Alle kennen das, dieses komische Gefühl im Bauch, das uns warnt, wenn eine Situation sich ganz seltsam anfühlt. Als stimme da was nicht. Als wäre das nicht so, dass wir uns wohlfühlen dabei. Aber wie gehen wir damit um? Wie lernen Kinder, damit umzugehen? Oder muss man das gar nicht lernen? Augenscheinlich doch. Und zwar so früh wie möglich.
Die Macht des Bauchgefühls
Wobei es ja nicht um das Erlernen des Gefühls geht. Das ist einfach da. Es meldet sich ganz automatisch, wenn uns eine Situation nicht geheuer ist. Dann grummelt es im Bauch, mancher spürt es irgendwo zwischen Bauch und Herz. Als würde der Körper selbst warnen: Hier ist es nicht gut. Das gefällt mir nicht.
Und vielleicht müsste es auch dieses Bilderbuch nicht geben, würden wir in unserem Leben nicht viel zu oft Sprüche vom Kaliber „Hab dich nicht so“ zu hören bekommen. All diese kleinen, mittleren und größeren Zumutungen, die eine Gesellschaft bereithält, die in der Vergangenheit nicht wirklich Rücksicht genommen hat auf die Gefühle ihrer Mitglieder. Immer neue Skandale um übergriffige Männer werden öffentlich, jahrzehntelang beschwiegen und versteckt – Zeichen für Machtmissbrauch, der weder vor Pfarrhäusern noch Politikerbüros noch Theaterbühnen Halt gemacht hat.
Missbrauchte Macht
Natürlich reicht das Thema viel weiter, als es Hans-Christian Schmidt und Andreas Német in diesem Bilderbuch gestaltet haben. Es will ja keine ganze Gesellschaft aufklären, obwohl die Aufklärung dringend Not täte. Denn es gibt zwar immer wieder einschlägige Skandale – aber die Machtstrukturen, die dahinterstecken, werden selten bis nie hinterfragt.
Machtstrukturen, die wir schon in der Kindheit kennenlernen. Und die immer zwei Seiten haben. Denn natürlich brauchen wir auch Vertrauen, und zwar genau zu den Menschen, die uns in unserer Kindheit als machtvoll erscheinen: Eltern, Großeltern, Erzieher/-innen und Lehrer/-innen. Und mit den meisten erleben wir ja auch, dass wir uns darauf verlassen können, dass sie uns beschützen und stärken und nicht verraten.
Ein schönes Wort, dieses Verraten. Denn es deutet an, wie autoritäre Gesellschaften funktionieren: Sie verraten das Menschliche in uns. Sie sind systembedingt übergriffig und setzen an die Stelle von Vertrauen die Erpressung. Doppelpunkt: „Wenn du nicht …“
Sie akzeptierten nicht, dass jemand sich verweigert und Grenzen zieht.
Und genau darum geht es in diesem Buch, an dem auch die Fachstelle zur Prävention sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche „Shukura“ der AWO mitgewirkt hat.
Es geht nicht nur um sexuelle Übergriffe
Obwohl es nicht nur um sexualisierte Gewalt geht. Aber sie machen besonders deutlich, wie schnell diese Grenze überschritten wird von Erwachsenen, die glauben, Kinder müssten gehorchen und sich alles gefallen lassen.
Müssen sie nicht. Schon gar nicht, wenn sie sich bedrängt und genötigt fühlen.
Auch nicht, wenn die Situation sich einfach nur unangenehm anfühlt, so, dass da so ein grummeliges Gefühl im Bauch auftaucht, das das Autorenduo Schmidt / Német in viele bunten Varianten gemalt hat. Denn es fühlt sich bei jedem immer ein bisschen anders an – etwa wenn das Licht ausgeht, wenn man ganz allein auf der Treppe ist, oder wenn einen fremde Leute einfach so ansprechen auf der Straße oder dem Spielplatz. Die können ganz freundlich klingen. So richtig überfreundlich, dass man gar nicht weiß, was sie eigentlich wollen, während sie immer mehr fragen und immer aufdringlicher werden.
Was tun, ist die Frage.
Schon gleich beim ersten Beispiel weisen die beiden Buchautoren darauf hin, dass man dann jedes Mal vorblättern darf zur gelben Seite. Da wird nämlich erklärt, was man tun kann. Selbst in Situationen, die die Großen für ganz normal halten – etwa wenn man mit Papa zusammen nicht mehr baden will oder von der Tante nicht jedes Mal abgeknutscht werden möchte.
Manchmal denken große Leute ja tatsächlich, dass sie Kinder einfach wie Spielzeug behandeln können und Kinder sich das gefallen lassen müssen. Müssen sie aber nicht. Ihr Gefühl hat recht. Denn das Gefühl sind sie ja selbst, wenn sie spüren, dass sie etwas überhaupt nicht wollen.
Was kann man tun?
Aber was macht man, wenn man nicht einfach ganz weit weglaufen kann?
Man lernt, deutlich zu sein und „Nein, ich will das nicht!“ zu sagen.
Ja, natürlich. Auch wenn uns das später im Leben wieder abtrainiert wird. Wie viele Schulstunden würden ausfallen, wie viele Unternehmen keine Leute mehr finden, wie viele Ämter verwaist sein, wie viele Familienfeiern verlassen, wenn auch die Großen ihrem Gefühl vertrauen dürften und sagen würden: „Ich will das nicht!“?
Eine nur zu berechtigte Frage. Das Übel ist ja nicht aus der Welt, wenn man erwachsen geworden ist. Aber wir gehen damit anders um, wenn wir das bestärkt haben in uns, was dieses Buch zum Thema macht: das Vertrauen in unser Gefühl für unzumutbare Situationen und die Kraft, in solchen Situationen deutlich „Nein!“ zu sagen, dem anderen klarzumachen, dass man das nicht möchte.
Und sicher funktioniert das bei den meisten Menschen, auch bei Erwachsenen. Denn sie brauchen natürlich auch solche klaren Ansagen, damit sie merken, dass jetzt die Zeit des Knuddelns und Ansagenmachens vorbei ist. So nämlich beginnt ein kleiner Mensch, auch seinen eigenen Willen zu entdecken und Grenzen zu ziehen. Auf die Weise wird man schließlich zur eigenen Persönlichkeit, indem man anderen zeigt, was man mag und was man (nicht mehr) will.
Oder mit den Worten aus dem Buch: „Und wenn der Erwachsene kein Doofi ist, dann versteht er das auch.“
Denn dann weiß der Erwachsene, dass Kinder denselben Respekt und dieselbe Rücksichtnahme verdienen wie die großen Leute. Vorwiegend sogar noch mehr.
Was eben nicht bedeutet, dass es keine Doofis gibt. Die gibt es leider auch.
Was aber macht man dann?
Da gibt es den zweiten wichtigen Rat, der genauso fürs Leben gilt: Man holt sich Hilfe bei denen, denen man vertraut, denen man sagen kann: „Ich habe da ein ganz blödes Gefühl.“
Wem kann man vertrauen?
Das muss nicht immer gleich die Hilfestelle sein, so wie die www.nummergegenkummer.de oder www.kein-kind-alleine-lassen.de. Das können auch die Eltern sein, die Erzieher, die Lehrer, also die Menschen, denen man vertraut und wo das Gefühl im Bauch auch sagt, dass man ihnen dolle vertrauen kann. Denn nicht alles muss man allein durchstehen, kann man oft auch gar nicht. Meist braucht man da Unterstützung, Rückendeckung. Das ist dann oft schon das Allerwichtigste: dass man merkt, dass man mit seinem Gefühl nicht allein gelassen wird und sich jemandem anvertrauen kann.
Denn eigentlich sagt einem das Gefühl ja beides: „Nein!“ zu sagen und sich schnellstens Unterstützung zu holen. Denn wir sind nicht dazu gemacht, im Leben alles im Alleingang durchzustehen. Schon gar nicht die Situationen, in denen es unüberschaubar und ganz blöde wird.
Was auch fürs spätere Leben gilt. Nicht nur für die Kindheit. Aber in der Kindheit können wir lernen, wie wir damit umgehen und uns von niemandem einschüchtern und in die Ecke drängen lassen. Wer das geübt hat, der wird auch selbstbewusster und lässt sich auch später nicht mehr so viel gefallen – nicht von lärmenden Chefs, dreisten Beamten, rücksichtslosen Schülern in der Klasse und was der Leute mehr sind, die glauben, sie könnten den Willen anderer Menschen einfach mit Füßen treten.
Sich nicht unterbuttern lassen
Man merkt als großer Mensch ziemlich schnell, dass das Thema in unserer ganzen Gesellschaft steckt. Und dass vieles in unserer Welt so verflixt falsch läuft, weil so viele nicht gelernt haben, sich gegen Zumutungen und Überrumpelungen zu wehren. Sich echte Freunde zu suchen und dem Gefühl im Bauch zuzuhören, das einem auch als großem Menschen sagt, wenn etwas nicht stimmt, wenn Situationen sich mulmig anfühlen.
Und so ist das Buch auch eines für selbstbewusste Eltern, die wissen, dass auch ihre Knirpse das frühzeitig lernen sollten. Denn gerade dieses komische Gefühl bewahrt uns im Leben davor, einfach untergebuttert zu werden und ständig in Situationen zu landen, die wir so nicht wollen. Denn dass das generationenlang nicht so sein durfte, weil autoritäre Gesellschaften den Menschen brauchen, der sich duckt und der alles hinnimmt, egal, wie scheußlich es ist, das steckt eben auch noch in unserer Gesellschaft und es laufen eine ganze Menge Doofis herum, die „nicht aufhören“, die glauben, sie dürften das und alle müssten sich das gefallen lassen.
Aber die Welt wird leider nicht besser, wenn wir diesen Leuten ihre Grenzen nicht zeigen. Dazu braucht es Mut und gute Freunde. Denn wenn man allein ist, nehmen die einen meist nicht ernst.
Also eine echte Übung fürs Leben und viele verflixte Situationen, in denen man hilflos ist, wenn man nicht weiß, was einem das ungute Gefühl im Bauch eigentlich sagt. Kindheit ist tatsächlich eine Zeit, in der es erstaunlich viel zu lernen gibt. Auch das mutige „Nein!“-Sagen, mit dem eigentlich ein kleiner Mensch anfängt, den großen Menschen zu zeigen, was für eine selbstbewusste Persönlichkeit in ihm steckt.
Hans-Christian Schmidt, Andreas Német: „Das komische Gefühl“, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2022, 15 Euro.
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