen. Und sieht auch den Balken im eigenen Augen nicht.
Denn auch in der „Fröhlichen Wissenschaft“ gibt es Stellen, die nur zu sehr verraten, dass er aus seiner kleinbürgerlichen Haut nicht herauskann. Man nehme nur das geradezu abschätzige: „Das Weib will genommen werden, angenommen werden als Besitz, will aufgehn in den Begriff ‚Besitz‘, ‚besessen‘: folglich will Einen, der nimmt, der sich nicht selbst giebt und weggiebt …“ (363) Und vom selben Schrot sind seine Sätze über das männliche Zeitalter (362) und „Was die Juden betrifft …“ (361)
Schenkel hat natürlich recht, wenn er darauf hinweist, dass jeder etwas bei Nietzsche finden kann, das ihn bestätigt, wenn er nur sucht. Aber letztlich bringt Nietzsche – ungewollt – auf den Punkt, was im 20. Jahrhundert dann zu so schlimmem Katastrophen führen sollte: die Vision eines anderen Menschen, eines besseren, höheren, egal was für einen.
Weil ihm der „gegenwärtige Mensch“ nicht genügt. Er redet zwar von einem „wunderlichen, versucherischen, gefahrenreichen Ideal“ (382), aber wenn man sucht, findet man es nirgendwo bezeichnet, außer dass es sich als toller Mensch, Eremit und Außenseiter wiederfindet, der sich aus der menschlichen Gesellschaft zurückzieht, weil ihn das Wesen der „Heerdenmenschen“ anekelt.
Dieses Angeekeltsein ist übrigens genauso ein Schlüsselwort wie die Verachtung. Da hat Nietzsche zwar emsig Philologie studiert, aber augenscheinlich nicht gelernt, dass Worte verräterisch sind. Dass sich ein Autor nicht verleugnen kann in seinem Text. Und dass sein Denken eben auch verrät, in welchem Milieu er geistig tatsächlich lebt. Und mal ehrlich: Nietzsche ist aus diesem kleinen bürgerlichen Elite-Denken nie herausgekommen. Er hat es umgekrempelt, auf den Kopf gestellt.
Cultur-Völker und Barbaren
Diese Status-Denken –„Wir sind was Besseres“ – steckt in der modernen Wohlstands- und Elite-Gesellschaft genauso wie im Nationalismus – den Nietzsche eigentlich verachtete.
Dass Nietzsche diese Widersprüchlichkeit zumindest spürte, macht deutlich, wenn er über erdrückende Gewohnheiten schreibt, nur um dann festzustellen: „Das Unerträglichste freilich, das eigentlich Fürchterliche, wäre mir ein Leben ganz ohne Gewohnheiten, ein Leben, das fortwährend die Improvisation verlangt: dies wäre meine Verbannung und mein Sibirien.“
Dass ihn aber das Denken in Kategorien des Nationalismus überhaupt nicht fremd war, macht deutlich, wenn er schreibt: „Was man bei der Berührung von Cultur-Völkern und Barbaren zu sehen bekommt: dass regelmässig die niedrigere Cultur von der höheren zuerst deren Laster, Schwächen und Ausschweifungen annimmt …“ (99)
Eine Stelle, die scheinbar komplett späteren Aussagen zu Nationalismus und Rasenhass widerspricht, der „verlogenen Rassen-Selbstbewunderung“. (377)
Unverhofft ist man mittendrin im Denkkosmos des deutschen Bürgertums, das den Kolonialismus mit der Attitüde des Cultur-Volkes akzeptierte und deutete. Schenkel weist im Nachwort darauf hin, dass Nietzsche wohl auch zu der Zeit schon unter starker Schwäche seiner Augen litt, sich also fast nur noch vorlesen lassen musste. Aber was, fragt man sich da, hat er sich vorlesen lassen? Vielleicht die deutschen Zeitungen dieser Zeit mit all ihrem Dünkel und Hochmut?
Welche Moral behaupten die Medien?
Wenn das so ist – wäre man mittendrin in einem Kosmos, in dem ein Nietzsche gar nicht anders kann, als sich immerfort in den Kategorien zu bewegen, die die Zeitungen der Zeit vorgaben. Was heute übrigens nicht anders ist. Die meisten Konsumenten von Nachrichten bekommen gar nicht mehr mit, innerhalb welcher Denk- und Moralschablonen sie die Gegenwart „konsumieren“ – und zwar nicht aus eigener Anschauung.
Das ist nämlich fast unmöglich, wenn man nicht wirklich einmal komplett heraustritt aus der Gesellschaft. Was Nietzsche für möglich hielt. Aber selbst „Die fröhliche Wissenschaft“ zeigt, dass es auch ihm nicht möglich war.
Und in gewisser Weise fällt ihm da das Wort „Wissenschaft“ auf den Fuß. Denn die zweifelnde, suchende, die eigenen Thesen immer wieder infrage stellende moderne Wissenschaft meint er damit nicht. Die sieht er sogar mit gewissem Unbehagen.
„Die Lebenskunst, die Nietzsche verschreibt, ist prekär, seiner eigenen Enthobenheit ebenso verpflichtet wie den kulturellen Rastern, denen er zugleich immer wieder entfliehen möchte“, schreibt Schenkel. Was man auch so formulieren könnte: Es funktioniert nicht.
Es geht einfach nicht auf. Und das Problem steckt tatsächlich auch in Nietzsches unwissenschaftlichem Denken, das ihm ja seine Fachkollegen schon nach seiner ersten Veröffentlichung „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ 1872 ankreideten.
Denn für eine belastbare Analyse braucht man eine überprüfbare These. In diesem Fall tatsächlich zur Moral, um die es ja die ganze Zeit geht: Auf welchen Fundamenten ruht sie? Wie kam sie zustande? Wer setzt ihre Normen? All das, worum sich der stimmgewaltige Philosoph herummogelt.
Und worum sich eine Menge kluger Leute bis heute herummogeln, weil sie die Religion nicht aus dem Kopf bekommen und die – erst recht falsche – These, die Religionsstifter hätten mit ihren Geboten erst die Moral in eine sonst auf Selbstzerfleischung ausgelegte Gesellschaft gebracht.
Wovon auch Nietzsche ausgeht, auch wenn er Gott und Kirche für tot erklärt und den Leuten da draußen vorwirft, sie hätten es noch immer nicht begriffen.
Der Misanthrop, der keiner sein will
Schade eigentlich. Es hätte ein schöner Ansatz werden können, die Grundlage der eigenen Moralvorstellungen zu erkunden. Die nun einmal auch die jener „Heerdenmenschen“ waren (und sind), die Nietzsche so verächtlich bedachte. Und dann behauptete er gar noch: „Das ist kein Misanthrop, der dies Buch geschrieben hat: Der Menschenhass bezahlt sich heute zu theuer.“
Worte sind verräterisch. Dazu „müsste man auf’s Verachten Verzicht leisten: – und wie viel feine Freude, wie viel Geduld, wie viel Gültigkeit selbst verdanken wir gerade unserem Verachten!“, schreibt er. (379)
Und er betrügt sich selbst, denn die Misanthropie beginnt nicht mit Hass, sondern mit Verachtung. Auch mit der Verachtung derer, die so bannig stolz auf ihre „Milde, Geduld, Menschenfreundlichkeit, Höflichkeit“ sind und doch ihre „Nase nicht überreden können, von ihrem Vorurtheile abzustehn, welches sie gegen die Nähe eines Menschen“ haben.
Gut möglich, dass Nietzsches Aphorismen trotzdem ein Steinbruch für viele nachfolgende Philosophen waren und sind. Denn da und dort merkt man, wie er die blinden Stellen seiner Zeit und seiner Gesellschaft problematisiert. Aber er kommt nicht aus seiner Haut. Vielleicht gerade deshalb, weil er glaubt (aber eben nicht belegt), dass man alle geltende Moral hinter sich lassen müsse, um sich quasi in eigener Erfindung neu zu setzen als ein anderer, höherer Mensch.
Der Mensch an sich ist schlecht …
Aber genau das funktioniert nicht. Alle Menschenexperimente in diese Richtung sind grausam und blutig geworden. Auch weil sie – wie Nietzsche – immer wieder von einem falschen Menschenbild ausgingen, einem durchaus misanthropischen. Ohne zu sehen, dass der „Massenmensch“ oft gar nicht anders kann, weil Moral sehr viel mit ganz konkreten materiellen Zuständen zu tun hat, letztlich mit Machtverhältnissen.
Über die sich Nietzsche in „Die fröhliche Wissenschaft“ jedenfalls keine Gedanken macht. Weshalb er auch nicht merkt, dass er die „Verkümmerung“ der Zeit mit den Augen eines Bürgertums betrachtet, das die Machtungleichgewichte gar nicht sieht (und deshalb auch keinen Sinn für eine „gerechte Gesellschaft“ hat).
Über „Macht-Erweiterung“ redet Nietzsche tatsächlich, aber genau an der Stelle, an der er die Selbstlosigkeit geißelt und das Moralische einzig auf Tugenden der Selbstlosigkeit reduziert. (21).
Dass Altruismus tatsächlich ein wesentlicher Faktor in der Menschheitsentwicklung war (und keine Empfehlung „um des Nutzens“ willen), muss er nicht gewusst haben, das wissen auch viele Verfechter der reinen Marktwirtschaft bis heute nicht. Wollen sie auch nicht wissen. Womit wir eigentlich zurückkehren an den Punkt, an dem Moral entsteht, geformt und deformiert wird.
Mit all ihren Widersprüchen, die Nietzsche durchaus sichtbar macht, nur mit der letztlich unerfüllbaren Erwartung, man entkäme diesen Widersprüchen einer Gesellschaft, die sich ihrer eigenen moralischen Grundlagen nicht wirklich bewusst werden will, indem man heraustritt und quasi von draußen eine neue Moral setzt – so wie die alten Propheten in der Wüste.
Menschen nur auf Distanz
Oder die Troubadoure, auf die Schenkel verweist, weil Nietzsche seine „fröhliche Wissenschaft“ aus Herders „Briefen zur Beförderung der Humanität“ (1793) hat. Die „wilde Weisheit“ der Provencalen, die sich „ihrer Triebe nicht schämten“.
Aber genau das tat Nietzsche, wie Schenkel so trocken feststellt. Die Frauen erträgt er eigentlich nur auf Distanz. So wie seine bürgerlichen Zeitgenossen bis heute. Da schimmert die ganze Scheinheiligkeit einer Gesellschaft durch, die ihre Lust am Leben hinter einer Prüderie versteckt, die bei Nietzsche zum dauernden Widerspruch wird.
Und wenn man das Entfesselte schon nicht leben kann, weil die kleine bürgerliche Moral es verbietet, dann schafft man sich halt einen Zertrümmerer, der wortgewaltig alles aus den Fugen hebt und eine völlig neue Moral schafft, die sich um die Regeln der anderen und vielen nicht mehr kümmert. Zumindest auf dem Papier. Im Leben war der Leidgeprüfte immer abhängig von anderen. Das Bild sollte man mitdenken beim Lesen.
Friedrich Nietzsche; Elmar Schenkel Die fröhliche Wissenschaft, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2022, 20 Euro.
Keine Kommentare bisher